Der "Deutsche Sprachatlas" in Marburg. Zielsetzung und Methoden

von Wolfgang Näser, Marburg (1979) *)

Vorbemerkung: im folgenden wurde - damals - versucht, im Sinne einer kurzen persönlichen Einführung und als Mustertext (Lehrer-Version) für sprachliche Übungen Ziele und Methoden des Instituts exemplarisch zu definieren. Diesen Text stelle ich aus verschiedenen Gründen ins Web: zum einen aus technikgeschichtlichem Aspekt (s. auch meine Tätigkeiten im medialen Bereich), andererseits im Hinblick auf die Forschungsgeschichte und das - heute mehr denn je nötige - Engagement zur Dokumentation von Sprachepochen und -varietäten als Bausteine der Kultur- und Sozialgeschichte, wo sich m.E. dieses Institut größte Verdienste erworben hat und, wie ich hoffe, noch lange weiterhin erwerben wird. W.N., 12.12.96 / -> Nachtrag v. 9.4.97.

Der "Sprachatlas" sammelt und erforscht im wesentlichen die Mundarten (Dialekte) der gesprochenen deutschen Gegenwartssprache. Seine Wissenschaftler bedienen sich hierbei einer Kombination von Verfahren, die in über hundertjähriger Tradition dialektologischer Forschung herangereift sind und ständig weiterentwickelt werden.

Zunächst einmal müssen die Sprecher ("Gewährsleute") der verschiedenen Mundarten befragt werden. In den Anfängen der deutschen Dialektologie geschah dies auf dem Postwege per Fragebogen und Rückantwort ("indirekte Methode" des DEUTSCHEN SPRACHATLAS und DEUTSCHEN WORTATLAS, s.u.); heute jedoch geht man mehr und mehr dazu über, die Sprecher daheim aufzusuchen und sie unmittelbar, gezielt (spezifische Fragen, Questionnaire), aber auch ungezwungen möglichst spontan, der Befrager spricht Dialekt) zu wissenschaftlich verwertbaren Sprachäußerungen zu bringen.

Der frühere Dialektologe registrierte mit geschultem Ohr feinste Lautvarianten und übertrug sie lediglich in seinen Notizblock, während die abgefragten  Wörter und Sätze heute zusätzlich auf Tonband oder Kompaktkassette aufgezeichnet und dadurch mögliche Irrtümer des "Explorators" umgangen werden. Das Institut besitzt hierzu Tonaufzeichnungsgeräte hoher und höchster Qualität (Studio-Norm, besser als DIN 45.500) für stationären wie für portablen Einsatz,  dazu Wiedergabegeräte (Abhörplätze"), die einen entsprechend "rauhen" Betrieb aushalten können. Zudem verfügt die PHONETISCHE ABTEILUNG neben den professionellen und semiprofessionellen "Bandmaschinen" über ein Vollstereo-Tonregiepult mit Vorverstärkern und Entzerrern in Einschubtechnik, trägheitslosen Spitzenwertanzeigen und aktiven Regielautsprechern, verbunden mit einer hallfreien Sprecherkabine, die mit hochwertigen Kondensatormikrofonen ausgerüstet ist. Zu experimentellen Zwecken (Auswirkungen des Hall-Effekts, Sprachverfremdung, Identifizierung verfremdeter Sprache, Zeitdehnung und -raffung des Sprachflusses bei gleichbleibender Tonhöhe) gibt es hier spezielle "Laufzeitgeräte" (Telefunken T 101, Tempophon), und zur phonetischen Analyse können weitere Spezialgeräte herangezogen werden: der Sonagraph veranschaulicht die jedem Menschen eigentümlichen Stimm-Obertonstrukturen ("Stimmabdrücke"), Intensity  Meter, Trans Pitch Meter und Mehrkanal-Pegelschreiber (Oszilloskript) zeichnen Tonhöhenverläufe und Lautstärkeschwankungen der Sprach-Intonation auf; der Segmentator filtert aus dem Sprach-Fluß einzelne Silben oder gar Laute heraus; verschiedene Niederfrequenzfilter (Hoch-, Tief-, Bandpaß) helfen zusätzlich bei der detaillierten, exakten Sprachanalyse.

Das Forschungsinstitut besitzt ein in über 50 Jahren gewachsenes Lautarchiv  mit einer Vielzahl wertvollster Schallplatten, Tonbänder und Kassetten mit Mundartproben aus allen deutschen Sprachgebieten. Eine umfangreiche Kartei enthält die wichtigsten Sozialdaten fast aller aufgezeichneter Dialektsprecher.

Die elektroakustisch-phonetische Aufzeichnung, Dokumentation und Analyse bedeuten nur einen Weg neuzeitlicher Dialektforschung. Älter und traditionsreicher ist das Verfahren, die in verschiedenen Orten gewonnenen DialektDaten in Landkarten einzuzeichnen und hierbei die, wie sich zeigte, äußerst komplizierte klein- und großräumige Varianz quasi auf einen Blick zu verdeutlichen. Diese dialektgeographische Methode, nach zaghaften Anfängen hierzulande erstmals von Georg WENKER 1878 anhand umfangreicher Forschungen vorgestellt, läßt sich gleichermaßen für lautliche (phonetisch-phonologische) wie auch für lexikalische (den Wortschatz betreffende) Verschiedenheiten anwenden, so z.B. läßt sich aufzeigen, welche Benennungen desselben Begriffs (z.B. 'Ameise') verschiedenenorts auftauchen: so ist man zu Wortkarten gelangt und hat den Terminus Landschaftssyonymik geprägt.

Die beiden umfangreichsten und international bekanntesten Werke der Marburger dialektgeographischen Schule sind der DEUTSCHE SPRACHATLAS (Teildruck 1927-1956) und der DEUTSCHE WORTATLAS (20 Bände zu rund 200 populären Begriffen, 2 Bde. Register), wofür jeweils rund 40.000 Orte befragt wurden. Des weiteren entstanden regionale Sprachatlanten (Siebenbürgisch-deutscher Sprachatlas, Luxemburgischer SA, Schlesischer SA, Tirolischer SA, Linguistic Atlas of Texas German u.a.); die umfangreiche Sammlung "Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen" (Hg.: L.E. SCHMITT, 5 Bde.) sowie zahlreiche Spezialuntersuchungen (Dialekt-Ortsgrammatiken, Analysen von Mundartkarten, theoretische Grundlegungen usw.). Seit 1911 (1.Lieferung 1927) entsteht hier ein Hessen-Nassauisches Volkswörterbuch mit dem Dialektwortschatz und der mundartlichen Idiomatik Nord- und Mittelhessens.

Die Dialektologie ist keineswegs nur etwa eine Wissenschaft für wenige Liebhaber und Traditionalisten: als Wissenschaft vom Menschen wendet sie sich nun verstärkt den sozial geprägten (schichtenspezifischen) Sprachvarianten (Soziolekten) zu und greift andererseits kühn über die Grenzen des muttersprachlichen Raumes hinaus, um im Rahmen eines jetzt entstehenden EUROPÄISCHEN SPRACHATLAS übernationale Sprachzusammenhänge und damit auch Kulturströmungen zu erfassen, zu dokumentieren, wissenschaftlich zu klassifizieren und zu interpretieren. Die Marburger Dialektologie leistet hierbei bedeutende Beiträge, nicht zuletzt auch deshalb, weil hier in der Abteilung für Linguistische Datenverarbeitung (Informatik) besondere Verfahren zur automatischen Analyse und Kartierung gesprochener Dialekte entwickelt und erprobt werden. Parallel dazu wird mit Hilfe derselben modernsten Verfahren (Computeranalyse, automatische Kartenzeichnung) an einem KLEINEN DEUTSCHEN SPRACHATLAS gearbeitet, der in wissenschaftlich revolutionärer Weise, didaktisch ansprechend und übersichtlich die Vielfalt deutscher Dialekte aufzeigen soll.

Bis heute hat das inzwischen über 100jährige Institut eine Vielzahl dialektologischer und linguistischer Arbeiten publiziert oder gefördert, es hat mit seinen Methoden und Arbeitsmitteln der internationalen Dialektologie wichtige Impulse gegeben und ist noch heute ein Ort internationaler wissenschaftlicher Forschung und Begegnung.

Das Institut besitzt eine spezielle FORSCHUNGSBIBLIOTHEK mit rund 30.000 Bänden zur deutschen und internationalen Dialektologie sowie ihren Hilfs- und Nachbardisziplinen (z.B. Volkskunde, Kulturgeschichte, Rhetorik, Statistik, Logik, Computerlinguistik usw.) und gibt zwei wissenschaftliche Zeitschriften heraus, die "Germanistische Linguistik" (GL, seit 1969) und die traditionsreiche "Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik" (ZDL, früher  "Teuthonista", "Zeitschrift für Mundartforschung"). In den Publikationsreihen "Deutsche Dialektgeographie" (Hg.: L.E. SCHMITT) und "Deutsche Dialektographie" (Hg.: Reiner HILDEBRANDT) sowie in den "Beiheften" zur ZDL erscheinen wichtige Untersuchungen zur Dialektologie und Soziolinguistik.

Das Forschungsinstitut beschäftigt sich auch mit historischen Mundarten:  auf der Basis von Original-Urkunden aus dem 14. und 15. Jahrhundert soll nach entsprechenden Vorstudien ein HISTORISCHER DEUTSCHER SPRACHATLAS, REGION HESSEN (Arbeitstitel) entstehen; die hierbei herangezogenen Schriftdialekte der Kanzleien liefern wichtige sprachgeschichtliche Erkenntnisse und ermöglichen fruchtbare Vergleiche mit den heute gesprochenen Mundarten. Neben aller empirischer Forschung werden auch neue Wege gesucht, die teilweise sehr komplizierten Dialektstrukturen mit einer möglichst exakt formulierten, adäquaten Theorie zu untermauern. Auch auf diesem Gebiet befindet sich das Institut in stetem Gedankenaustausch mit auswärtigen, auch ausländischen Wissenschaftlern. Nachdem bereits 1965 in Marburg der 2. Internationale Dialektologenkongreß mit beachtlichen Ergebnissen stattgefunden hatte, wurde (im Rahmen der 100-Jahr-Feier des Instituts) im Herbst 1977 hier ein internationales Symposion "Zur Theorie des Dialekts" abgehalten; eine ähnliche Veranstaltung behandelte kurz zuvor die Thematik "Dialekt und Schule": auch hier bemühte man sich sehr intensiv um eine "Standortbestimmung", daneben auch und vor allem um das Erarbeiten praktikabler Formen eines effektiven Einbezugs der Mundart in den Sprachunterricht.

Nach einem jahrzehntelangen Versuch, in den Schulen und anderswo Geschichte und Tradition zurückzudrängen und u.a. beim Dialektsprecher - nicht zuletzt von seiten der Linguistik ("Defizit-Hypothese") - Minderwertigkeitskomplexe zu erzeugen, sind Dialekte nun wieder "in". Der Dialektsprecher erlangt ein neues Selbstbewußtsein, er weiß, daß ihm in seiner Mundart ein sehr differenziertes Instrumentarium gefühlsmäßiger Aussagen zur Verfügung steht, und er artikuliert mit seinem Idiom nun nicht mehr allein Heimatverbundenheit und lokales Brauchtum, sondern mehr und mehr auch sozialkritische Aussagen Protestsongs, kritische Lieder und Theaterstücke usw.): Dialekt wird verstärkt zur Sprache einer "Solidargemeinschaft". Den neuen Trend haben auch  die Massenmedien erkannt (z.B.: niederdeutsche Nachrichten von Radio Bremen, mundartliche Dialoge im "Landfunk" des HR, Sendungen wie "Land und Leute" im WDR 2, der "Komödienstadel" im BR, das Ohnsorg- und Millowitsch-Theater, dialektale Büttenreden in Karnevals-Übertragungen usw.).

Zwar schwinden im Zuge des Massentourismus, der Landflucht und des Pendelverkehrs immer mehr kleinsträumige Dialekte, doch entstehen im gleichen Maße dialektal gefärbte regionale Umgangssprachen mit auch verkehrs- und berufsbezogenem Wortschatz.

Die Sprache ist d a s entscheidende Kulturgut des Menschen. Die Dialekte als spezielle Sprachformen werden in ihrem steten Wandel sicher noch manche  interessante wissenschaftliche Fragestellung bieten, nicht zuletzt für den DEUTSCHEN SPRACHATLAS in seinem Bemühen, zu sammeln, zu analysieren und zu dokumentieren.

Persönlicher Nachtrag zur Forschungslage

Was die Sprache und ihre Varianten (Varietäten) betrifft, so handelt es sich um ein in nahezu dreizehn Jahrhunderten (!) gewachsenes, kontinuierlich verbessertes und verfeinertes Kulturgut, um einen im Grunde unschätzbar hohen und wertvollen Besitz. In diesem Gefüge haben die Dialekte als systemhaft gleichrangige Varianten der oft nur zufällig zur Norm gewordenen Standardsprache es nicht verdient, hinsichtlich ihrer Erforschung und Dokumentation als "minderwertig" oder "nicht mehr erwünscht" angesehen zu werden, haben sie doch oft genug im Laufe der Sprachgeschichte die jeweilige Standardsprache durch regionale Wörter und Wendungen bereichert und ergänzt und bilden sie noch heute z.B. in der Arbeitswelt ein Kommunikationsmedium, das auch in sozialgeschichtlicher Hinsicht höchst relevant ist und bleibt.

Zudem hat im Laufe der vergangenen Jahrzehnte die moderne Dialektologie mit innovativen Forschungsstrategien immer wieder auch andere Disziplinen befruchtet und hätte gerade jetzt mittels moderner Techniken und Technologien ungeahnte Möglichkeiten effizienter und gesellschaftsrelevanter Forschung, Lehre und Dokumentation: so könnte - in Zusammenarbeit mit Firmen der Audiotechnik, des Computerbaus und der Softwareentwicklung, endlich ein Verfahren entwickelt werden zur automatischen Echtzeit-Transkription dialektaler Tonaufzeichnungen, wovon auch die forensische Phonetik profitieren würde, also wenn es z.B. darum ginge, die Telefonstimmen von Erpressern zu identifizieren. Eine an modernen technischen Forschungsmethoden orientierte Dialektologie wäre Ansprechpartner auch in plotter- und postscriptorientierter Kartographie oder OCR-basierter Handschriftenanalyse; mühelos ließen sich noch weiter(gehende) Ansätze aufzeigen.

=> offizielle Homepage des Instituts

(c) Wolfgang Näser '79 / 12.96; letzter Stand 4.4.2000