Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * SS 2002

Heißenbüttel, Helmut (1921-1996): Bericht über eine Tagung der Gruppe 47 (1956)
in: Texte und Zeichen, hg. von Alfred Andersch, zweites Jahr 1956, 654-656

HH wird am 21.6.1921 in (Wilhelmshaven-) Rüstringen geboren; bis 1940 in Papenburg, im 2. Weltkrieg verliert er den linken Arm.
"Kein Beruf. Verheiratet. Amputation des linken Armes (1941 Rußland) und Lebensunterhalt durch Kriegsversehrtenrente. Studium (versucht): Architektur. Studium (durchgeführt): Deutsch und Kunstgeschichte. Erinnerung an verschiedene Städte: Wilhelmshaven (1921 bis 1932), Papenburg (ab 1933), Krefeld (als Soldat), Dresden und Leipzig (bis 1945), Hamburg (nach 1945). Schreibend seit dem 15. Lebensjahr, unregelmäßig. Frühe Einflüsse: Strindberg und George. Einfluß durch Abwehr: Rilke. Als Lehrer zu bezeichnen: Kassner, Ernst Jünger, Rudolf Borchardt, Adorno und Wittgenstein. Spätere Einflüsse: Benn, Pound, Arp, Brecht. Lieblingslektüre: Bilder von Klee und Picasso; Tristram Shandy, Lichtenberg, Flaubert, Faulkner und Kino." (H.H., "Stenogramm 1954")

Nach dem Studium (s.o.) beteiligt er sich seit Anfang der 50er Jahre an den Treffen der Gruppe 47 (=> Text), arbeitet 1955-57 als Werbeleiter und Lektor in Hamburg, 1957-1981 beim Süddeutschen Rundfunk Stuttgart, zunächst als Mitarbeiter von Alfred Andersch, ab 1959 als Leiter des Radio-Essay, später auch im Studio für neue Literatur und Autoren-Musik. Danach Umzug nach Borsfleth / Schleswig-Holstein. 1996 Ausstellung von Zeichnungen und Collagen in der Freien Akademie der Künste in Hamburg. Nach zwei Schlaganfällen und mehrjährigem Leiden stirbt er am 19.9.1996 in Glückstadt.

Werke: Neben literarischen Arbeiten zahlreiche Essays, Hörspiele (z.B. Marlowes Ende, WDR 1971), Rezensionen, Vorträge, Vorlesungen, Zeitschriftenaufsätze, Klappentexte für Kriminalromane, Arbeiten zu Kunst und Musik.
Auszeichnungen u.a.: 1969 Büchnerpreis der Dt. Akademie für Sprache und Dichtung, 1979 Bundesverdienstkreuz, 1984 Literaturpreis der Stadt Köln, 1990 Kunstpreis des Landes Schleswig-Holstein und Österreichischer Staatspreis für europäische Literatur.

Heißenbüttel könnte man als modernen Architekten der Sprache bezeichnen; klare, überschaubare Formen entstehen durch grammatische Reduktion. Seine Aussagen stoßen an ihre Grenzen, seine Texte versteht er als "formelhafte Destillate der Erfahrung und des Gedankens, Bruchstücke am Rande des Verstummens", er schafft abstrakte Wortlandschaften als Parallelen abstrakter Malerei, ordnet sie nach Perspektive, Gerüst und Geometrie. W.N.


Eine Tagung ist eine Tagung. Eine Tagung der Gruppe 47 ist eine Tagung der Gruppe 47. Warum ist eine Tagung der Gruppe 47 eine Tagung der Gruppe 47? Weil es die Gruppe 47 gibt. Es hat einmal angefangen sie zu geben: es gibt sie immer noch. (Anmerkung: Manchmal hatte er keine Lust mehr hatte er schon daran gedacht keine Einladungen mehr zu verschicken war er wie er sagte mutlos oder unzurechnungsfähig.)

Zu einer Tagung der Gruppe 47 versammeln sich die Mitglieder der Gruppe 47. Einwand: Es gibt keine Mitglieder der Gruppe 47. Gegenargument: Mitglied der Gruppe 47 sein heißt eine Einladung zur Tagung der Gruppe 47 bekommen. Frage: Wer verschickt die Einladungen? Antwort: Hans Werner Richter. Folgerung: Es gibt nur ein Mitglied der Gruppe 47: es gibt Listen die dieses eine Mitglied der Gruppe 47 verwahrt hütet in Einladungen verwandelt.

Wenn es keine Mitglieder der Gruppe 47 gibt so gibt es doch Teilnehmer an Tagungen der Gruppe 47. Der Bestand der Teilnehmer fluktuiert. Es gibt solche die einmal eingeladen werden und solche die wieder eingeladen werden. Es gibt solche die eingeladen werden und kommen und solche die eingeladen werden und nicht kommen. Manche schicken Telegramme während der Tagung in denen sie ihre Nichtteilnahme bedauern. Es gibt eine kleine Gruppe von telegrafisch bedauernden Nichtteilnehmern. (Anmerkung: Auch diese Gruppe fluktuiert.)

Die Teilnehmer an einer Tagung der Gruppe 47 sind grundsätzlich in zwei Untergruppen zu teilen: in Autoren und Kritiker. Autoren lesen vor. (Anmerkung: es gibt auch Autoren die nicht vorlesen.) Kritiker kritisieren. (Anmerkung: es gibt auch Autoren die kritisieren: es gibt auch Kritiker die Autoren sind. (Anmerkung zur Anmerkung: selten.))

Es gibt auch eine dritte Untergruppe von Teilnehmern: das sind die Rundfunk- und Verlagsvertreter. Die Mitglieder dieser Untergruppe wären am besten als Parasiten der Tagung zu bezeichnen. Sie suchen Sende- bzw. Verlagsobjekte. Sie machen Verträge Abschlüsse oder nur Versprechungen. Manchmal kommt auf jeden Autor ein Vertreter. (Anmerkung: Es gibt auch Autoren die Rundfunk- oder Verlagsvertreter geworden sind. Es gibt auch Rundfunk- oder Verlagsvertreter die Autoren sind. (Anmerkung zur Anmerkung: Gelegentlich.))

Eine Tagung der Gruppe 47 besteht grundsätzlich aus zwei Teilen: den Vorlesungen und den Nachtsitzungen. Die Vorlesungen werden als Arbeit: die Nachtsitzungen als Vergnügen bezeichnet. Frage: was ist anstrengender?

Die Vorlesungen bestehen wieder aus zwei Teilen: den eigentlichen Vorlesungen und den Kritiken dieser Vorlesungen. Zur eigentlichen Vorlesung setzt sich der Autor auf einen abgesonderten Platz und liest vor. Die Absonderung von den übrigen Mitgliedern bezeichnet ihn für die Zeit seiner Absonderung als Objekt. Das Objekt darf geschlachtet dekoriert eingestuft zerlegt und wieder zusammengesetzt werden. Diejenigen die diese Tätigkeiten ausüben sind die Kritiker. Sie sind nicht abgesondert. Sie treten zu mehreren auf. Das Objekt wird ihnen offiziell ausgeliefert. Es darf sich: soll sich aber nicht wehren. Die Gesamtheit dessen was die Kritiker an Sätzen Meinungen und Überzeugungen über den objektivierten Autor zusammentragen wird als Objektivität der Kritik bezeichnet. (Anmerkung: Manche Kritiker versuchen nachzuvollziehen. Sollen sie aber nicht. Manche Kritiker haben Antennen. Diese sind dadurch gekennzeichnet daß sie nicht funktionieren.)

Es gibt einen Mittelpunkt der Tagungen: sichtbar während der Vorlesungen: das ist der Diskussionsleiter. Er wird ebenfalls abgesondert. Jedoch nicht als Objekt sondern als höheres Subjekt: als das subjektive Bewußtsein: als das auf sich selbst zurückreflektierende Selbstbewußtsein der Gruppe 47. Es lenkt lenkt ein leitet leitet über vermittelt subsummiert ruft zur Ordnung und macht grundsätzliche Bemerkungen. Wenn das Ganze ein Schiff ist ist er der Kapitän. Wenn das Ganze ein Schachspiel ist ist er der König. (Anmerkung: es gibt noch einen zweiten geheimen Mittelpunkt: das ist Frau Richter. Wenn das Ganze ein Schachspiel ist ist sie die Königin.)

Die Vorlesungen füllen den Tag aus: die Nachtsitzungen die Nacht. An den Nachtsitzungen nehmen nicht alle Teilnehmer teil. Es soll Teilnehmer geben die die ganze Nacht schlafen. Nachtsitzungen fangen an und enden meist als Splittergruppenverschwörungen. Die Anfänge zeichnen sich durch stummes Trinken und Wortkargheit aus: die Abschlüsse durch Gesangsdarbietungen und akrobatische Übungen. Es kann: soll aber nicht: zu Exzessen kommen. Im Mittelteil wird gelegentlich getanzt.

Der Abschluß der Tagung ist dadurch gekennzeichnet daß einige Teilnehmer früher abreisen. Das offizielle Ende der Tagung besteht in dem von Hans Werner Richter gesprochenen Satz: Die Tagung der Gruppe 47 ist hiermit beendet. Abreisende kursieren um Nochnichtabreisende. Die Tagung der Gruppe 47 ist eine gewesene Tagung der Gruppe 47. Die gewesene Tagung der Gruppe 47 bedeutet eine Erinnerung an die Tagung der Gruppe 47. Die Erinnerung an die Tagung der Gruppe 47 bedeutet eine Erinnerung an die Gruppe 47. (Anmerkung: die ausdrücklich weiterlebt.)

Wird ergänzt * HTML (anstrengende Abschrift), Layout, Ergänzungen: (c) Dr. W. Näser, MR 20.7.2002