Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser, Marburg, SS 2002 ff.

Gustl Mayer (*1936) und das Saxophon: Worte zum Jazz
Ergänzungen

1. ZUM THEMA. Sprache und Musik sind eng miteinander verwoben, haben in der langen Geschichte der Menschheit immer in Wechselwirkung gestanden: diese äußert sich nicht zuletzt in zahlreichen "musikalischen" Wörtern und Wendungen, die bis heute im Deutschen lebendig geblieben sind. Reflexionen über die Musik und das Musizieren sind, wie einige Autoren unserer Sammlung (Schweitzer, Halm, Furtwängler, Henze, Zuckmayer, Brendel) beweisen, auch zumeist ein sprachlich schöpferischer Akt. Viele neue Stilarten, aber auch Interpretationsweisen und Hör-"Philosophien" brachte die Musik hervor. Hat jemals eine musikalische Innovation ein ganzes Jahrhundert mitgeprägt, so ist es der Jazz.

Energisch, fordernd, urgewaltig, manchmal auch provokativ ist im Jazz eine mächtige Stimme, ein Organ, das allem Anschein nach eigens für ihn geschaffen wurde: der Belgier Antoine-Josephe ("Adolphe") Sax (1814-1884) konstruierte um 1840, also noch zu Lebzeiten von Frédéric Chopin (1810-1849), Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) und Robert Schumann (1810-1856), das Saxophon, eine (meist) metallene, parabolisch sich erweiternde, mit Tonklappen versehene Röhre, die von einem Rohrblatt in einer Art Klarinetten-Mundstück zum Klingen gebracht wird, und baute es in acht Größen. "Sein Umfang beträgt drei Octaven, die Applicatur ist leicht, der Ton sonor wie er bei keinem anderen Blasinstrument zu finden, und kann vom zartesten Piano in’s gewaltigste Forte gesteigert werden.", heißt es in der Deutschen Zeitschrift für Musik vom 22. Juli 1842. Berlioz bewundert "die vielfältige Schönheit seines Tons, der manchmal ernst, manchmal ruhig, manchmal auch leidenschaftlich, träumerisch oder schwermütig ist, oder vage wie das schwache Echo eines Echos, wie die undeutlichen Wehklagen des sanften Winds in den Wäldern und, noch besser, wie die mysteriösen Schwingungen einer Glocke, lange nachdem sie geschlagen hat". 1847 entstand in Paris die erste Saxophon-Schule. Wie Meyers Konversationslexikon (Bd. 14, S. 362) von 1890 bemerkt, habe es "besonders in der französischen Militärmusik Verbreitung gefunden".

Aus seinem Dornröschenschlaf, ergänzt Gustl Mayer, sei es erst zu Beginn des 20sten Jahrhunderts erweckt worden. "Komponisten wie Ravel und Bizet setzten es bereits sparsam ein, aber seine wirkliche Bedeutung erhielt es letztendlich im Jazz. Zunächst spielten Klarinettisten das Saxofon als Nebeninstrument, ohne einen besonderen Ton zu entwickeln, und ohne Gespür für dieses wunderbare Instrument. Erst der 1904 geborene Saxofonist Coleman Hawkins, der Cello und Harmonielehre studiert hatte, entwickelte als erster Anfang der 1920er Jahre eine dem Instrument angepasste Spielweise und den dazugehörigen Ton. Im Grunde war das erst die Geburtsstunde des Saxofons. Er spielte dieses Instrument technisch virtuos und vital-swingend, mit einem runden, etwas rauhen Ton und wurde so bald zum Vater aller Saxofonisten. Einige Jahre später etablierte sich der junge Lester Young. Im Gegensatz zu den meisten Tenoristen spielte er ohne Vibrato und lyrisch-zurückhaltend, aber dennoch sehr relaxed-swingend und zupackend, was eine ganze Generation junger weißer Saxofonisten inspirierte, nämlich die, die sich dem Westcoast Jazz oder auch Cool Jazz verschrieben hatten, dem "weißen" Gegenstück des Bebop. Man kann aus heutiger Sicht grob sagen, dass Coleman Hawkins die Leitfigur der schwarzen Tenoristen war und ist, und Lester Young war und ist die Vaterfigur für die weißen Tenoristen. Für Coleman Hawkins stehen Musiker wie Benny Golson, Sonny Stitt, Sonny Rollins, Eddy „Lockjaw“ Davis. Lester- Young-Schüler sind u.a. Stan Getz, Zoot Sims, Al Cohn. Heute sind eindeutige Zuweisungen kaum noch möglich – alles hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte vermischt, und es sind neue Spielweisen entstanden. Das Saxofon ist aus der modernen Musik allerdings nicht mehr wegzudenken und gilt heute sogar als das typische Instrument des Jazz."

Mit einer Jazz-Art, dem Swing, fand das Saxophon eine Heimstatt auch und gerade in den großen Tanzorchestern der 40er und 50er Jahre, den Big Bands, und somit Zugang zu jeder Musiktruhe und jedem Fernseher, und es entstanden Wortwitze wie "Kennste den Unterschied zwischen einem Saxophon und einem Sack Zement? Nee? Dann mußte mal reinblasen."
WOLFGANG NÄSER, Marburg

2. DISKOGRAPHIE a) TV-Konzert m. Claus Ogerman Octet: Chet Baker (tp, vo), Werner Rehm (tp), Dick Simon (tb), Gustl Mayer (cl), Rolf Schneebiegl (vib), Claus Ogerman (p) u.a., Baden-Baden (1955); b) LPs und CDs von und mit Gustl Mayer: 1. "Piano x Vier" (Modern Jazzgroup Freiburg, 1963, SABA / MPS); 2. "Swingin´Oildrops" (mit Emil Mangelsdorff, 1966, CBS); 3. "Old Fashion, New Sound" (mit Emil Mangelsdorff, 1969, Europa Records); 4.+5. "FROM "(1+2): Klaus Göbel: organ, e-piano, piano; Gustl Mayer: tenorsax, sopranosax, bells; Dieter von Goetze: electric bass,  Kurt Bong: drums, percussion, gong, timpani; Viktor F. Belgrove: percussion, conga, steel drum, vocal. LPs (1971, 1972, CBS); 6. "Frankfurt All Stars": Klaus Göbel: organ; Gustl Mayer: tenorsax; Emil Mangelsdorff altosax; Günter Lenz: bass; Ralf Hübner: drums (DLP, 1975, Teldec); 7. "Yellow Cab" (Gustl Mayers Jazz Stampede, 1980, L+R Records); 8. "But Beautiful" (Gustl Mayers Jazz Stampede, 1985  BKB); 9. "Can´t we be friends", Frankfurt Swing All Stars, 1986, Joke Records; 10. "Jive at Five", Frankfurt Swing All Stars, 1989, Joke Records; 11. "Eddie Cleanhead Vinson's Blues": mit Musikern des Count Basie Orchestra: Colin Dawson (co), Gustl Mayer (ts), Thomas L'Etienne (ts, as), Gene Connors (tb), Klaus Pehl (as, bs), Dirk Raufeisen (p) u..a., 1990); 12. "Swinging Frankfurt / New York" (1994); 13. "When Legends get together" (mit Harry "Sweets" Edison, Clark Terry, Red Holloway, Eddie Jones, Bobby Durham, Buster Cooper u. Willie Pickens, LynnRo Records, N.Y. 1996); 14. "The Roots of Jazz" , International Jazz Festival at Sea 6.6.(1996); 15. "Street of Dreams" (Paul Kuhn and Strings, 1997, Mons Records); 16. "Clark Terry and Friends", 1998, Mons Records (mit Paul Kuhn, Kurt Bong, David Glasser, Werner Bayer); 17. "Young at Heart "(Paul Kuhn and the Best, mit Greetje Kauffeld, Benny Bailey, Dusko Goykovich, Jiggs Whigham, Peter Weniger, Paul G. Ulrich u. Willy Ketzer, 2002, In+Out Records); 18. "As Time goes by" (Paul Kuhn and the best, 2008, In+Out Records); 19. "25 years Live at Philharmonie Cologne" (mit Paul Kuhn Combo und Paul Kuhn Bigband) (2CD, 2011, In+Out Records) (Änderungen vorbehalten)

Mein Foto links vom 29.6.2004 zeigt Gustl Mayer mit seinem alten Selmer-Sax beim Auftritt im Marburger Jazz-Club Cavete (als Stargast der Dirk Raufeisen "Jazz Fingers").

3. Tonproben (*.mp3): nichtkommerzielle dokumentarische Live-Aufnahmen (von W. Näser) mit GUSTL MAYER aus Cuxhaven

  1. am 12.3.2002 im Capt'n Ahab's Culture Club
  2. am 17.3.2004 ebd (gekürzt)
  3. am 13.3.2005 mit Andreas Schanze u.a. Jazzern, ebd.
  4. Body and Soul: mit dem Andreas-Schanze-Trio am 21.3.2006 ebd.
    und (b) solo am 24.3.2011 im oberen Frühstücksraum des Hotels Wehrburg

4. ANMERKUNGEN UND ERGÄNZUNGEN (aus E-mails von GUSTL MAYER; * eigene Ergänzungen)

  1. "Jazz Gehört und Gesehen" kam vom SWF Baden-Baden am 5.12.1955. Intro into Sweet Georgia Brown (Bernie-Pinkard-Casey, 4:43) wurde daraus als Track 3 eingespielt in The 2 Trumpet Geniuses of the Fifties: Brownie & Chet; Philology [Records] 214 W 13 ("Black and White Serie Vol. 1"). => Charles A. Ralston, La Faro Discography: 1956-1957. WN.
    Zur Sendung bemerkt GM: "Es spielten die 'Two Beat Stompers' mit mir als Klarinettist, das Chet Baker-Quartet (Chet war damals der beste Trompeter auf Deutschland-Tour) und Claus Ogerman (=Klaus Ogermann), damals Pianist bei Kurt Edelhagen; er imitierte als Solist einen berühmten amerikanischen Pianisten. Später hat er in New York, zusammen mit Stan Getz und den Brasilianern [Antonio Carlos] Jobim, João und Astrud Gilberto den Bossa Nova erfunden, indem er Jazz und Samba zusammenführte." (Zit. gekürzt, WN)
  2. Darüber berichtet GM in einer E-mail von 20.7.2001: "An einem Abend sollte es eine sogenannte Sax-Battle geben, nach dem Muster von Jazz at the Philharmonic. Das war ein "Jazz-Zirkus", der in den 50er und 60er Jahren um die Welt reiste, und immer die besten Musiker aus den U.S.A. unter Vertrag hatte, u.a. Ella Fitzgerald und Oscar Peterson. Nun, diese Battle, nachdem die Musiker feststanden, sollte ich organisieren, denn wir waren 6 Saxophonisten aus 5 Nationen. Ich habe das Repertoire zusammengestellt und Formationen gebildet, daß das Ganze nicht so eintönig wird. Zunächst spielten wir alle 6, dann bildeten wir Pärchen. Mir ist dann kurz vor der Pause etwas passiert, was in der Presse Schlagzeilen machte. Während meines Solos, und ich spielte ziemlich heiß und kraftvoll, ist mir der S-Bogen mitsamt dem Mundstück aus dem Mund geflogen. Eine Lötstelle hatte sich geöffnet. Das Publikum hielt das zunächst für eine gelungene Show. Aber ich mußte aufhören. Da ich auch die Ansagen machte, habe ich zur Pause gebeten, falls jemand zufällig einen Sekundenkleber in der Tasche mit sich führt, doch bitte damit hinter die Bühne zu kommen, um mir zu helfen. Es fand sich auch jemand, und so konnte ich das Konzert einigermaßen ordentlich zu Ende bringen. Am nächsten Tag suchte ich einen Goldschmied auf, der mir die auseinandergefallenen Teile wieder zusammenlötete. Als ich bezahlen wollte, winkte dieser ab mit der Bemerkung: 'Für so etwas nehme ich doch kein Geld'."  Ein Jahr später verehrte ich ihm eine CD.
  3. Zu Clark Terry (mit dem er 1996 spielte) schreibt GM am 2.9.2001: "Clark Terry hat mir übrigens eine rührende Geschichte erzählt. Er ist Jahrgang 1921 und wuchs in den Slums von St. Louis auf. Schon früh verspürte er seine Liebe zur Musik und besonders zur Trompete. So bastelte er sich aus einem Gartenschlauch und einem Trichter ein trompetenähnliches Etwas. Er entlockte diesem "Instrument" offenbar brauchbare Melodien, sodaß die gerührte Nachbarschaft, die ebenfalls sehr arm war, Geld sammelte und ihm eine gebrauchte Trompete kaufte. Da er aber auch kein Geld hatte, um sich eine Trompetenschule zu kaufen, ließ er sich von Nachbarn eine alte Klarinettenschule schenken. Die Etüden bestehen hier natürlich aus viel größeren Intervallen, als es für die Trompete normalerweise üblich ist. Ehrgeizig wie er nunmal ist, hat er brav nach der Klarinettenschule gelernt und hat somit einen Stil entwickelt, der ihn von allen anderen Trompetern unterscheidet. Keiner spielt bei seinen Improvisationen solch große Intervalle, und dabei auch noch so schnell."
  4. Zum Thema Improvisation und Selbstkritik finden sich interessante Anmerkungen in einer E-Mail vom 6.5.2001: "Normalerweise höre ich mir eine im Studio produzierte CD erst nach Wochen an, nämlich erst dann, wenn ich nicht mehr genau weiß, was ich spielen wollte, und so die Diskrepanz zwischen Wollen und Können nicht mehr auffällig ist. Beim Improvisieren geht das ja in Bruchteilen von Sekunden, daß man sich für einen Ton oder eine Phrase entscheidet, nur läuft nicht immer alles so, wie man das in Sekunden plant. Man weiß aber noch nach Tagen, was man an dieser und jener Stelle spielen wollte, und hört dann, was wirklich dabei heraus kam. [...] Das Improvisieren ist ja in Wirklichkeit ein Komponieren unter Zeitdruck. Bei einem etwas schnelleren Stück, das nach der Form AABA (32 Takte) komponiert wurde, haben Sie genau 32 Sekunden Zeit, einen neuen Weg oder eine neue Variation zu diesem Stück zu finden. Das kann man nur wirklich einigermaßen gut, wenn man die entsprechende Erfahrung, Routine und natürlich etwas Begabung mitbringt."
  5. Zu den Swing-Raritäten erinnert sich GM am 24.8.2001: "Das war eine ziemlich erfolgreiche Serie, die so gut wie in jedem 3. FS-Programm gesendet wurde. Ich habe damit etwa 1987 begonnen. Zu dieser Zeit stand ja noch die "Mauer". Eines Tages ruft mich unsere Rechtsabteilung an und teilt mir mit, daß das DDR-Fernsehen an dieser Serie Interesse habe. Es wurde auch schon über Geld gesprochen. Nun haben sich diese Verhandlungen so lange hingezogen, bis die Mauer endlich weg war. Dann bekamen sie es kostenlos. O.K., das war dann der MDR und der ORB, klar, alles ARD. Mit dieser Serie habe ich mich in die Herzen der Alt-Jazzer gesendet. Wenn man mich auf der Bühne vorstellt, und mich auch noch als den Urheber der "Swing-Raritäten" nennt, nimmt die Begeisterung oft kein Ende. Als ich 1998 im Friedrichstadt-Palast spielte, anläßlich des Paul-Kuhn-Geburtstages (das war für die ARD), kam die ganze Ex-DDR-Unterhaltungsprominenz -und Didi Hallervorden nicht zu vergessen-, um mir zu gratulieren, ich war damals ganz perplex."
  6. Wie sich - auch und gerade in seinem Bewußtsein - die Zeiten wandelten, aber auch heute der Spaß nicht zu kurz kommt, schildert GM sehr anschaulich in einer E-mail vom 28.3.2001: "Ich bewundere die Pianisten, oder auch Keyborder, die heute halbe Elektronikspezialisten sind. Wenn die kurz vor dem Auftritt ihre Gerätschaften installieren, gehe ich meistens weit weg, um das Strippenziehen, Stöpseln, Ausprobieren, Fluchen, nach Gott rufen, Kündigen und anschließendes Berufaufgebenwollen nicht mitzubekommen. Am Ende klappt alles prima, aber ich danke Gott jedes Mal, daß er mich hat zur Klarinette greifen lassen. - Nicht nach der Klarinette, sondern nach dem Saxophon greife ich heute Abend. Denn heute feiert ein Musiker aus Hanau seinen 60sten Geburtstag. Er hat alle Musiker aus dem Rhein-Main-Gebiet zu einer Party nach Großkrotzenburg eingeladen, das liegt auch in dieser Gegend, an der bayerischen Grenze. Ein Musiker kommt sogar aus Heidelberg und ein anderer gar aus Saarbrücken. Also alles in allem werden es ca. 30 Musiker sein, und natürlich wird heftig gehottet. Es sei noch gesagt, daß dies ein reiner Herrenabend ist. Man muß sich als Musiker auf einen solchen Abend beinahe besser vorbereiten als auf ein normales Konzert. Denn hier will jeder dem anderen zeigen was er kann, und es spielen ja Musiker zusammen, die auf freier Wildbahn Konkurrenten sind. Man kann sich vorstellen, es gibt heute Abend mindestens 3 Schlagzeuger, aber in einer Band spielt ja immer nur einer, also wird das schon mal ein harter Kampf um die Krone: wer ist der Beste? Genau so ist mit den anderen Instrumenten. Jeder versucht in seine Trickkiste zu greifen, um die anderen auszustechen. Das alles hat natürlich Tradition und wurde schon in den 30er und 40er Jahren in Harlem gepflegt. Man traf sich dort nachts, nach dem Job in "Minton´s Playhouse" oder im "Three Deuces" oder im "Five Spot" und im "Birdland", je nach dem, und dann ging es bis in die frühen Morgenstunden. Seltsamerweise hat das alles etwas mit Sport zu tun. Auf dem Podium ist man sich spinnefeind, aber nach der Jam-Session ist man wieder (mehr oder weniger) befreundet."
  7. Interessant sind auch GMs Mitteilungen vom 29.3. und 12.4.2001: "Nicht nur das Publikum, sonder auch die Musiker untereinander müssen sich gut hören. Deshalb gilt, daß vom Publikum aus gesehen auf dem Podium hinten, von links nach rechts, die Rhythmusgruppe sitzt oder steht (Baß). Piano - Baß - Schlagzeug. Der Baß muß zwischen Piano und Schlagzeug stehen, er ist derjenige, der den Rhythmus zusammenhält. Davor postieren sich die oder der Bläser. [...] Die Jam-Sessions waren früher die Schule der jungen Musiker. Wenn man als Junger mit aufs Podium kletterte, spielte und nicht mit einem Fußtritt vom Podium gestoßen wurde, wußte man, daß man auf dem richtigen Weg war. [...] Ton oder Schall oder Sound [sind] so aufzunehmen, daß man beim Abhören des Tonträgers das Gefühl hat, man sitzt live dabei, das ist ja die große Kunst. Die Begleitinstrumente dürfen nicht dominant sein, aber dafür muß man die melodietragenden Instrumente und die Solisten im richtigen Verhältnis zum Background hören."
  8. Zum Bebop schreibt GM am 9.8.2k2: "Bebop ist im Prinzip Lautmalerei, eine Wortschöpfung der Journalisten jener Zeit, denen auffiel, daß sehr viele Phrasen mit einem Achtelsprung von der verminderten Quinte (flatted fifth, ein Merkmal des Bebop) auf die Mollterz*) (Blue note, hat eigentlich nichts mit dem Tongeschlecht Moll zu tun, sondern es ist die vorweggenommene Septime der Subdominanten) endeten. Dizzy Gillespie, Trompeter und Miterfinder des Bebop, hat an die Minstrel Shows der Jahrhundertwende angeknüpft. Da pflegte man auch schon den Scat-Gesang, berühmt geworden durch Louis Armstrong [am 26.2.1926 soll er ihn "erfunden" haben in einer plötzlichen Notsituation, textlich improvisieren zu müssen] und später Ella Fitzgerald. Es werden bedeutungslose Silben aneinandergehängt, so wie sie gerade zur Melodielinie passen. Auf die leichten Taktteile eher mit einem "i" als Vokal, die Phrasen-Enden wurden dann mit einem "a" oder "o" als Vokal versehen, aber wie gesagt, da war ja nichts aufgeschrieben, das war alles Improvisation. Man endete gerne auf einem Konsonanten wie "b" oder "p", deshalb auch "Bebop", leicht - schwer, wie ding dong, ping pong, und niemals dong ding." Das, so GM, entspreche "ungefähr unserer DaDa-Bewegung in den 20er Jahren, Nonsens zur Kunst zu machen." (=> concrete poetry; vgl. Ernst Jandls berühmtes Gedicht "Schützengraben").
    * Die produzierten Laute (=> Hörprobe) erinnern manchmal an das zum Sprachlernprozeß gehörende, experimentelle "Brabbeln" des Kleinkindes, das hier eine frühe Phase der Menschheitsentwicklung reproduziert. Je "heißer" die Session, desto explosiver die wie in Trance produzierten Laute und desto singulärer der Phonationsprozeß. In seiner zur Regelhaftigkeit tendierenden Kreativität (Scat-Patterns, -Dialekte) auch phonetisch relevant, ist das gesangliche Improvisieren im Instrumentalstil (auch ein Schlagzeug-Solo ließe sich so umsetzen) bis heute "in" - sind Vokalisten beteiligt, fehlt das Scat singing bei keinem Konzert. Das Vocal-Trio Lambert, Hendricks & Ross imitierte auf diese Weise sogar Horn-Soli. In den 1960er Jahren sangen die Swingle Singers Klassik-Stücke mit Scat-Silben, ähnlich "swingten" die Ray Conniff Singers. Schubidubidu und Schalalalala wurden als Scat-Rezitate im Schlager-Genre bekannt und für allerhand Wort-Witze "mißbraucht". Als quasi "kodifiziertes" Scat-Derivat kann (im linguistischen Sinne) das Jodeln gelten ("Holleri-didudl-jöh", vgl. Loriots berühmten Sketch). Mit rund 2,5 Millionen verkaufter Schallplatten berühmt wurde "Scatman" John Larkin (1942-1999), der mit seiner Art des Singens das eigene Stottern therapierte und vielen Leidensgenossen zu helfen versuchte.
    Gustl MAYER ergänzt dazu in einer E-mail vom 14.8.2k2: "Louis Armstrong hat natürlich stilistisch anders gescatted als Dizzy Gillespie der Miterfinder des Bebop) oder Ella Fitzgerald. Sie ist übrigens ein sehr gutes Beispiel für modernen Scatgesang in Titeln wie: Smooth Sailing, Air Mail Special etc. Ella bewegt sich wie ein Tenorsaxophon improvisatorisch durch die changes (Akkordfolgen). Sie variiert zwischen Legato-Passagen und Staccato-Sequenzen, wozu sie spontan die richtigen Konsonanten und Vokale auswählen muß oder die richtigen Silben formen muß. Sie ist darin sicher die Weltmeisterin. Der Trompeter Clark Terry hat eine andere Gesangs- oder Scattechnik entwickelt, die auch nur er beherrscht: "mumbles". Es hört sich an, als würde er sich, halb im Sprechgesang, mit jemanden unterhalten, aber in Wirklichkeit bedeuten seine Silben, für sich genommen, nichts. Aber wenn man das alles im Zusammenhang hört, glaubt man, daß sich zwei Menschen zunächst unterhalten, was im Verlaufe des Titels zu einem Gezänk anschwillt. Wahrscheinlich so, wie er es mit seinen Frauen erlebt hat. Er ist übrigens ein sehr spaßiger und gutmütiger Mensch. Er hat mir im Auto einen von ihm komponierten und getexteten "Italian Blues" vorgesungen. Dieser Text besteht nur aus Namen von italoamerikanischen Musikern, es ist zum Totlachen. Zum Jodeln sei gesagt, daß diese Interpreten/innen von der Brust- in die Kopfstimme überwechseln müssen, das ist ja das Merkmal dieser Musik. Da werden sie aber außer holladiho, holladihü und lalalalala nichts anderes hören. Mit einem normalen Text läßt sich eine solche Technik nicht ausüben, da passen nur ganz bestimmte Silben."
  9. Zur Entstehung des Jazz im allgemeinen und des Frankfurter Jazz-Lebens im besonderen schreibt GM in einer e-Mail vom 26.8.2k2:
    o "[Der Jazz] hat viel mit den Afroamerikanern zu tun, die in der neuen Welt mit abendländischer Musik in Verbindung kamen. Meist ging es um Kirchenmusik und um Tanzmusik der damaligen Zeit wie z.B. Marsch und Polka. Wenn man den Ragtime zum Jazz zählt, dann war Scott Joplin einer der ersten, der in dieser neuen Art komponiert hat. Es war allerdings noch nichts improvisiert bei ihm, er hat alles aufgeschrieben, und seine Kompositionen hatten die Rondo-Form. Das lag daran, daß er einen ausgewanderten deutschen Klavierlehrer hatte, der ihn mit der europäischen Klassik vertraut machte. Scott Joplin war der "King of Ragtime", und wenn Ragtime auch noch nicht unbedingt als Jazzstil gelten sollte, so hat er doch die Entwicklung des Jazz stark beeinflußt. Bekannte Titel von ihm sind der Maple Leaf Rag und The Entertainer, alle schon in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts geschrieben. Der Ursprung, und das steht heute fest, liegt im Süden der USA, in New Orleans. Hier waren offenbar die begabten und richtigen Männer zur rechten Zeit am rechten Ort. Hätte es da aber nicht Louis Armstrong gegeben, so wäre diese Musik womöglich heute nur Folklore in Louisiana. Armstrong hat eigentlich als erster die freie Improvisation über die gesamte Kompositon eingeführt und diese Musik zur Kunstmusik gemacht. Davor gab es nur Breaks von 2 oder 4 Takten, über die die Trompeter improvisierten. Die New-Orleans-Musik war polyphon angelegt. Das heißt: Trompete = Melodie, Posaune = Baßführung; die Klarinette rankte sich um die Melodie. Natürlich war auch das Improvisation, aber man war immer in diese drei gleichberechtigten Linien eingebunden, mußte reagieren auf das, was die Trompete spielte.
    o Frankfurt wurde nach dem Krieg zur deutschen Hochburg des Jazz, das lag auch an mehreren Faktoren, die in dieser Zeit zusammentrafen. Es waren sehr viele amerikanische Musiker als Soldaten hier (Bill Ramsey etc.), und der im Krieg von Carlo Bohländer gegründete Hotclub erhielt, durch Carlos Betreiben, schon am 17.5.1945 die Genehmigung sowohl für Amerikaner als auch für Deutsche, Jazz zu spielen. Das bedeutete: Mittagessen in der mess hall, Zigaretten, Butter, Zucker, Mehl usw.. Jeder, der nur einigermaßen spielen konnte, wollte natürlich mit dabei sein, wenn das "Bärenfell" verteilt wurde. Sie übten alle wie die Wahnsinnigen, nur um mitspielen zu können. Nach zwei, drei Jahren hatte man eine ansehnliche Menge von guten Musikern. Dazu kam, daß Horst Lippmann (1927-1997; => Konzertagentur Lippmann + Rau) schon sehr früh durch seine Kontakte zu Norman Granz und Leonard Feather (beides Musikagenten der besten US-Orchester und Solisten) die wichtigsten Jazzcombos und Orchester nach Frankfurt holte. Damals hatte die amerikanische Truppenbetreuung ihren Sitz im IG-Hochhaus (jetzt Universität). Dorthin kamen, von der Zivilbevölkerung unbemerkt, große Stars und spielten nur für die GI´s. Oft benötigten sie deutsche Begleitmusiker, und so kam es, daß Paul Kuhn, der damals in Wiesbaden wohnte, mit dem seinerzeit bedeutendsten Trompeter Roy Eldridge spielte. Das war 1945/46. Die Frankfurter Musiker hatten dadurch mehr Erfahrung als ihre Kollegen in Köln, Dortmund, Hamburg oder Berlin. Das hat sich aber in den letzten 20 Jahren grundlegend geändert. Es gibt heute überall im Lande Jazzklassen an den Musikhochschulen. Allerdings entstand - wie könnte es anders sein - die erste solche Jazzklasse (und das ist typisch für das weltoffene Denken meiner Mitbürger) an Dr. Hoch´s Konservatorium in Frankfurt, das war 1928; Initiator war der ungarische Komponist Máthyás Seiber [1905-60]. Leider wurde diese Klasse 1933 wieder geschlossen.
    o Frankfurt hat den ältesten Jazzkeller der Welt, der feiert in diesem Jahr (2002) sein 50jähriges Jubiläum. "Jazz im Palmengarten" ist die älteste Jazz-Reihe der Welt. Der Hessische Rundfunk hat weltweit als einzige Rundfunkanstalt seit 1958 ein - von Albert Mangelsdorff geleitetes - Jazz-Ensemble mit 3 Produktionstagen pro Monat."
  10. Zum Thema Mundstück (s. auch die Abbildung oben) GM am 21.8.2k2: "Otto Link war ein Deutscher, der irgendwo in New York eine kleine Werkstatt hatte. Seine Mundstücke waren bald Stadtgespräch. Ben Webster, einer der größten Saxophonisten, hatte bereits eines und wollte, daß Paul Gonsalves, der gerade nach New York gekommen war und von den Kapverdischen Inseln stammte, auch ein Link MS spielen sollte. Sie gingen 3 bis 4 mal zur Werkstatt und nie war Otto L. zuhause. Er trank sich gerne durch die umliegenden Kneipen, aber sie fanden ihn irgendwann und Paul Gonsalves erhielt sein Otto-Link-Mouthpiece und war glücklich. Paul Gonsalves ist auch in die Reihe der größten Saxophonisten einzureihen. Er spielte viele Jahre im Orchester von Duke Ellington. Ende der 60er Jahre war er in Frankfurt mit Duke Ellington, und nach dem Konzert waren wir allesamt bei Albert Mangelsdorff zu Hause.Während der Kater von Albert auf Paul`s Schoß schlief, hat er mir diese Geschichte erzählt. Otto Link hat ein Mundstück immer nur speziell für einen Musiker gemacht, in dem er sich sein Gebiß und die Mundstellung genau ansah. Das wäre heute unbezahlbar. Gonsalves hat sein restliches Saxophonisten-Leben nur mit diesem Mundstück gearbeitet."
    Mundstück-Fotos: WN 3/2k4. Llinks: altes Link-Mundstück von G. Mayer, rechts: Gravur im Link-Millennium (mit blauer Bißplatte) von 2000

5. LINKS  

  1. Jazz-Geschichte
    * allgemein (Wolfram Knauer)
    * Jazz-Almanach / Wikipedia / Wolfram Knauer
    * in den USA
    * Jazz" im 3. Reich
        Wie aus dem "Tiger Rag" die "Tigerjagd im Taunus" wurde (Von Jürgen Schwab, s. FAZ 1.12.2k3)
    * Jazz-Stile (aus einer sehr guten Abhandlung von Shadi Heinrich, geb. 1980)
  2. Liste von Jazzmusikern in Deutschland
  3. Jazz-Institut Darmstadt (Europas größte öffentliche Jazzsammlung)
  4. The Jazz Pages (dt.)
  5. jazzrecords (dt.)
  6. Union Deutscher Jazzmusiker
  7. Europäische Festivals (Auswahl, Links geprüft 12.4.2011):
    Aarhus, DK auch hier * Ascona, CH , * Dortmund, D (UniDo) * Frankfurt, D, * Göttingen, D * Gothenburg (=Gteborg), S , * Haugesund, N * Konstanz, D (Jazzherbst) * Malta * Maribo, DK * North Sea Jazz, 's Gravenhage (Den Haag) * Oslo, N * Rottweil, D * Santorini, GR * Wien, A * Wijchen, NL * Willisau, CH
  8. Sax Battles: Über Tenor Battles und rauchende Colts
  9. Jazz-Improvisation
    * Uni Wisconsin (viele Links)
    * Primer (Marc Sabatella)
    * European Free Improv. Pages, z.B. London Jazz Composers' Orchestra
    * JazzClass (Australia)
    * for beginners / Improvisation auf Melodie-Instrumenten
  10. Saxwelt - Die ganze Welt des Saxophons
  11. Geschichte des Saxophons
  12. Zur Technik des Saxophons
  13. Tips zur Mundstück-Auswahl * Link-Mundstücke in Großaufnahme
  14. Saxophon-Service (mit vielen aufschlußreichen Bildern)
  15. Vintage Saxophone Page (A short and incomplete history of Selmer Saxophones)
  16. Bamboo Saxophones ("I saw this "Bamboo Saxophone" a couple of years ago in the streets of Cologne. The designer named it "Xaphon" and it was really a flute with holes. It was about 30 cm long with a diameter of aprox. 3 cm. Instead of the normal flute mouthpiece, the "inventor" had attached an original saxophon mouthpiece. Meanwhile, I have learned that it is this clamped little bamboo or plastic piece  which gives the saxophon it's typical sound. Considering this, it's then not so astonishing as it appears in the first moment to produce a sax sound on a flute." Siegfried Naruhn, SNaruhn@t-online.de) 

6. LITERATUR (einige ausgewählte Werke)

  1. Behrendt, Joachim Ernst: Ein Fenster aus Jazz. Ffm (Fischer) 1978
  2. Behrendt, Joachim Ernst: Das Jazzbuch. Frankfurt am Main, 2005
  3. Bielefelder Katalog Jazz 1999 auf CD-ROM
  4. Burbat, Wolf: Die Harmonik des Jazz. 178 S., zahlreiche Notenbeispiele. dtv 1998
  5. Carlo Bohländer / Karl Heinz Holler / Christian Pfarr: Reclams Jazzführer. Reclam. 2000
  6. Dauer, Alfons M.: Knaurs Jazz Lexikon. München/Zürich 1957
  7. Dyer, Geoff: But Beautiful. Ein Buch über Jazz. Argon Verlag, Berlin 2001 (dazu 3 CDs: Roof Music, Bochum 2004
  8. Fordham, John: Das große Buch vom Jazz. Musiker, Instrumente, Geschichte, Aufnahmen. 2004
  9. Hochheim, Matthias: Saxwelt: Das deutsche Saxophonbuch. Ausführliche Seriennummernlisten, Das C-Melody, Die Geschichte des Saxophons und dessen Hersteller. 2004
  10. Jacobs, Michael: All that Jazz - Die Geschichte einer Musik. Stuttgart, 1996 (überarbeitete Auflage 2007)
  11. Jost, Ekkehard: Free Jazz. Da Capo Press, 1994 (hier Rez.)
  12. Jost, Ekkehard: Sozialgeschichte des Jazz. Frankfurt am Main, 2003
  13. Kernfeld, Barry: (Hg.): The New Grove Dictionary of Jazz. 3 Bände. 2. Aufl. London/New York 2001
  14. Kunzler, Martin: Jazz Lexikon . 2 Bde., HH (rororo) 1988; auch: Rowohlts Jazz-Lexikon. 1999
  15. Wölfer, Jürgen: Lexikon des Jazz. 1999
  16. Liste von 100 Büchern und CDs zum Jazz

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Teile 1, 2, 3, 5, 6, Links und Fotos (c) Dr. W. Näser, MR * Stand: 1.11.2018
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