Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser, Marburg, SS 2002 ff.

Henze, Hans Werner (*1926): Hinweis auf Luigi Nono (1956)
in: Texte und Zeichen, hg. v. Alfred Andersch, 2. Jahr 1956, 461 f.

Der vielfach geehrte Komponist wurde am 1. Juni 1926 als Sohn eines Dorfschullehrers in Gütersloh (Westfalen) geboren; ab 1942 Studium an der Staatsmusikschule Braunschweig; 1944 Arbeits- ujnd Militärdienst; 1945 nach engl. Kriegsgefangenschaft Korrepetitor am Stadttheater Bielefeld; 1946 Studien am Kirchenmusikalischen Institut in Heidelberg und bei Wolfgang Fortner; 1948 Musikalischer Mitarbeiter Heinz Hilperts am Deutschen Theater Konstanz; 1950 Künstlerischer Leiter und Dirigent des Balletts des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden; 1953 Übersiedlung nach Italien (Ischia, Neapel); 1960 ständiger Gastdirigent des Berliner Philharmonischen Orchesters; 1960-68 Mitglied der West-Berliner Akademie der Künste; 1962-67 Meisterklasse für Komposition am Mozarteum Salzburg; 1963 => Castel Gandolfo; 1964 Mitglied der Bayer. Akademie der Schönen Künste; 1966 => Marino (südl. Rom); 1967 Gastprofessur am Dartmouth College New Hampshire, USA; nach 1966 fundamentale Identitätskrise, Neuorientierung, Bekenntnis zur polit. Verantwortung des Künstlers. Henze beteiligt sich an der Anti-Vietnamkriegs-Bewegung in Berlin, schreibt Musik über politische Texte (Das Floß der Medusa, 1968 (The Raft of the Frigate Méduse, "Uraufführung mit integriertem Skandal"); El Cimarrón, 1969; Voices, 1973; We come to the river, 1975). 1968 Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Künste der DDR, Ost-Berlin; 1969-70 Lehrtätigkeit und Studien in La Habana, Cuba; 1976 Gründung des Cantiere Internazionale d'Arte in Montepulciano; 1980-91 Professur (Kompositionsklasse) an der Staatlichen Hochschule für Musik in Köln; 1981 Künstlerischer Direktor der Accademia Filarmonica Romana; Gründung der Mürztaler Musikwerkstätten, Mürzzuschlag (Steiermark); 1983 Korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt; 1983 Composer-in-Residence beim Cabrillo Music Festival in Aptos/Californien; Leitung der 3. Mürztaler Musikwerkstatt; 1984 Gründung des Deutsch-Landsberger Jugendmusikfestes (Steiermark); 1987 International Chair for Composition an der Royal Academy of Music, London; 1988 Gründung und künstlerische Leitung der Münchener Biennale, Internationales Festival für neues Musiktheater, (wie 1983) Composer-in-Residence am Berkshire Music Center in Tanglewood/Mass. (USA); 1989 Leitung der "Gütersloher Sommerakademie Hans Werner Henze"; 1991 Composer-in-Residence beim Berliner Philharmonischen Orchester und Fellow des Wissenschaftskolleg zu Berlin für 1991/92; 1992 Mitglied der Academia Scientiarum et Artium Europaea, Salzburg

Henze, "der sich von der Tagesmode absetzte [...], ohne mit der Avantgarde zu brechen", schuf  "virtuose Musik voller Ausdruck und Leben" (dtv-Atlas zur Musik, 557).

Werke u.a.: Kammerkonzert (1946), OpernEin Landarzt (1951; nach F. Kafka); Der Idiot (1952),  Boulevard Solitude (1952; Prévost/Weil), König Hirsch (1955/63; Gozzi/Cramer, => Bild rechts aus dtv-Atlas zur Musik, 556), Der Prinz von Homburg (1960; H.v. Kleist / I. Bachmann); Elegie für junge Liebende (1961; W.H. Auden), Der junge Lord (1964; I. Bachmann), Die Bassariden (1966; W.H. Auden); La Cubana (1975; H.M.Enzensberger); Il pollicino (1980); Die englische Katze (1982), Das verratene Meer (1990); BalletteMaratona di danza (1957; E: Visconti), Undine (in 3 Akten, 1958), Orpheus (1978; nach Monteverdis Ritorno d'Ulisse in Patria); 10 Symphonien, Orchesterstücke, Konzerte, Lieder, Kammermusik.
Texte: Musik und Politik. Schriften und Gespräche 1955-1975, München 1976 (auch: Music and politics: collected writings, 1953-81, by H.W. Henze + Peter Labanyi); Neue Aspekte Der Musikalischen Ästhetik III. Frankfurt/M (1986); Reiselieder mit böhmischen Quinten. Autobiographische Mitteilungen, Frankfurt/M. 1996; Bohemian Fifths: an Autobiography. Princeton, NJ (1999) .

Preise und Ehrungen: 1951 Robert-Schumann-Preis der Stadt Düsseldorf; 1953 Premio RAI; 1956 Sibelius Gold Medaille, London 1957 Großer Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen; 1958 Preis der Musikkritik Buenos Aires; 1959 Großer Kunstpreis Berlin; 1961 Niedersächsischer Kunstpreis Hannover; 1971 Ehrendoktor der Musik der Universität von Edinburgh; 1975 Ehrenmitglied der Royal Academy of Music, London; 1976 Ludwig-Spohr-Preis der Stadt Braunschweig; 1980 Preis der Stadt Positano; 1982 Ehrenmitglied der Deutschen Oper Berlin und der American Academy and Institute of Arts and Letters, New York; 1983 Bachpreis der Freien und Hansestadt Hamburg; 1990 Ernst von Siemens Musikpreis; "Apollo d'oro", Bilbao; 1991 Preis des Internationalen Theaterinstituts (ITI) Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland; Medaille "München leuchtet" in Gold; Ehrenmitglied der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM); 1995 Musikpreis der Stadt Duisburg in Verbindung mit der Köhler-Osbahr-Stiftung; Accademico Onorario der Accademia Nazionale di Santa Cecilia, Rom; 1996 Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe; Kultureller Ehrenpreis der Landeshauptstadt München; Ehrendoktorwürde der Universität Osnabrück ; Ehrenbürger der Stadt Montepulciano; President of the Contemporary Opera Studio, English National Opera; 1997 Cittadinanza onoraria di Marino; Hans-von-Bülow-Medaille der Berliner Philharmoniker; 1998 Bayerischer Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst; Honorary Fellow of the Royal Northern College of Music, Manchester; Premio Abbiati 1998 der Associazione Nazionale Critici Musicali; 2000 Praemium Imperiale, Tokyo; 2001 Cannes Classical Award in der Kategorie "Best Living Composer"; Deutscher Tanzpreis 2001; 2002 "Laurence Olivier Award 2002" in der Kategorie "Best New Opera Production"


Hinweis auf Luigi Nono

In seinen ersten Werken schon wird ein Tenor deutlich, ein heller Ton, der mit der Zeit immer weiter geworden, höher und tiefer gedrungen ist. Die erste Komposition, die in Deutschland zu hören war, Variazioni (1949), deren Härte schwer gegen die Stirnen der Hörer schlug (die Betroffenen pfiffen wie im Schmerz oder stießen Klagerufe aus) ist voll von Lauten, wie Vogelrufe im venezianischen Winter, wie Menschenstimmen bei Nacht.

Wie er aufgewachsen war, einsam, verschlossen und stolz, trägt er hochaufgerichtet, in fremdartiger Schönheit, in den Calli seiner geliebten Vaterstadt seine ernsten Gedanken und Gefühle einher. Menchmal denke ich, er sei der König Hirsch, auch wegen der Hoffnung auf ein Leben in Güte und Wahrheit - jener König Hirsch, der still und unansprechbar die Weite seines Schmerzes ausmißt, mit ruhigen Schritten brückauf, brückab gehend, in einer Gasse sich verlaufend, auf eine unerwartete Piazza hinaustretend, und immer verwundert und bis zur Wortlosigkeit betroffen von dem Ausmaß an Unrecht, das sein Land beherrscht. Auch scheint mir, daß seine Musik geradewegs hinter seinen Augen entspringt, aus dem Puls oder aus dem Zentrum seines Seins; sie ist, mehr noch als der hoch, schnell und leise herausgestoßene venezianische Dialekt, dessen er sich bedient, seine Sprache. Und der unverwechselbare Schatz seiner Ausdrucksmittel - die frenetischen Tremoli, die Stöße der Trompeten, Warnruf eines Waldhorns, hartes Zuschlagen der Batterie, die unmeßbaren Sekundenbruchteile zwischen einem leisen Laut und einem schweren Ausbruch, feine zarte Bögen, die das Orchester durchziehen, Fragmente von Melodien, die zerbrochen scheinen und ein ganz besonders expressiver rhythmischer Zwang - dies alles sind Abbilder der klaren Gedanken in seinem menschlichen und gesellschaftlichen Konzept.

Obwohl er mit viel Sinn für formale Prozesse begabt ist und seine Werke mit strengen Regeln untermauert, käme es ihm doch nie in den Sinn, die Musik anders aufzufassen als einen dem Leben gehörenden Ausdruck, notwendig zum Aufruf, zur Klage, zur Anklage und zum Lobe. Seine Garcia-Lorca-Trilogie, die ihm die Ablehnung einer ganzen Gruppe von fanatischen Zwölftonkomponisten eingebracht hat, gibt das klarste und schönste Zeugnis von seiner Persönlichkeit.

Vor allem möchte ich von der Romance de la Guardia civil espanola sprechen, die mich beim ersten Hören so sehr berührt hat, daß ich nie aufhören möchte, daran zu denken und mich zu erinnern. Seit meiner ersten Begegnung mit dem Violinkonzert von Alban Berg und dem Opus 31 von Schönberg gleich nach dem Kriege hatte ich nie mehr wieder durch neue Musik einen solchen Moment der Verzauberung erlebt.

Bei dieser Romance handelt es sich um eine Komposition für Sprecher, Sprechchor und Orchester. Am Ende, wenn die Faschisten das Zigeunerlager ausgerottet haben, beginnt der Chor auf die fünf Töne der Gitarre zu singen:

oh ciudad de los gitanos!
quién te vio y no te recuerda.
que te busquen en mi frente.
juego de luna y arena,

- einen einstimmigen Gesang, der gleichsam das Siegel der Verschwiegenheit bricht. Im Anfang, da war das nahe und ferne Tönen von Stimmen, die Tamburins, die Faschistentrommel, Instrumentalzwischenspiele, die von einem Punkt des Berichts zum andern hinüberleiten, und dann ist da, gleich im ersten Zwischenspiel, jener Moment der Entrückung, eine Melodie, die sich schwebend und doch fest von dem Hintergrund ihres Echos abhebt, ein fremdes Lied, das sehr neu ist in seiner zeitlichen Unbestimmbarkeit, eine Tonfolge, den klar definierten Grund-Ton umkreisend, in langsamen Rückungen auf- und absteigend, präzis, unveränderbar, ohne Fehl.

Vor dem einfachen Leben, der unvorhergesehen musikalischen Gestalt dieser Melodie, die stärker ist als Beweise, zerfällt in Nichts alles, was mit mühseligen Akademismen und exklusiven Theorien zu tun hat; sie enthält weder eine Prophezeiung, noch eine neue Doktrin, sie ist nur ein, vielleicht sogar geringfügiger, musikalischer Vorgang, der verstehen läßt, daß nichts schon feststeht und daß neue Musik auch neu sein kann, wenn sie nicht in einem modischen Gewand auftritt.

Aber davon wollte ich gar nicht sprechen. Ich wollte nur anf die Partiturseite zehn in Nonos Romance hinweisen, weil, was dort vorgeht, zu weit oben hinaus ist, als daß es noch in Beziehung zu einer »Schule« gebracht werden dürfte, selbst wenn es nur geschähe, um den Abstand zwischen einer Idee und einer Machenschaft abzumessen.

Wird ergänzt * HTML (Abschrift /Scan), Layout, Vorwort, Ergänzungen (c) Dr. W. Näser, MR, 21.7.2k2 ff.