Vom Wenkerbogen zum Cyberspace?

Gedanken und Daten zur Dialektologie

Wolfgang Näser, Marburg, 1997 ff.

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"Es mag ja sein, daß ich die Bedeutung des Unternehmens überschätze, daß armselige Volksdialecte keinen Anspruch erheben können, eine solche Riesenarbeit zu rechtfertigen; dennoch meine ich, aus der Fülle an neuen, folgenschweren und für die Erkenntniß des leisen sprachlichen Fortbildungsganges aller menschlichen Rede überaus wichtigen Ergebnissen heraus, es nicht als ein leeres Traumgebilde hinstellen zu können, daß eine auf wirklich vollständiger und ins Detail genauer Kenntniß unserer heutigen Mundarten sich aufbauende deutsche, oder auch germanische, vergleichende Dialectforschung, unterstützt durch die fortgesetzte sorgfältige Beobachtung an der lebenden Mundart selbst, für das Verständniß und die Erklärung alles sprachlichen Werdens und Vergehens, für die umfassende einheitliche Behandlung und Beleuchtung aller der vielen sprachlichen Einzelfactoren, die wir in Lauten, in Wortaccent, in Satzaccent, in Tonik und Dynamik bisher meist getrennt und ohne verstandenen Zusammenhang zu behandeln gewohnt sind, weit fruchtbarer und weit sicherer fortschreitend sein dürfte, als die mit meist todten und uns sehr abliegenden Sprachen operirende vergleichende Sprachforschung." (Georg WENKER in dem Konzept eines Briefes an MÜLLENHOFF [1882?], in: MARTIN, Bernhard: Georg Wenkers Kampf um seinen Sprachatlas [1875-1889]; Von Wenker zu Wrede, 2. Aufl., Marburg 1943 [DDG XXI], S. 19 f.; Hervorhebungen von mir)

Georg Wenker, am 25. Februar 1852 in Düsseldorf geboren, promovierte dort 1876 mit seiner Untersuchung zur "Verschiebung des Stammsilbenauslautes im Germanischen" und begründete im März desselben Jahres die deutsche Dialektgeographie mit seinem Vorhaben, in der sog. Rheinprovinz Daten zur "Aussprache heutiger Mundarten" zu erheben. Nach einem "Probelauf" mit zunächst 42 speziellen Sätzen versandte er im Juni 1877 einen neuen, 2-seitigen Fragebogen mit nunmehr 38, wesentlich verbesserten und stimmigeren Sätzen; für seinen "Sprach-Atlas der Rheinprovinz nördlich der Mosel sowie des Kreises Siegen" (1877 f.) sollten die Lehrer sie gemeinsam mit ihren Schülern in die jeweilige Orts-Mundart "übersetzen". Mit dem später begonnenen "Deutschen Sprachatlas" wurde Wenker (Foto rechts: Büste in der Sprachatlas-Bibliothek) zur Leitfigur der deutschen Sprachgeographie, die im nationalen und internationalen Rahmen "schulebildend" wurde. Sprach-Atlanten, die immer einen "Synchronschnitt" dokumentieren, haben auch hohen sprachhistorischen Wert.

Die von 1880/81 an (mit 38.418 verschickten Formularen!) abgefragten, nun optimierten 40 Wenker-Sätze, Basis des "Deutschen Sprachatlas", wurden auch später immer wieder für dialektale Erhebungen verwendet. In bezug auf Lautung und Morphologie verkörpern sie in nahezu idealer Weise alle für das Deutsche wichtigen Merkmale, die eine dialektale Variation erwarten lassen. Die Wenkersätze dienten als Erhebungs-Grundlage für Tonaufnahmen , die ich im ehemaligen Landkreis Waldeck durchführte, um dessen heutige Mundartverhältnisse zu untersuchen; ein Vortrag dazu wurde im Oktober 1985 im Volksbildungsring Arolsen gehalten.

Die in phonetischen und lexikalischen Atlanten sowie Wörterbüchern dokumentierten deutschen Mundarten werden auch heute noch in allen Teilen der Welt gesprochen; die DSA-Forschungsbibliothek enthält Belege zu Australien, dem Baltikum, Benelux, Brasilien, Dänemark, Großbritannien, Japan, Kanada, Polen, Rumänien, Tschechien, Südafrika, Ungarn, den USA u.a. - gewissermaßen auch ein Reflex der vielen internationalen Gäste des Instituts. Tausende von Ton-Proben wurden archiviert in der Phonetischen Abteilung des Dt. Sprachatlas (Wilhelm-Roepke-Str. 6 A; heute Abteilung des Inst. für Germanist. Sprachwiss., Ltr. Prof. H. Künzel). Die in den 70er Jahren vorübergehend als Sprachbarriere empfundenen Mundarten (-> Dialekt und Schule) erlebten gleichzeitig eine Renaissance, vor allem in den Medien. Die von einigen Soziolinguisten vertretene These vom sprachlichen Defizit bei Mundartsprechern wich der weitaus logischeren Differenz-Hypothese: die Mundarten sind nicht weniger reich als die Standardsprache, sie drücken sich nur anders aus und sind in einigen Bereichen sogar überlegen. Die Mundart ist ein ebensolches Sprach-System wie die (zufällig zur Norm gewordene) Standardsprache, weshalb es müßig wäre, über Dialekte die Nase zu rümpfen. Schon Fritz REUTER und Klaus GROTH haben bewiesen, welch hochrangige Ausdrucksmittel der Mundart-Literatur zur Verfügung stehen; die Mundarten, für Hobby-Dichter vorwiegend Ausdruck ländlicher Idylle, fungieren inzwischen mehr und mehr als Sprache der Solidarität, vor allem im Arbeitsleben.

Einen Meilenstein setzte auch hier die Erfindung der Tonaufnahme, die seit 1899 zunächst als rein mechanisches Verfahren genutzt wurde. Erst die Technik der Signalverstärkung durch Elektronenröhren (später Transistoren und ICs) schuf die Voraussetzung für wirklich naturgetreue Dokumentation gesprochener Mundart und machte sie zum langzeitig meß- und objektivierbaren Gegenstand. Man bediente sich zuerst der Tonfolien-"Selbstaufnahme", ab 1940/41 (nach Erfindung der Hochfrequenz-Vormagnetisierung durch Braunmühl und Weber) kam das Magnettonbandgerät hinzu; mit dem Fortschritt der Tonträger entstanden 1963 der Cassettenrecorder und 1987 der winzige portable DAT-Recorder: er ermöglicht eine bisher unerreichte Studio-Qualität, die 40 Jahre zuvor nicht einmal per Aufnahmewagen, mit großen Bandmaschinen und Toningenieur zu realisieren war1); die 1996 eingeführte CD-Selbstaufnahme mit autonomen Audio-Recordern bringt Fortschritte in Haltbarkeit und Handling. Am Beginn des 3. Jahrtausends bedient sich der Dialektologe auch des hochentwickelten Notebooks und zeichnet direkt auf dessen Festplatte auf, um nach entsprechender Bearbeitung die jeweiligen Takes sofort auf CD-R zu sichern1a), neuerdings dienen auch sog. Compact-Flash-Karten (CF 1 und 2, SD) als Speicher-Medien; die mit Flash-Recordern erzeugten *.wav, *.mp3 oder *.wma lassen sich direkt auf PCs kopieren, dort bearbeiten und im gewünschten Format abspeichern bzw. auf CD brennen. Die Mikrofon-Entwicklung war etwas schneller: schon 1928 schuf Georg Neumann das Kondensator-Mikrofon, das schon in den Spielfilmen der 30er Jahre für einen ungewöhnlich guten, klaren Ton sorgte und das - allerdings politisch hochbelastete - "Lautdenkmal reichsdeutscher Mundarten" (1937) zu einem Meilenstein der elektroakust. Sprachdokumentation werden ließ. Die schon 1943 von der damaligen Reichsrundfunkgesellschaft verwirklichte stereophone Tonbandaufnahme dient neuerdings auch der Dialektologie; wie meine in Waldeck 1985 mit einfachem Gerät entstandene Aufnahme zeigt, ermöglicht die kopfbezogene Mikrofonierung eine ortungsgetreue, wahrnehmungs- und unterscheidungsfördernde Dokumentation verschiedener Sprecher.

Größter Daten-Bestand ist das im Dt. Spracharchiv (Mannheim) gelagerte sog. Zwirner-Korpus mit 5857 Tonaufnahmen und ca. 4000 Transkripten (zur Ergänzung: Korpus SW = Schwarzwald, 130 Aufn.; zur Modernisierung auch folgende Notiz). Lt. einer Aufstellung (S. 52-60) in dem 1977 anläßlich des 100jährigen Sprachatlas-Jubiläums erstellten Bericht "Die Schallaufnahme deutscher Dialekte" umfaßte das Tonarchiv der Phonetischen Abteilung damals im wesentlichen: 261 Schwarzplatten der Lautabteilung (1922-1925), 300 Tonaufnahmen (Platten und Bandkopien) des Lautdenkmals (1936-1937), 1104 Tonbandaufnahmen der Ostdeutschen Dialektgeographie (ODG, 1955-1957), 187 h 18' an Feldaufnahmen und 21 h 12' an Studioaufnahmen zu deutschen Dialekten, 989 Kopien der Tonbandaufnahme(n) der Vertriebenenmundarten (TAVM, E. Zwirner u.a., 1962-1965). Die Sammlung des Forschungsbereichs Dialektologie und Volkskunde am Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde der Univ. Tübingen umfaßt 684 Std. an Aufnahmen; nahezu 500 Cassetten wurden (phonetisch bzw. schriftsprachlich) transkribiert.

Ein anderer moderner Forschungszweig befaßt sich mit computergestützter Sprachgeographie. Die auf Datenträger gespeicherten Sprachdaten werden manuell oder bereits computativ sortiert und ausgewertet und die Ergebnisse dann ortspunktweise in Form von Sprach-Karten geplottet oder (in anderen Formaten) als komplette Karten ausgedruckt. Der Kleine deutsche Sprachatlas, der Atlas Linguarum Europae (ALE) u.a. verdanken ihre Entstehung solchen Verfahren. Entwickelt und erprobt werden gegenwärtig hypertext-orientierte Methoden dialektaler Dokumentation und Präsentation per CD-ROM2): am jeweiligen Ortspunkt wird per Mausklick die entsprechende Tonprobe abgerufen3). Mit dem Fortschritt der Echtzeitverarbeitung (real time processing) dank immer schnellerer Computer4) wird es bald möglich sein, auch Dialekt-Hörproben automatisch zu erheben (-> Uni München/Phonetik, Projekt Speechdat 4/98) oder gar zu transkribieren (in Lautschrift zu übertragen), ein mangels Personal und aufgrund der Problematik mehr als dringliches Desiderat.

Dem digitalen Fortschritt der thematischen Sprachkartographie verpflichtet ist auch der vom Deutschen Sprachatlas als wichtigste germanistische Innovation des beginnenden 21. Jahrhunderts unter J. E. SCHMIDT4a) et al. in einem sog. ISSG-Labor (Foto W. Näser 4/2k3) erarbeitete Digitale Wenker-Atlas (DiWA), der u.a. gestattet, die handgezeichneten und -kolorierten, in kompromißloser

Qualität eingelesenen Vorlagen anhand der sog. Layer-Technologie mit modernen, vergleichbaren Kartenwerken zu verknüpfen. Die zweite DIWA-Phase gilt der Digitalisierung der im phonetischen DSA-Archiv vorhandenen (über 3.100) Dialekt-Tonbänder und bietet aus diesen Aufnahmen jeweils pro Ortspunkt die 40 Wenkersätze in guter Qualität (48 kbps / 44,1 kHz *.wma) als "Audio-on-demand". Wenkers Vision wird Realität, sein Atlas zum vielfältig nutz- und interpretierbaren, weltweit sicht- und hörbaren Universum deutscher Sprachvariation und -dynamik und gleichzeitig zur Plattform weitergehender Untersuchung und Vermittlung - oder, wie ich am 10.3.2006 an der Tohoku-Universität Sendai in meinem Vortrag ausführte: "Initiated by Jürgen Erich Schmidt in 2000 and processed in a special geographic information laboratory, the Digital Wenker Atlas now comprises one Terabyte of data and is regarded as the most significant and voluminous contemporary project of linguistic geography. (...) Each location being correctly positioned, the DiWA is a high-precision work of geodatics, thus enabling other thematical maps to be overlayed. With Wenker's data the DiWA documents a synchronic stage of linguistic development which may be contrasted to recent data and thus show diachronic trends and contrasts."

Mit seinen Materialien, Modulen und Zukunftsperspektiven ist und bleibt der Digitale Wenkeratlas das derzeit wohl größte Forschungsprojekt der internationalen Germanistik. Einen bedeutenden - vielleicht den bedeutendsten - Anteil an Konzeption und Durchführung hatte der geniale Systementwickler Jost Nickel, der am 11. Januar 2009 mit nur 40 Jahren verstarb und bis zuletzt seine unermüdliche Schaffenskraft und ingenieurmäßige Kreativität einbrachte.

KRITIK UND MAHNUNG
Methoden und Zielsetzungen müssen sich messen lassen im Lichte objektivierender, bisweilen sehr provokativer Kritik. Als es kurzzeitig Mode war, jede Art von Wissenschaft auf ihre gesellschaftliche Relevanz hin abzuklopfen und somit auch Methoden und Zielsetzungen zu hinterfragen, schrieb der um die (durch Partikularinteressen bedrohte) Zukunft institutioneller Forschung und Lehre besorgte Rolf ENDRES in seiner 1971 (Frankfurt/M. u.a.) erschienenen "Einführung in die mittelhochdeutsche Literatur": "Ganze Scharen von Germanisten schwärmen aus, um z. B. festzustellen, in welchen Landstrichen Deutschlands man für »Huhn« die Bezeichnung »Henne« oder »Hauhn« oder »Putte« oder »Hinkel« gebraucht. Die Mitarbeiter beim »Deutschen Sprachatlas« und »Deutschen Wortatlas« verwenden die beste Zeit ihres Lebens darauf, um mit großer Akribie nicht etwa Dialekte, sondern Dialektgrenzen festzustellen. Für die Initiatoren solcher Unternehmen, die große Summen Geld verschlingen, ist es ein gewichtiges Problem, ob man in einem bestimmten schlesischen Dorf »Kopweh« oder »Kopschmarzen« oder »Kopwiehtun« nicht etwa sagt, sondern gesagt hat."

Mit ihren Sprach- und Wortatlanten und aufwendigen Wörterbuchunternehmen verliere sich, so hieß es damals, die Mundartforschung zusehends in Materialhuberei; es sei an der Zeit, soziolinguistische und andere zeitgemäße Betrachtungsweisen anzustreben. Eine (abstrahierende) Linguistisierung, bemängelten andere, entfremde vom (konkreten) Gegenstand; traditionelle Grammatik und Sprachbetrachtung waren ohnehin zur Mangelware geworden. Ausdünnung durch revolutionäres Umdenken? So wie die allzu praxisferne, system- und selbstverliebte Linguistik es verabsäumte, (kraft der zu fordernden Kompetenz) einer ignoranzbasierten Rechtschreibreform rechtzeitig den gebührenden Riegel vorzuschieben, sorgte mit a(na)tomisierender Erbsenzählerei, nebulösen Theoriedebatten, pseudonaturwissenschaftlicher Camouflage und der Erhöhung einer handwerklich geprägten Hilfswissenschaft zum allein seligmachenden Endzweck mancherorts eine allmählich zur Materialwissenschaft und zum Linguistik-Derivat mutierende Dialektologie dafür, daß ihr eigentlicher Forschungsgegenstand, die Sprache5) im Fluß, die Sprache als Akt, die Sprache in ihrer sinnlichen Urgewalt und in all ihren kunstvollen Ausformungen und Varianten, und deren philologische Betrachtung und Vermittlung immer mehr in den Hintergrund gerieten und damit auch schulischerseits das Interesse und die Motivation, die in entsprechenden universitären Veranstaltungen jetzt schmerzlich vermißt werden.

In einer Zeit der Oberflächlichkeit und der schnellen, aber kurzlebigen Erfolge werden Glanz und Aufwand sekundär im stetigen Bemühen um zeitlose Werte. Der mit einem achtunggebietenden Arsenal von Computern und sonstigem Profi-Equipment "bewaffnete" Dialektologe muß sich der (oder die) Frage stellen, ob er mit technischen Segnungen, die Gefahr laufen, zum Selbstzweck zu werden, und aufwendigen Präsentationen einen adäquaten Erkenntnis-Fortschritt erzielt gegenüber der bescheidenen, mit feinfühligem Ohr und Bleistift operierenden, von hohem philologischem Ethos (und damit der Liebe zur Sprache) geprägten Mundartforschung des 19. Jahrhunderts und einer Didaktik, die es vermag, ohne apparativen Aufwand, doch mit Einfühlungsvermögen und in liebevoller Zuwendung allein im Gespräch oder Frontalunterricht die "Essentials" der Mundarten und die Prinzipien ihrer Erforschung zu vermitteln.

Die Sprache und ihre Dialekte sind unser wichtigstes Kulturgut. Sprache und Musik überleben, auch wenn alles Übrige zerfällt. Sprache dokumentiert, tradiert und gestaltet. Ihr Kolorit schöpft sie nicht selten aus den Mundarten, legitimen und gleichberechtigten Verwandten einer Art, die zur Norm zu wurde. Unabhängig von der herrschenden Zeitströmung muß sich die Dialektologie am und für den Menschen ausrichten: er, der Endpunkt aller Evolution, steht im Zentrum und damit seine Sprachäußerung als schöpferischer Akt und Kulturdokument. Das verlangt wachen Objektbezug, achtungsvolle Zuwendung und feinfühlige Interpretation. Eine Zentrierung auf rein paradigmatische und theoretische Kategorien und Ansätze ist ebenso abzulehnen wie die auf eine nur messende, segmentierende, "forensische"5a) Dialektologie. Der Dialekt als Variante des Kunstwerks Sprache muß Gegenstand auch einer ganzheitlichen5b) und praxisorientierten Lehre sein: nur so können junge Menschen für unsere Wissenschaft gewonnen werden; lernen sie dagegen nur einen winzigen Teilaspekt kennen und werden sie ohne ergänzende Unterweisung in hochspezialisierte Forschungsprojekte eingebunden, flammt dieses Interesse möglicherweise erst gar nicht auf oder wird es im Keim erstickt.

Pädagogen, Hobbyforscher und gegenstandsbewußte Sprecher6) teilen ihr Interesse mit der Wissenschaft; alle sollten an einem Strang ziehen und sich ergänzen. Ohne Sprecher keine Wissenschaft, ohne Pädagogen keine Vermittlung und Motivation, ohne früh angelegtes Interesse keine akademische Vertiefung. Die modern-linguistische Dialektologie, in der sich Theorien und Methoden zu verselbständigen drohen, darf sich nicht abkoppeln von ihrem Gegenstand und muß deshalb stets ein offenes Ohr haben für die Beiträge, Fragen und Sorgen der Mundartsprecher7), einer aussterbenden Spezies, sofern - im Rahmen der in Marburg besonders berücksichtigten Sprachdynamik - nicht "selbstregelnde" Mechanismen für neue regionale Ausgleichssprachen sorgen, die Elemente aus lokalen Dialekten zu neuen, konsequent vereinfachten Strukturen und Strategien verweben und neuen Stoff liefern für wissenschaftliche Analysen und Typisierungen, die sich auch an der traditionellen Mundartforschung orientieren müssen.


1) Als weitere, bahnbrechende Innovation erschien im Frühjahr 1993 der portable Minidisc-Recorder, dessen 2,5"-Scheiben trotz 5-facher Datenreduktion bis 80 Min. HiFi-konforme Stereo-Tonaufnahme (und apparative Feldforschung) gestatten. Schnelle CPUs, Hochleistungskomponenten und Sound-Editoren wie Audition Pro 3.0 u.a. machen inzwischen den PC zum vollwertigen Aufnahmestudio und (wie hier) und bieten eine Palette der Bearbeitung und Analyse, die in der 'mechanischen' Ära nur teuersten Tonstudios und aufwendigsten Meßgeräten vorbehalten war. Das gilt besonders für die von Linguisten heute fast ausschließlich verwendeten Kleinrechner (Notebooks, Netbooks) mit CPUs von >1 GHz und Festplatten bis 500 GB (oder mehr!); bestückt mit entsprechender Software, bieten sie - auch auf externen Festplatten bis zu 2 Terabytes - dem Feldforscher und Didaktiker optimales Equipment zur Aufnahme, Analyse, Bearbeitung, Präsentation und Archivsicherung. - DAT, Minidisc, Harddisk-Aufnahme sowie kompakte Flashcard-Recorder bieten Alternativen, jedoch nicht zwingend eine Klangverbesserung bei Tonaufnahmen, so daß auch heute (2010) noch semiprofessionelle Analog-Recorder wie der TCD-5M in der Feldforschung "ihren Mann stehen" können.
1a) Vgl. meine Ausführungen zum Gericom-"Webboy" und dem externen USB-Interface. Wie ein Vergleich mit 1990 erstellten analogen Aufnahmen (Eigenbau-Mikrofon, TCD5M, Dolby B, Limiter) zeigte, bedeutet das Harddisk-Recording nur einen technologischen Fortschritt. Bei entsprechender Zusammenschaltung des Equipments lassen sich Analog-Aufnahmen zur Weiterverarbeitung sehr einfach auf einen PC überspielen. Auch ältere, z.T. stark verrauschte Aufnahmen können dabei enorm gewinnen, wie die von mir bearbeiteten älteren Samples in der Real-Audio-Tabelle 1 beweisen. Als akustische Datenbank fungierte mein Notebook in den auf intuitiv-hörendem, an musikalischen Prinzipien orientiertem Zugang basierenden "Übungen zu den deutschen Dialekten" im SS 2001; alle Hörproben befinden sich als MP3- oder WMA-Dateien auf dem Notebook und können von dort sekundenschnell per Mausklick abgerufen werden. Auch die Hörproben zum "Lautdenkmal" wurden sämtlich per Notebook editiert und bearbeitet.
2) Vgl. meine Ausführungen zur CD-Aufnahme
3) Zur Anwendung 'sprechender Karten' vgl. das bahnbrechende Projekt ALD-I  und meine Ausführungen zu Real Audio
4) 4/98 wurden bereits Pentium-II-Rechner mit 400 MHz Taktfrequenz ausgeliefert, 5/99 existieren P-III-Rechner mit 500, 12/99 mit 733 MHz; im Jahr 2010 haben wir stationäre Rechner, Notebooks und Netbooks mit bis 64 k Bus-Breite, aufwendiger 1GB-Grafik, schnellen Interfaces und Festplatten bis 1 TB. Zusammen mit leistungsfähigen Sound-Karten oder Interfaces (s.o.) und entsprechenden Programmen werden Formen der (Echtzeit-)Spracherkennung und -Sprachsteuerung möglich. Dazu: LOGOX WebSpeech Applications; Projekte des IKP Uni Bonn, u.a. HADIFIX; VERBMOBIL (Träger: DLR); automat. Transkription von Tonhöhen (ILKD, Uni/TH Karlsruhe).
4a) Wie ich anläßlich meiner Verabschiedung am 22.7.2008 betonte, war es sehr eindrucksvoll, in den vergangenen achteinhalb Jahren mitzuerleben, wie die am Beginn des Jahrtausends von J. E. Schmidt visionär skizzierten Pläne ausnahmslos und in vollem Umfang realisiert wurden - in einer Team-Arbeit, die üblicherweise eher in naturwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen anzutreffen ist.
5) In diesem Sinne ist es fraglich, ob eine als eigenständig philologisch angesehene Mundartforschung unter die sog. Variationslinguistik subsumiert werden sollte.
5a) Als Beispiel diene nebenstehende Gerbera-Blüte (die ich Anfang Mai 2003 fotografierte). Als Ganzes ist sie ein Kunstwerk; nun könnte ich allerdings auf den Gedanken kommen, aus dem Fruchtstand, dem Stempel, einzelne Elemente herauszuziehen, um sie mikroskopisch zu untersuchen. Das mag wissenschaftlich ebenso verdienstvoll sein wie wenn ich Sprache in kleinste Partikel segmentierte, um messend Differenzierungen festzustellen oder etwa in einer Sinfonie Mozarts und einer von Robert Schumann jeweils von der zeitlichen Taktlänge (oder anderen Mikro-Parametern) her "epochalitätsmessend" festzustellen versuchte, inwieweit die eine klassisch und die andere romantisch sei, ohne das Sensorium, die "Antenne" für das Unmeßbare zu haben, das in der Gesamtheit einem solchen Werk den epochen"typischen" Charakter verleiht.
5b) Siehe Foto oben. Vollständig das Zitat: "Aber auch die Mundart der rohesten Nation ist ein zu edles Werk der Natur, um, in so zufällige Stücke zerschlagen, der Betrachtung fragmentarisch dargestellt zu werden. Sie ist ein organisches Wesen, und man muss sie, als solches, behandeln." In: Humboldt, W. v.: Ueber das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung (1820). In: Trabant, J. (Hrsg.): Über die Sprache. Tübingen / Basel, 1994, 18 (Hervorhebungen von mir, WN); siehe auch: Vollmann, Ralf  [Uni Graz]: Wilhelm von Humboldt und die baskische Grammatik (1999)
6) Ebenso unkonventionell wie innovativ befassen sich 'außer-institutionelle' Ansätze wie z.B. Newsgroups mit den - noch lebenden - Mundarten.
7) Die vielen lokalen Mundartdichter liefern mit mehr oder weniger gut gelungenen Beiträgen in lokalen Tageszeitungen den Beweis, daß man gerade als Nicht-Forscher ein ungetrübtes und waches Bewußtsein für die Eigenheiten - und abgrenzenden Verschiedenheiten - der eigenen Sprache haben kann. Die Mundart-Pflege (bis hin zum Laientheater) in dörflichen Schulen und Heimatvereinen sollte ungedingt gefördert und als Quelle für die Wissenschaft erhalten werden.

Bildnachweis: 1. Wenker 1878: Foto-Scan W. Näser; 2. Wenker-Büste in der Sprachatlas-Bibliothek: W. Näser 10/2k2; 3. Fragebogen: Teil aus abfotografiertem FAZ-Poster: W. Näser 4/2k3; 4. ISSG-Labor: W. Näser 4/2k3: 5. Humboldt-Text: abfotografiert von einer Pinnwand in der Abt. Sprache in Hessen, Dt. Sprachatlas, W. Näser 5/2k3 5. Gerbera-Blüte: W. Näser 9.5.2003

Wird ergänzt. (c) Wolfgang Näser, Stand 17.12.2010