Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser, Marburg, SS 2002 ff.

Gustl Mayer (*1936) und das Saxophon: Worte zum Jazz                                               => Ergänzungen

Von Insidern wurde er als "Legende", "Frankfurter Coleman Hawkins" und "Urgestein der deutschen Jazz-Szene" bezeichnet. Günter "Gustl" Mayer kommt am 8.5.1936 in Frankfurt/Main zur Welt; durch die Zeitumstände "amerikanophil" geworden, macht er als Jugendlicher Bekanntschaft mit (von US-GIs dargebotenen) Formen des Jazz, tritt später als Klarinettist (z.B. in der ersten dt. TV-Jazzsendung 1955) und wenig später als Saxophonist auf, entscheidet sich mit Rücksicht auf seine junge Familie für einen bürgerlichen Beruf, schreibt jedoch nebenher für eine Jazz-Kolumne. Nach einer kaufmännischen Lehre und Tätigkeiten im polizeilichen Verwaltungsdienst wechselt der ausgebildete Musiker (Konservatorium) zum Hessischen Rundfunk, arbeitet  8 Jahre in dessen Archiv, dann als Redakteur in der "Werbung im Rundfunk GmbH" und ist 1986-1994 Musikredakteur und später Programm-Produzent im Fernsehen, entwickelte und produzierte u.a. 58 Folgen der von Jan Hofer (s. auch hier) moderierten "Swing-Raritäten". Mayer produziert unter anderem die Ute-Lemper-Show, Retrospektiven zu Count Basie und Duke Ellington, die Swing Party und 13 Folgen des Country Express. Daneben spielt er weiter, "hottet" in vielen Ländern und mit allen wichtigen Jazz-Protagonisten, spielt Platten ein, ist Gast internationaler Festivals und Mitglied der Jury von "Jugend jazzt". Auch mit seiner "Jazz Stampede" wird er bekannt, konzertiert auch mit Sänger/innen wie der zum Jazz "konvertierten" Gitte Haenning und dem auch durch seine Mundart-Songs (Wo geihst du hen, Leeder vun mien Fresenhof) bekannten Sänger und Posaunisten Knut Kiesewetter. Den überaus agilen Pensionär, der es schafft, mit kraftvollem Spiel das Mundstück abzusprengen, wählt das Festival in Ascona im Jahre 2001 zum besten Saxophonisten, auch 2002 moderiert und spielt er hier. Zu Paul Kuhns 75. Geburtstag spielte er 2003 in dessen Band "Paul Kuhn and the Best" auch mit Greetje Kauffeld (voc) und gestaltete von 1999 bis 2010 das Jazz Festival auf See mit. Innerhalb von "Paul Kuhn and the Best" spielte er auch mit dem Deutschen Filmorchester Babelsberg zusammen, so vom März 2013 an bei der Tournee zum 85. Geburtstag Paul Kuhns.

Mein Foto links vom 29.6.2004 zeigt Gustl Mayer mit seinem alten Selmer-Sax beim Auftritt im Marburger Jazz-Club Cavete (als Stargast der Dirk Raufeisen "Jazz Fingers")

I.  Texte von GUSTL MAYER

1. So sehe ich das

Es muß im Sommer 1951 gewesen sein, als ich zum ersten mal mit Jazz in Berührung kam. Ich war sofort fasziniert und habe innerhalb einer Stunde meinen zukünftigen Beruf gefunden, damals war ich 15 Jahre alt.

Diese abstrakte Welt, mit ihren Tönen, Phrasen, Motiven, Kürzeln und Rezitaten, war für mich zunächst nicht zu entwirren. Aber nach einiger Zeit wurde diese Sprache für mich immer klarer und schöner. Bald stellte ich fest, nachdem ich auch andere Musiker, außer Louis Armstrong gehört hatte, daß es hier mehrere Sprachen und viele Dialekte gibt. Diese kann man zwar in die verschiedenen Stilarten einordnen, aber wie sich bald herausstellte, blieb und bleibt nicht jeder Musiker innerhalb der Grenzen seiner bevorzugten Stilart, wenn es die so überhaupt gibt.

In welcher Stilart man nun die Kunst der Improvisation ausüben möchte, hängt von mehreren Faktoren ab. Sicher ist die erste Schallplatte, der erste Interpret ausschlaggebend, die einen faszinieren. Da wird schon oft die Wahl des Instrumentes getroffen, so man bis dahin noch keines spielen kann. Seltsamerweise interessiert man sich nicht unbedingt für die aktuelle Stilart, die zu meiner Zeit der Cool Jazz (oder auch West Coast Jazz) war. Je weiter man in die Geheimnisse der harmonischen Improvisation vordringt, um so mehr versucht man sich in moderneren Stilarten. Der traditionelle Jazz erstreckt sich über die Zeit von ca. 1890 bis 1940, und das teilt man in New Orleans-Stil (bzw. Chicago-Stil) bis ca. 1930 und Swing*) bis ca. 1945 auf. Der moderne Jazz beginnt ab 1940 mit dem Bebop, die ersten Aufnahmen entstanden aber erst 1945. Anfang der 50er Jahre entstand das "weiße" Gegenstück, der Cool Jazz, danach der Hard Bop und ab Anfang der 60er Jahre der Free Jazz.

Nun habe ich, und das lag auch an meinem jeweiligen Umfeld, in allen Stilarten herumexperimentiert. Den Schlußstrich meiner Bemühungen, ein moderner Jazzmusiker zu werden, setzte eine Formation, mit der ich Free Jazz spielte. Das dauerte so etwa 3 bis 4 Jahre, bis ich plötzlich merkte, daß ich gegen meine Natur ankämpfte; mir lag das nicht, ohne durchgehenden, swingenden Rhythmus und ohne harmonisches Konzept zu spielen. Mir gefiel es nicht, daß Schlagzeug und Baß keine Begleitinstrumente mehr waren, sondern gleichberechtigt mit den Bläsern improvisierten. Da fielen mir auf der Heimfahrt nach einem solchen Konzert die Konzerte von "Jazz at the Philharmonic" ein, die ab 1953 bestimmt dreimal in Frankfurt gastierten. Dort waren die großen Meister wie Lester Young, Coleman Hawkins, Roy Eldridge, Charlie Shavers, Ray Brown, Buddy Rich und der ganz junge Oscar Peterson dabei. Im Prinzip war das eigentlich meine Musik. Mir fiel auch ein Satz von Pininfarina ein, dem italienischen Auto-Designer, der da sagte:

Meine Erfahrung ist es immer gewesen, daß Kunst nur entsteht, wenn man Gesetzmäßigkeiten beachten muß. Vollkommene Freiheit hilft der Schöpferkraft nicht im geringsten. Die Zwänge spornen uns an, schöpferisch zu werden. Die Harmonie der Formen ist das Geheimnis der Schönheit.

Diesen Satz hatte ich mir irgendwann einmal aufgeschrieben, weil ich ihn gut und richtig fand, er sprach mir aus der Seele.

Am nächsten Tag rief ich meine Kollegen an und machte Schluß mit meinen Ausflügen in die moderne Musik. Seitdem fühlte ich mich wohl, hatte wieder Spaß am Üben und konnte mich, so sagen wenigstens meine Kollegen, erheblich verbessern. Meinen jetzigen Stil könnte man mit "Mainstream Jazz" oder "Moderner Swing" bezeichnen.
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*) hierzu: Carlo Bohländer: Die Anatomie des swing. Das Phänomen, das den Rhythmus der Neuen Welt prägt in Theorie und Praxis. Ffm: Schmitt 1986; das am 17. Juni 2k6 erhaltene Bild oben rechts zeigt Gustl Mayer (Klarinette) in einem Wald bei Frankfurt Pfingsten 1955 mit dem gleichaltrigen Baritonsaxophonisten Klaus Doldinger

2. Der gute Ton

Zu meiner Zeit mußte man Klarinette studieren, um später einmal Saxophon spielen zu können. Das Saxophon wurde auf den Musikhochschulen nicht gelehrt, es gab in der Klassik kaum Literatur für dieses junge Instrument. Aber das war nicht ganz so schlimm, denn man kann sich sehr leicht von Klarinette auf Saxophon umstellen. Umgekehrt ist das allerdings sehr schwierig, da die Klarinette ein technisch schwierigeres Instrument ist als das Saxophon. Man soll sich aber vor den Schlaumeiern hüten, die behaupten, Saxophon sei ein leicht zu spielendes Instrument; so etwas gibt es nicht. Bei der Klarinette bekommt man den Ton gewissermaßen mitgeliefert, beim Saxophon ist das schon sehr viel schwieriger. Ich kenne aus meiner langen Erfahrung Kollegen, die ständig neue Mundstücke kaufen, um den Ton erzeugen zu können, der ihnen vorschwebt. Das ist eine vergebliche Mühe und Geldausgabe. Zugegeben, es gibt Mundstücke, die scharf im Ton sind, mit denen man sehr hoch kommt, dafür sind sie in der tieferen Lage schwach, und umgekehrt. Bei der Tonbildung ist übrigens der S-Bogen nicht zu vergessen, in ihm wird der Ton wirklich gebildet. Der S-Bogen ist das Verbindungsstück zwischen dem Horn und dem Mundstück. Es gibt Instrumentenbauer, die nur S-Bögen bauen.

Viele kümmern sich überhaupt nicht um ihren Ton, Hauptsache er stimmt (Kammerton A = 440 Hertz) . Aber der Ton macht hier wirklich die Musik. Wenn man die großen Tenoristen nimmt wie Ben Webster, Coleman Hawkins, Lester Young, Stan Getz, Zoot Sims, Sonny Rollins, Hank Mobley, Benny Golson und John Coltrane, so hat jeder von ihnen einen eigenen Ton und ist sofort zu erkennen, wenn man nur ein paar Töne hört. Diese Töne entstehen nicht durch das Mundstück, das wäre zu einfach: man kauft sich das gleiche Mundstück wie es John Coltrane spielte und hat von Stund an den gleichen Ton wie er. Das geht leider nicht. Der Ton entsteht im Kopf eines jeden Saxophonisten, da kann er sich Mundstücke kaufen, so viele er will, er wird nach einer kurzen Einspielungsphase immer wieder "seinen" Ton haben. Man sollte sich ein gutes Mundstück kaufen und etwas Geduld aufbringen um "seinen" Ton langsam zu entwickeln. Das dauert manchmal sehr lange. Ich möchte hier niemanden entmutigen, vielleicht war ich ein schwieriger Fall. Aber: üben und abwarten lohnt sich immer.

3. Jazz für Verständigung und Frieden

Durch die Musik kam ich schon sehr früh mit amerikanischen Soldaten zusammen, natürlich auch mit afroamerikanischen. Die Verständigung lief zunächst nur über die Musik, obwohl wir alle Englisch konnten. Stand man auf der Bühne zusammen und hatte man Gemeinsamkeiten im Musizieren, fand man erst so zueinander. Dabei spielte das "Wie" eine große Rolle. Spielte man "swingfrei" (das ist im Jazz ein negativ besetztes Wort), so konnte es passieren, daß die amerikanischen Musiker das Feld räumten und die Stümper allein auf dem Podium verblieben. Ich muß dabei noch erklären, daß mit Swing (großgeschrieben) der Jazz-Stil gemeint ist und mit swing (kleingeschrieben) das rhythmische Phänomen beschrieben wird, durch das die Musik erst zu Jazz wird. Ich wäre Gott dankbar, wenn ich in drei Sätzen sagen könnte, was "swing" wirklich bedeutet. Dabei merke ich sofort, ob ein Musiker swingt oder nicht, kann aber einem Musiker, der nicht swingt, auch nicht sagen, was er tun sollte. Mein Lehrer Carlo Bohländer hat über dieses Phänomen ein Buch geschrieben [...].

Bild links: Gustls Klarinette, von Edith Mayer in Öl gemalt. Oder: wie er mir in einer Mail vom 9.11.2020 mitteilt, "die Klarinette, mit der ich meine ersten Erfolge hatte. Beispielsweise bester Klarinettist auf dem Jazz-Festival in Düsseldorf 1954. Auch bespielte ich dieses wunderbare Instrument beim SWF am 5.12.1955, in der ersten Deutschen Jazz-Fewrnsehsendung mit den Two Beat Stompers und dem Quartett von Chet Baker. Das ist eine "Mollenhauer".

Es gab Abende, oder besser Nächte, im Frankfurter Jazzkeller, in denen Musiker aus 6 bis 7 Nationen auf dem Podium standen. Anfang der 50er Jahre war Frankfurt der Wohnsitz aller Musiker, die in amerikanischen Clubs spielten. Das waren Clubs der amerikanischen Armee und der Air Force, die in den Landesteilen Hessen, Württemberg (nicht Baden, das war französisch) und Bayern zu Hause waren. Da trafen sich Deutsche, Franzosen, Amerikaner, Holländer, Jugoslawen, Österreicher, Ungarn, Belgier, Engländer und Schweizer, Juden, Christen und Moslems (wir hatten auch türkische Musiker unter uns) und spielten einträchtig aus dem "Great American Songbook" oder gerade aktuelle Titel von den Jazz Messengers. Die gemeinsame Sprache war unsere Musik und nebenbei verständigten wir uns in Englisch. Mein erster Bandleader war ein ungarischer Jude, der wiederum mit einer holländischen Jüdin (sie war Sängerin in unserer Band) verheiratet war. Wir verstanden uns alle sehr gut.Wir hatten alle dieselben Ansichten über Musik und das Leben und lachten über dieselben Witze (ein nicht zu vernachlässigendes Musiker-Hobby: Witze erzählen!)

Bei meinen Touren durch amerikanische Clubs kamen wir auch für etwa ein Jahr nach Frankreich. Wir wohnten in der Nähe von Nancy bei der Witwe Couchot, deren Mann im Krieg gefallen war; dennoch hegte sie gegen uns keinen Groll - im Gegenteil liebte sie uns und vertraute uns ihr Haus für 14 Tage an, als sie zu ihrem Sohn nach Metz fuhr.O.K., dafür mußte ich jeden Tag die beiden Hasen im Keller füttern. Das war 1958 in Saint-Mihiel, einer Kleinstadt in Lothringen, deren Einwohner in beiden Weltkriegen viel mitgemacht hatten. Sie haben uns nie etwas spüren lassen.Wenn wir am frühen Abend von unseren Rundgängen zurückkamen und Madame Couchot erzählen wollten, wo wir so überall gewesen waren, winkte sie immer ab und sagte:"Weiß ich schon, haben mir die Leute schon alles erzählt." Das war kein argwöhnisches Beobachten, sondern man hatte ganz einfach Interesse an den jungen Deutschen gefunden.Wir wurden zu Weihnachten in eine Familie eingeladen, die auch durch den Krieg ohne Vater war.

Natürlich lag es auch an uns, das heißt an meiner Frau Edith und mir, wie wir uns den Menschen gegenüber verhalten haben.Wir haben uns verhalten, wie Jazzmusiker im allgemeinen: weltoffen, tolerant, zurückhaltend und trinkfest (bei so manchen Einladungen wurde die noch junge Leber ganz schön strapaziert).

4. Mein Horn

Musiker in den 40er Jahren nannten das Sax auch "axe", also Axt, da sie es im übertragenen Sinne als Waffe benutzten, um bei den nächtlichen Jam-Sessions ihre Kollegen niederzuspielen.

Ich hatte, als mein erstes Tenor, ein deutsches Fabrikat. Ich wurde deshalb oft gehänselt, denn man spielte entweder ein amerikanisches King-Tenor, oder eines von Selmer-France, das waren die Instrumente. Ich hatte zu dieser Zeit aber kein Geld für diese teuren Instrumente. Später stellte ich fest, aber erst viel später, daß es eigentlich völlig egal ist, welchen Namen das Instrument trägt, wenn es stimmt und in allen Lagen gut anspricht, kann es von mir aus auch von einem Herrn Müller gebaut sein.

Das Schicksal, nein es war ein Vertrag, wollte es, daß ich unter anderem auf der US-Air-Base von Dreux spielte und wohnte. Dreux ist ca. 50 km von Paris entfernt. Logisch, daß wir an unseren freien Tagen immer nach Paris fuhren, das war im Mai 1958. Die Firma Selmer hatte in Paris, auf dem Montmartre, eine Werkstatt und einen kleinen Verkaufsladen. Das war mein erstes Ziel; meine Frau und zwei der damaligen Kollegen begleiteten mich. Etwas Geld hatte ich gespart, und nun versuchte ich ein echtes Selmer zu kaufen. In Frankreich waren die Hörner sowieso billiger als bei uns. Es bediente uns Herr Selmer jr. persönlich. Ich hatte ca.500. Mark in Francs bei mir. Stirnrunzelnd ging er ins Lager, was heißen sollte, mal sehen ob wir für diesen Betrag überhaupt etwas finden. Er kam strahlend wieder, hielt mir ein schönes Instrument entgegen und sagte: "Für 500,- Mark können Sie es haben". Ich hatte mein Mundstück dabei und habe nun erst mal reingeblasen. Es war wie Weihnachten, das Instrument ging richtig gut los, sowohl in den hohen als auch in den unteren Lagen. Das Geschäft war innerhalb weniger Minuten gemacht, man schenkte mir noch einen alten Sperrholzkasten als Etui und schon waren wir weg. In der nächsten Kneipe tranken wir einen Wein auf diesen gelungenen Kauf. Nun wollte ich sofort spielen, aber: wo? Einer meiner Kollegen wußte, daß nicht weit, Richtung Place Pigalle, ein Jazzlokal mit Namen "La Cigale" ist. Dort spielten an diesem Abend Benny Waters und seine Band. Daß er das war, habe ich aber erst Jahre später erfahren. In diesem jugendlichen Alter, in dem wir waren, hat man keine Hemmungen. Ich stieg auf die Bühne, begrüßte alle, nannte artig meinen Namen und spielte mit. Es wurde ein richtig schöner Abend, wir verstanden uns mit den Musikern so gut, daß später auch noch unser Schlagzeuger einsteigen durfte.

Dieses Saxophon kam mit mir in die Jahre, und irgendwann dachte ich, o.k. jetzt mußt du mal ein neues kaufen. Es mußte allerdings wieder ein Selmer sein. Das alte war wirklich total heruntergewirtschaftet, ich bekam die tiefen Töne nicht mehr, es hat nicht mehr richtig gedeckt. Mit dem neuen Tenor stand ich sehr lange auf Kriegsfuß, irgendwann habe ich meinen Widerstand aufgegeben, aber es wollte sich keine Liebe einstellen. In dieser Phase kam Christoph Lauer zu mir und fragte mich, ob er mein altes Horn mit nach Wien nehmen solle, dort sei ein ehemaliger Mitarbeiter von Selmer, der natürlich Selmer-Hörner gut renovieren könne. Ich gab ihm mein Tenor mit und war begeistert, als er es zurückbrachte. So ein Instrument, das wußte ich nun, kannst Du nirgendwo auf der Welt kaufen, das ist das beste, das je gebaut wurde. Es ist eigentlich ein ziemlich schlankes Instrument mit konvexen Knöpfen, die ich mit meiner großen Hand nie verfehlen kann. Bei konkaven Knöpfen fühle ich mich irgendwie eingeengt. Dieses Tenor sei aus einer Zwischenserie, von der weltweit nur etwa 1000 Stück gebaut wurden, hat man mir wenigstens erzählt. So spiele ich also heute noch, oder wieder, auf meinem uralten Horn, das ich 1958 in Paris gekauft habe. Damals, beim Kauf, war es schon nicht mehr neu gewesen, hatte 8 bis 10 Jahre auf dem Buckel gehabt. Am 8.5.2000 habe ich, anläßlich meines Geburtstages, sein (angenommenes) 50jähriges Jubiläum mitgefeiert. (Meine im März 2004 in Cuxhaven aufgenommenen Detailfotos zeigen Gustl Mayers altes Saxophon, das ich hier zum dritten Mal höchst eindrucksvoll erleben durfte. W.N.)

5. Carnegie Hall +)

Mit zwanzig Jahren erwarb ich meinen ersten Plattenspieler. Es war ein tragbares Koffergerät von Philips und sah aus wie eine Hutschachtel. Ich war überglücklich, denn endlich konnte ich zu Hause Platten abspielen. Nur hatte ich zu dieser Zeit noch keine. Eine LP kostete in den 50er Jahren bis zu 37 Mark, das waren etwa 8 bis 10 Stundenlöhne eines Arbeiters. Vergleichsweise kostete ein Bier 30 Pfennige, ein Rippchen mit Brot zwischen 1,50 und 2 Mark.

Ich spielte in der Corso-Bar, in der nur schwarze Soldaten der US.Army und Air-Force verkehrten. Unser Bassist, ich habe leider den Namen vergessen, war in Geldnot und bot mir das Benny Goodman-Carnegie Hall Concert von 1938 für sage und schreibe 50 Mark an. Normalerweise kostete dieses Album 99 Mark. Ich griff sofort zu, denn ich war ein großer Verehrer von Benny Goodman. Auf der Klarinette versuchte ich ihn immer zu imitieren, was wahrlich nicht einfach war.

Ich schlief zu jener Zeit nicht in der elterlichen Wohnung, sondern hatte unter dem Dach eine Mansarde, allerdings ohne Wasser und WC. Man war noch nicht so anspruchsvoll.

Jeden Abend, bevor ich die Augen schloß, hörte ich eine oder zwei Seiten des Carnegie Hall Concert. Ich kenne heute noch jeden Chorus, jedes Solo auswendig. Manchmal drehte sich am Morgen, wenn ich wach wurde, noch der Plattenteller, und der Tonarm eierte in der Leerlaufspur herum. Das ärgerte mich natürlich sehr, denn ich wollte mein neues Gerät nicht beschädigen.

Nun war mein größter Wunsch, einmal nach New York zu fliegen und die Carnegie Hall zu besuchen. Zunächst war daran überhaupt nicht zu denken, dazu hatte ich natürlich kein Geld.

Jahre gingen ins Land, und ich träumte immer noch von New York und der Carnegie Hall. Mittlerweile gab es ein weiteres Problem. Zwar hätte ich mir nun, zusammen mit meiner Frau, einen Flug nach New York leisten können, doch hatte ich furchtbare Flugangst. Bei Kurzflügen, wie z.B. nach Berlin, Nizza, Genf usw. genügten Beruhigungstabletten, doch habe ich den großen "Sprung" nicht gewagt. Meine Frau schaffte es, die Flugstrecken immer etwas zu verlängern, ohne daß ich es merkte. Wir flogen nach Mallorca, dann nach Tunis, nach Athen und Antalya. 1994 sagte sie dann: "So, jetzt kannst Du auch den Flug nach New York wagen, das ist auch nicht viel weiter." Natürlich war das viel weiter, acht Stunden in der Luft. Ich trank ein paar Glas Rotwein, und es klappte wirklich.

Wir wohnten in einem Hotel an der siebten Avenue, Ecke 53ste Straße, also ziemlich in der Stadtmitte von Manhattan, nicht sehr weit vom absoluten Mittelpunkt, dem Times Square (hier liegt auch das MoMA, WN)

Ein Block weiter, Richtung Central Park, lag die Carnegie Hall in ihrer ganzen Pracht. Ich wollte natürlich sofort hin. Ich sah sie mir von allen Seiten an und dachte an die vielen Abende und Nächte in meiner Mansarde und mit dem Benny Goodman-Album von 1938. Ich war ganz aufgeregt. Ich wäre so gerne durch den Eingang gegangen, um noch etwas von der Atmosphäre zu erschnuppern, aber jedes Mal war geschlossen. Gegenüber ist ein Irish Pub, in dem wir uns gerne niederließen, um ein Bier oder einen Wein zu trinken.

Eines Tages, wir saßen so schön beim Wein, sagte meine Frau: "Es ist Licht in der Carnegie Hall." Wie elektrisiert und voller Erwartung gingen wir hinüber. Die Tür ließ sich öffnen. Der Vorraum wirkte wie damals, 1938. Rechts in der Ecke das Kartenkiosk, in dem eine nette Frau saß. Meine Frau entdeckte gleich ein kleines Plakat "In Memoriam Benny Goodman": ein Konzert mit dem Carnegie Hall Jazz Orchestra unter Jon Faddis, am heutigen Abend. Du lieber Gott, wer hätte so etwas gedacht, was ein Zufall. Leider hatte man nur noch zwei Karten auf dem Rang, von wo aus man nach Meinung der Dame sehr gut hören konnte, aber die Musiker nicht sah. Wir erbaten kurze Bedenkzeit.

Und während wir hin und her überlegten, trat ein Mann mittleren Alters an den Kartenschalter, und wir sahen, wie die Dame auf uns zeigte. Der Mann kam auf uns zu und bot uns zwei Karten an, da seine Frau erkrankt war und er somit das Konzert nicht besuchen konnte. Wir zückten sofort unser Geld, aber das geht so in New York nicht. Man dürfe die Karten nur außerhalb der Carnegie Hall verkaufen. Innerhalb von Minuten waren wir Besitzer zweier relativ guter Karten. Ich war selig, ich konnte es kaum glauben.

In der Carnegie Hall war das Foyer bereits überfüllt, so daß wir auf der Straße warten mußten. Die Fans waren natürlich allesamt in die Jahre gekommen, Jungvolk war kaum zu entdecken. Mich hat auch gewundert, daß wir nirgendwo in der Stadt Plakate von diesem spannenden Ereignis entdecken konnten. Man hat uns später erklärt, daß die Konzertwerbung hauptsächlich über die Medien betrieben wird.

Der Vorhang ging auf, und da saß eine Bigband. Wir saßen im dritten Rang und konnten die einzelnen Musiker nicht gut erkennen, aber sie wurden ja alle vorgestellt, wie sich das gehört. Einige waren mir bekannt, der Trompeter Randy Brecker oder der Posaunist Slide Hampton, mit dem ich noch Monate zuvor gemeinsam in Hannover auf der Bühne gestanden hatte, und Milt Jackson am Vibraphon.

Im ersten Teil spielten sie Original-Arrangements der Goodman Band, wobei der Klarinettist Benny Goodman zum Verwechseln imitierte. Das ist vielleicht nicht jedermanns Geschmack, aber ich empfand das als eine tolle Leistung. Im zweiten Teil gab es Titel der Goodman Band, doch nun im neuen Gewand, also wie man heute die Arrangements schreiben würde. Diesmal wurde Benny Goodmnan von einem Sopransaxophonisten dargestellt, der allerdings nichts mit Bennys Swingstil zu tun hatte. Dennoch war das ein riesiges Erlebnis für mich. Das Publikum war sich einig: es war ein gutes und erfolgreiches Konzert, der Applaus wollte nicht enden.
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+) eingesandt: 8.8.2k5; Bearb.: WN; die eingefügten Bilder stammen aus dem Internet

6. "Abenteuer" New York*)

Ron Ringwood ist Sänger in der Band von Lindy Huppertsberg, die sich "Lady Bass and the Real Gone Guys" nennt. In der Vergangenheit veranstaltete er die Jazz-Kreuzfahrten auf dem Mittelmeer. Er hatte die Idee dazu. Er hatte überhaupt immer viele, gute Ideen. Eine davon war, daß er zum 10jährigen Jubiläum der Kreuzfahrten eine CD in New York produzieren wollte. Er rief mich an und machte mir den Vorschlag mitzuspielen. Er erzählte auch gleich, wen er schon engagiert hatte. Da waren die Count-Basie-Musiker Harry "Sweets" Edison, Clark Terry und Eddie Jones, Buster Cooper an der Posaune, er war früher bei Duke Ellington ebenso wie Clark Terry; am Schlagzeug sollte Bobby Durham spielen, der etwa 13 Jahre mit Oscar Peterson auftrat, Willie Pickens aus der Band von Elvin Jones am Piano und am Tenorsaxofon Red Holloway. Ich fühlte mich sehr geehrt und war zugleich aufgeregt. Ich habe sehr mit mir gekämpft, ob ich mich darauf einlassen sollte. Es ist eine große Herausforderung, in der Höhle des Löwen, nämlich im Mekka des Jazz, in New York, Aufnahmen zu machen, und dazu noch mit der Creme der Jazzmusiker.

Es gab einen Studiotermin im Januar 1996. Das Kampo-Studio lag in der Bond Street, downtown Manhattan, dort wo die Straßen noch richtige Namen haben.

Der Termin rückte immer näher, und ich wurde immer unruhiger. Am liebsten hätte ich alles abgesagt, aber meine Frau hat mich immer wieder beruhigt, mich aufgemuntert und mir den Rücken gestärkt. Zwei Tage vor dem Abflug erfuhren wir über den Wetterbericht, daß an der Ostküste der USA schwere Schneestürme wüteten. Ich sah meine Chance, denn bei solchem Wetter landet doch keine Maschine. Es nutzte aber nichts, die Maschine startete dennoch pünktlich am 14. Januar. Etwa gegen 13.00 Uhr Ortszeit waren wir über Newark, konnten aber nicht landen. Wir mußten ständig kreisen, denn es gab nur eine schneefreie Landebahn. Ich schöpfte wieder Hoffnung, vielleicht mußten wir ja wieder umkehren. Das war natürlich ein blödsinniger Gedanke, denn umkehren würde die Maschine nie und nimmer, sie würde vielleicht in Boston oder sonstwo landen, und man könnte dann per Bus oder Bahn nach New York reisen. Wir landeten aber letztendlich doch in Newark.

New York lag völlig im Schnee, aber der Himmel war wolkenlos blau. Wir hatten etwa 0 Grad Celsius, und wäre der viele Schnee nicht gewesen, hätten man die Stadt schön durchwandern können. Wir taten das natürlich trotzdem. An den Bürgersteigen des Broadway, wir wohnten genau da, war der Schnee von den Räumfahrzeugen so hoch aufgetürmt, daß man die gegenüber liegende Straßenseite nicht sehen konnte. Unter diesen Schneebergen konnte man geparkte Pkw´s entdecken, die für ihre Eigentümer unerreichbar waren.

Wir waren schon zwei Tage vor den Aufnahmen vor Ort und hatten Zeit, beispielsweise über die Brooklyn-Bridge zu den Brooklyn Heights zu marschieren. Dieses Gebiet gefiel uns schon bei unserem ersten New-York-Besuch sehr gut. Allerdings konnte ich nicht völlig unbeschwert durch Manhattan und Brooklyn marschieren, denn ich mußte ständig an diese bevorstehenden Aufnahmen denken und daran, daß meine Mitspieler allesamt Stars aus den Bigbands von Count Basie und Duke Ellington waren.

Ron Ringwood kam erst einen Tag vor den Aufnahmen angeflogen. Ich schlug ihm vor, mit mir und meiner Frau in einen Pub zu gehen, den wir bei unseren Streifzügen entdeckt hatten. Er sagte: "....ja, ich glaube dort können wir hin." Offenbar gab es für Afroamerikaner, selbst im weltoffenen Manhattan, noch gewisse Barrieren.

Am nächsten Morgen trafen wir uns um 9.00 Uhr in der Hotel-Lounge, um mit den berühmten Yellow Cabs ins Studio zu fahren. In unserem Taxi saß der Trompeter Harry "Sweets" Edison. Er war von Beginn an, also seit etwa 1935, in der Band von Count Basie und spielte als Solist auf jeder wichtigen Aufnahme von Frank Sinatra ein kurzes Solo mit gestopfter Trompete. Sinatra wollte nur ihn, der so unnachahmlich sparsam, musikalisch und swingend spielte.

Sweets war befreundet mit Billie Holiday und erzählte uns auf der langen Fahrt den Broadway hinunter Richtung Studio, wo er mit Billie Kleider ausgesucht oder regelmäßig einen Drink eingenommen hatte. Er konnte viel erzählen, denn es war Rushhour in New York, und unser Taxi fuhr im Schneckentempo dahin.

Im Studio angekommen, überprüfte ich, ob ich das richtige Blatt auf dem Mundstück hatte, und um mich etwas warm zu spielen. Der Pianist Willie Pickens, der mir gerade vorgestellt wurde, begleitete mich, um dann zu sagen: "Du spielst ja wie wir!" Das war für mich das größte Lob, und sofort schwand mein Lampenfieber auf die Hälfte.

Clark Terry hatte eine Idee für das erste Stück. Es war offenbar eine Komposition von Lester Young, wobei die Trompeten mit der Posaune dreistimmig die Melodie spielten, und wir Saxophonisten spielten eine riffartige Gegenstimme. Clark spielte jedem seine Stimme vor, und dann wurde aufgenommen. Schon der erste Take war geglückt, und wir konnten unsere Konzentration auf das nächste Stück lenken. Als alle Bläser das Studio verließen und ich fragte: "Do we have a break?", sagte Clark Terry: ".... nein, nein, jetzt bist du dran, mit einer Ballade". Ich war nun mit Musikern, die ich nur von Schallplatten her kannte, allein im Studio. Am Bass Eddie Jones, jahrelang das Rückgrat der Count Basie Band, Bobby Durham, der 13 Jahre bei Oscar Peterson spielte, und schließlich Willie Pickens, der aus Chicago angereist war, und im Quartett von Elvin Jones spielte. Ich spielte die Ballade von Count Basie, Blue and Sentimental, und auch diesmal war gleich der erste Take im Kasten. Ich war überglücklich und wußte, jetzt kann mir nicht mehr viel passieren, zumal meine Kollegen auch so taten, als hätte ich ganz gut gespielt.

Die fertige CD erhielt den Titel "When Legends get together" und wurde sehr erfolgreich verkauft.
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*) eingesandt: 27.7.2k5; Red., Links WN

7. Carlo Bohländer °)

Carlo war Trompeter, Musiktheoretiker und mein Lehrer, speziell in Harmonielehre und Improvisation. Alles, was ich weiß und kann, habe ich von ihm gelernt. Als wir uns 1953 kennenlernten, schrieb er gerade an seiner zweiten Harmonielehre, die er an mir ausprobierte. Er war der Meinung, wenn ich das kapiere, dann kapiert das jeder. Ich glaube, damit hatte er recht.

Seine größte Tat war, wie er sich bei den Nazis vom Wehrdienst befreite. Carlo ist Jahrgang 1919 und wurde in den 40er Jahren zur Wehrmacht eingezogen. Zunächst kam er nach Gießen zur Kavallerie. Carlo war und ist ein absoluter Nazi- und Kriegsgegner gewesen. Deshalb sann er darauf, wie er dem Krieg und den Nazis entkommen konnte. Er aß zunächst sehr wenig und einige Wochen später überhaupt nichts mehr, bis er beim Appell an einem sonnigen Morgen vom Pferd fiel. Er wurde untersucht, man befand ihn zwar als zu leicht für seine Größe, konnte aber nichts feststellen. Als sich sein Zustand nicht besserte, entließ man ihn. Carlo hatte es geschafft. Er sah bis zuletzt noch so aus, als würde er zu wenig essen.

Carlo Bohländer hat fast alle Jazzlokale, die es damals in Frankfurt gab, in eigener Regie aufgebaut und eröffnet. Da war zunächst der Jazzkeller, der damals noch Domicile du Jazz hieß, da man zu dieser Zeit sehr francophil war. Ich konnte das nie ganz verstehen, da ich mit Jazz natürlich Amerika, New York, Chicago, New Orleans, Kansas City verband, aber nicht mit Paris. Wahrscheinlich rührte das von den sog. Existenzialistenkellern in Paris her, in denen auf jeden Fall, außer daß viel diskutiert wurde, auch Jazz gespielt wurde. Viele amerikanische Jazzmusiker wie Don Byas, Kenny Clark, Sidney Bechet, Bill Coleman und andere, spielten ständig in Paris, das zur zweiten Heimat vieler Jazzmusiker wurde, denn hier gab es keine Diskriminierungen für schwarze Musiker, und zum anderen war Paris letztendlich die Traumstadt schlechthin.

Im Jazzkeller wurde bis in die frühen Morgenstunden gespielt. Man muß dabei wissen, daß zu dieser Zeit wahnsinnig viele Musiker in Frankfurt waren. Hier war der Mittelpunkt aller amerikanischen Airforce- und Army-Clubs. Sicher hatten wir im Rhein-Main-Neckar-Gebiet so um die 50, 60 Clubs, in denen zum Teil jeden Abend gespielt wurde. Es wurde, weil die Soldaten auch tanzen wollten, eine jazzähnliche oder jazzverwandte Tanzmusik gespielt. So wohnten in Frankfurt Musiker aus ganz Deutschland, aus Jugoslawien, den Niederlanden, Belgien, England und Frankreich. Zu dieser Zeit waren alle noch ohne eigene Fahrzeuge, so fuhren die Amerikaner mit ihren großen Mannschaftsbussen die Bands zu ihren Einsatzorten. Da waren immer 3 bis 4 Bands in einem Bus, die nacheinander ausgeladen und nach Spielschluß wieder abgeholt wurden.

Da man meistens um Mitternacht wieder in Frankfurt war, ging man in den Jazzkeller, um bis in die Morgenstunden zu jammen. Nirgendwo sonst konnte man als junger Musiker so viel Erfahrung sammeln wie in diesen Jahren im Jazzkeller. Wenn man einigermaßen spielen konnte, durfte man auch einsteigen, also mitspielen. Man erfuhr so alle Regeln, die für einen Jazzmusiker wichtig sind, bis hin zu "nicht trinken auf der Bühne" (das wurde nicht so genau genommen) oder "niemals dem Publikum den Rücken zukehren", "nicht lachen oder sich umdrehen, wenn sich jemand verspielt", "immer pünktlich sein, denn wenn nur ein Musiker fehlt, kann die Band nicht spielen" und viele Sachen mehr.

Bald entstand durch Carlo Bohländer das "Storyville", in dem so berühmte Leute wie Chet Baker, Lester Young, Stan Getz, das Horace Silver-Quintett, das Modern Jazz Quartet usw. spielten. Das war ein Lokal in der ersten Etage in der Stiftstraße, vis-a-vis vom Finanzamt. Wir Musiker haben die Räumlichkeiten von Trümmern befreit, einige haben sogar die Toilette gekachelt und die Wände mit allerlei unpassenden Gemälden verziert, so wie man sich eine Bar vorstellte, nach dem Muster der Bordelle im Bahnhofsviertel. Uns gefiel das aber sehr, es war hier viel exklusiver als im Jazzkeller, zumal es hier auch richtig Gage gab. Im Keller gab es nur ein Bier pro Pause.

Er hatte immer neue Pläne und Ideen. Das Phänomen "Swing" hatte es ihm schon immer angetan. Sein Buch darüber ist selbst für Jazzmusiker so schwer zu verstehen, daß die meisten nach den ersten 10 Seiten aufgeben. Sein letztes Werk, in dem es über die Melodik bzw. die Melodiebildung im Jazz gehen sollte, wurde leider nicht mehr fertig. Carlo Bohländer starb im Juni 2004 im Alter von 84 Jahren.

(b) Carlo war mein Lehrer in Harmonielehre und, wenn man so will, hat er mir auch die Gestaltungsmöglichkeiten beim Improvisieren nahe gebracht. Zunächst mußte ich alle Akkorde in Dur und in Moll studiern, dann die dazugehörigen Dominanten und Parallelakkorde, die Wechseltöne und Leittöne, harmonische Molltonleitern, die dominantisch angewandt, und nur abwärts gespielt werden können, und natürlich die Ganztonleitern, von denen es eigentlich nur zwei gibt. Diese wiederum setzen sich aus „übermäßigen Akkorden“ zusammen, also Akkorden, bei denen die Quinte um einen halben Ton erhöht wird.

So, nun soll man als junger Musiker anfangen zu improvisieren. Ursprünglich machte ich das nur nach Gehör, und alles war eigentlich für meine Mitspieler ganz in Ordnung. Carlo hörte mich dann zum ersten Mal und kam danach zu mir, um zu sagen, daß ich eine ganz gute Veranlagung hätte, Jazz zu spielen. „Aber du machst noch zu viele harmonische Fehler“, ergänzte er. Das hat mich ganz schön niedergeschlagen, ich wußte ja, wer dieser Carlo Bohländer ist – der Jazzpapst, die Jazzpolizei. Er bot mir an, das noch fehlende Rüstzeug zu vermitteln, nahm mich von da an fast täglich in die Mangel. Ich mußte auf meiner Klarinette „gebrochene“ Dominantakkorde von oben nach unten üben, und umgekehrt – und das in allen Tonarten. Bald durfte ich in seiner Band spielen, als Ersatzmann. „Du spielst viel zu viele Töne, bei Dir weiß man nicht, wo die eine Phrase aufhört und die andere anfängt. Das ist noch nicht gut, aber Amateure machen das leider so. Wenn ich in Zukunft bei deinem Chorus+) „Loch“ rufe, dann machst Du eine kurze Pause, um erst dann weiter zu spielen.“ Während eines Chorus rief er so oft „Loch“, daß ich am Ende nicht mehr wußte, wo mir der Kopf steht. Das ging über viele Wochen so, auch rief er mir Akkorde zu, wenn er das Gefühl hatte, dass ich mich jetzt in meinem Gespiele und den „Löchern“ verfing. Irgendwann hatte ich das kapiert. Heute ruft zwar keiner mehr „Loch“, aber ich spiele immer noch so, als würde Carlo rufen.
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°) (a) eingesandt: 9.8.2005, (b) 23.4.2011; Bearb.: WN
+) "one full cycle through a song’s form. An improviser usually plays at least one chorus during his solo, but may play many more, especially if the song has a short form, such as a blues" (in: http://jazz.about.com/od/glossaryofjazzterms/g/Chorus.htm)
zur Harmonielehre siehe hier. Das obige Bild von Carlo Bohländer ist ein (verkleinerter Auszugs-) Screenshot aus www.vimeo.com/22630425 und, nach Auskunft G. Mayers, ca. 50 Jahre alt. Herkunft und rechtl. Bedingungen unbekannt. Sollte es nicht gemeinfrei sein, wird es sofort entfernt. W.N.
Links, Fotos (außer C. Bohländer) und Flugsimulator-Screenshot von New York (c) Dr. W. Näser, MR * Stand: 19.11.2020