Dr. Wolfgang Näser: UE "Wörter und Wendungen in der aktuellen deutschen Mediensprache" (für Ausländer)
SS 2003 * Mi 16-18, HG 110

Text zum 28.1.2004: [Tageszeitung, Kommentar:] Elite braucht Freiheit. Von Hans-Olaf Henkel. In: Süddeutsche Zeitung, 26.1.2k4
Didaktische Aufbereitung von W. Näser

"Die SPD will Innovationen". Mit diesem Statement eröffnet der ehemalige BDI-Präsident Hans Olaf Henkel (jetzt Präsident der renommierten Leibniz-Gemeinschaft) seinen provokativen Artikel. Den Anfang mache sie, die SPD, bei sich selbst und lande damit einen innovativen Überraschungs-Coup: sie entdecke die Elite für sich. Das Wundersame sei, daß die Genossen in einer Forschungs- und Bildungselite neuerdings einen Schritt aus dem deutschen Jammertal sähen. Nun sollten Elite-Leuchttürme an deutschen Universitäten entstehen. Das sei ein gutes und wichtiges Vorhaben, meint der Autor am Schluß seines ersten Absatzes.

Die neuen Einsichten der SPD seien erfreulich. Doch klaffe, so Henkel weiter, zwischen Worten und Taten eine große Lücke. In den ersten beiden Regierungsjahren habe die rot-grüne Koalition sich noch bemüht, der angekündigten Priorität für Bildung und Forschung Taten folgen zu lassen; inzwischen kürze jedoch der Bund die Mittel für den Hochschulbau, streiche die Projektförderung zusammen und schließe außeruniversitäre Antragsteller von ihr aus. Man müsse sich klar machen, folgert Henkel, was das bedeute: Plötzlich entscheide die Adresse des Antragstellers über die Vergabe von Forschungsgeldern, nicht [etwa] die Qualität des Antrages. Wolle man etwa so Innovationen fördern?

Allerdings, räumt Henkel sodann ein, dürften die Länder nicht vorwurfsvoll mit dem Finger auf den Bund zeigen. Berlins Universitäten zum Beispiel steckten seit Jahren in einer grausamen finanziellen Zwangsjacke und selbst Bayern spare bei den Hochschulen. Das sei keine richtige Strategie für das 21. Jahrhundert.

Kein Weg führe vorbei an einer dauerhaften Steigerung der Forschungsausgaben; doch Geld sei nicht alles. Wir brauchten auch ein paar Strukturreformen in der Forschung. Die neue Debatte über Elite-Universitäten biete wieder einmal die Chance, lange Versäumtes anzupacken. Wo könne man starten?

Trotz aller Widrigkeiten, fährt Henkel fort, bildeten unsere Hochschulen Spitzenkräfte aus, die in allen Laboren der Welt gern gesehen seien und leider zu oft dort blieben. Es sei aber kein Geheimnis, daß es gute und weniger gute Universitäten, Fakultäten und Institute gebe. Jeder Personalchef wisse, wie ein in München erworbenes Biochemie-Diplom zu werten sei im Vergleich zu einem Abschluß der Universität Hintertupfingen. Könne man da messen, ob eine Einrichtung auf dem richtigen Weg sei? Man könne dies, so Henkel. In der Leibniz-Gemeinschaft, einer der vier großen außeruniversitären Wissenschaftsorganisationen in Deutschland, unterzögen sich alle Mitgliedsinstitute mindestens alle sieben Jahre einer externen wissenschaftlichen Begutachtung (Evaluation).

Gute Universitäten, so Henkel, gebe es meist dort, wo gute außeruniversitäre Forschungseinrichtungen angesiedelt seien. Die Universität Harvard profitiere von der Nähe zum Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics (und umgekehrt), [die University of California,] Berkeley vom Lawrence Livermore National Laboratory, die Universität Chicago vom Fermilab [=Fermi National Accelerator Laboratory]. In jüngster Zeit gebe es bei uns wieder einmal Stimmen, die eine Verlagerung der Forschung von den außeruniversitären Instituten an die Universitäten verlangten. Dies wäre falsch, denn die interdisziplinäre, oftmals anwendungsorientierte Forschung der außeruniversitären Institute wäre in solchen Hochschulen, die streng nach Fakultäten gegliedert seien, so etwas wie ein sperriger Fremdkörper. Welcher Universität etwa sollte man das Forschungszentrum Jülich der Helmholtz-Gemeinschaft mit seinen 4.200 Mitarbeitern angliedern?

Die künftige deutsche Elite-Uni brauche demzufolge ein gutes außeruniversitäres Umfeld. Was aber noch? Vor allem Freiheit. Mit politischen Dekreten ließen sich, so Henkel, keine Spitzenleistungen verordnen. Im Gegenteil könne eine Elite-Universität eigentlich nur dann entstehen, wenn sie möglichst weit weg von jeder politischen Einflußnahme agieren könne.

Wirtschaftsminister Wolfgang Clement habe sich jetzt für die Idee erwärmt [= mit der Idee angefreundet], die Berliner Humboldt-Universität aus Bundesmitteln zur Elitehochschule zu machen. Wenn sich Bundes- und Landesregierung als verläßlicher Geldgeber erwiesen und sich politischer Einflußnahme enthielten, könnte, so Henkel, daraus sogar etwas werden. Leider liege es jedoch in der Wesensart der deutschen Politik, das, was sie bezahlen solle, auch entscheidend formen und steuern zu wollen.

Daher sei selbstkritische Zurücknahme anzuraten; das bestätige auch der Blick in die USA. Dort entstünden Forschung und Lehre auf höchstem Niveau auf der Basis von Freiheit und Wettbewerb. Die Lehre für unser Land sei also ganz einfach: die Bundesländer müßten ihre Hochschulen in die Freiheit entlassen. Und dabei dürfe sich der Bund nicht quer legen. Zur Freiheit gehöre, Studiengebühren zu erheben oder nicht, Spitzenleuten Spitzengehälter bezahlen zu dürfen, leidenschaftliche Forscher vom Lehrbetrieb zu entlasten und leidenschaftlichen Hochschullehrern mehr Vorlesungen zu gestatten. Zur Freiheit gehöre, daß die Finanzierung langfristig gesichert sei. Wenn die Erträge der Hochschulen aus Studiengebühren und anderen Quellen nicht im Landeshaushalt verschwänden, so bestehe Hoffnung, daß sich in einigen Jahren auch hierzulande so etwas wie Elite-Universitäten "herausmendeln". Dann, so Henkel, gebe es keinen Grund mehr zu der Sorge, die Elitenausbildung gehe zu Lasten der Breitenbildung.

Ganz entscheidend sei, daß man den Universitäten die Freiheit gebe, ihre Studenten selbst auszuwählen, und daß sich die Studenten wiederum auch die Uni auswählen könnten, die sie für die beste halten. Wenn Auswahlgespräche und Eingangstests zu absolvieren seien, dann werde sich jeder Studienanfänger genau überlegen, welches Studium das richtige sei. Dies werde auch die Abbrecher- und Umsteigerquote senken und damit die dringend notwendige Verkürzung der Studienzeiten bewirken.

Die gleiche Wirkung, so Henkel, erzielten Studiengebühren. Es gebe sozial gerechte Studiengebührenmodelle, die niemanden von Studium abschreckten. Bei uns in Deutschland studiere lediglich ein privilegierter Teil der Bevölkerung; die Allgemeinheit müsse dafür aufkommen. Studiengebühren sorgten hier für Gerechtigkeit, die Abwesenheit solcher Gebühren sei unsozial.

Zur Freiheit gehöre auch, das sog. Hochschulrahmengesetz abzuschaffen. Das enge Korsett, in das der Bund damit alle Universitäten einzwänge, dämme nur den Wettbewerb ein. Freiheit und Wettbewerb bedeuteten, daß die Universitäten die besten Wissenschaftler mit einem adäquaten Gehalt locken und auch halten könnten. Der Bundesangestelltentarifvertrag und das Beamtenbesoldungsrecht seien dazu ungeeignet. Seit Jahren forderten Universitäten und Wissenschaftsorganisationen einen eigenen Wissenschaftstarifvertrag. Dieser sei längst überfällig.

Das Echo in der Hochschullandschaft auf die jüngsten SPD-Äußerungen sei geteilt, resümiert Henkel. Viele Universitäten fühlten sich an der Nase herumgeführt, denn die Politik habe sie zunächst jahrelang zum Sparen gezwungen und wundere sich nun offen oder gar vorwurfsvoll, daß Spitzenleistungen ausgeblieben seien. Die Bildung von Eliteneinrichtungen stehe übrigens einer universitären Förderung auf breiter Front keineswegs entgegen. "Gleiche Chancen für alle" laute ein uraltes sozialdemokratisches Motto. Dagegen könne niemand etwas haben, denn das sei schließlich das Beste für unser Land.

Aufgaben:

  1. Erstellen Sie eine Liste der für diesen Text konstitutiven Wörter und Wendungen.
  2. Fassen Sie den Text thesenartig zusammen.
  3. Formulieren Sie eine kritische Stellungnahme zu den ebenso wichtigen wie lesenswerten Äußerungen des Autors.

Der in die indirekte Rede gesetzte Text orientiert sich größtenteils am Original.
Zusätze, orthographische Transliteration, Links: (c) W. Näser, Marburg 4.2.2k4 * nur zu didaktischen Zwecken *