Internationaler Sommerkurs der Philipps-Universität Marburg 1986

Der Garten des Menschen
Gärten, Landschaften und Probleme mit der Ökologie in der Bundesrepublik

Materialien [hier: Vorwort] zum Vortrag "Die deutschen Dialekte" von Dr. Wolfgang Näser (Marburg) am 17. Juli 1986, Ernst-von-Hülsen-Haus

Nach Carl von Linné, de Vries und anderen gliedert sich die belebte Natur in Gattungen, Sammelarten und Elementararten.

Die Natur: ein blühender Garten. Ähnliches gilt aber auch für die Sprachen. Auch hier könnte man untergliedern in Gattungen (=Nationalsprachen, Muttersprachen), Sammelarten (=Regionaldialekte) und Elementararten (=Lokaldialekte).

In einem anderen Bild erscheint eine Sprache, z.B. Deutsch, als Garten mit vielen Pflanzen (z.B. dem zentralhessischen Regionaldialekt), wobei einzelne Pflanzen wiederum variieren in Größe und Farbe (z.B. die mittelhessischen Orts-Mundarten im Raum Marburg). So zeigt sich uns die deutsche Sprache als ein bunter Garten. Deutsch wird gesprochen in der Bundesrepublik Deutschland, der DDR, in Österreich, im deutschsprachigen Teil der Schweiz und in  den deutschen Sprach-"Inseln" anderer Länder (z.B. YU, Rumänien, UdSSR, USA).

Daß eine Sprache nicht überall gleich gesprochen wird, daß es also Dialekte gibt, erkannte man schon im Altertum. Von griech. diálektos 'Unterredung', dialégesthai 'sich unterhalten' kommt unser Dialekt. Um 170 v. Chr. erwähnt Terenz den dialectos Aeolica als Variante des klassischen Griechisch. Etwa um 600 n.Chr. entstand - als "germanischer Dialekt" - das Deutsche. Die Konsonanten /p/, /t/ und /k/ (wie in engl. pipe, token, cake) wandelten sich, vom Süden her, nicht überall zu hochdeutsch /pf/, /ts/ oder /s/ und /ch/ (wie in hd. Pfeife, Zeichen, Kuchen), und durch diese Inkonsequenz entstanden unsere deutschen Dialekte. Im Süden, wo im Anlaut, Inlaut und Auslaut /p/, /t/ und /k/ fast ausnahmslos verschoben werden, spricht man oberdeutsch, weiter nördlich, in einem breiten Streifen bis weit nach Osten, wo die Laute nur zum Teil umgewandelt werden, spricht man mitteldeutsch, und im Norden, wo es Pipe (Pfeife), Tiit (Zeit) und Koken (Kuchen) heißt, da wird niederdeutsch gesprochen.

Bis 1945 gab es etwa 30 Haupt-Mundartgebiete mit vielen hundert Unter-Dialekten. 1641 entstand der Begriff Mundart., der heute synonym mit Dialekt ist. Hugo von Trimberg, ein mittelhochdeutscher Ependichter, nannte in seinem "Renner" (um 1300) die Dialekte "Landsprachen".

Dialekte unterscheiden sich in Lautung (Phonologie/Phonetik), Flexion und Wortbildung (Morphologie), Lexik (Wortschatz), Phraseologie (Idiomatik) und (nur teilweise) Syntax (Satzbau) als landschaftliche (regionale) oder örtliche (lokale) Varianten von einer staatlichen oder überstaatlichen Gemeinsprache.

Unterscheidet man (im Sinne einer Typologie) verschiedene Ebenen oder Stufen einer Sprache (wie sie von verschiedenen sozialen Schichten gesprochen werden oder in bestimmten Kommunikations-Situationen), so ergibt sich etwa folgende (aufsteigende) Anordnung:
1. Slang, 2. Dialekt, 3. Umgangssprache/Halbmundart, 4. Standardsprache, 5. Hoch- oder Bühnensprache. Nur (3) bis (5) werden auch schriftlich gebraucht, wenn wir von der Mundartdichtung absehen. Schon oft wurde behauptet, daß die Dialekte aussterben. Doch sie leben fort und sind heute, mehr als je zuvor, Sprache der Solidarität.

(c) W. Näser, Marburg 6/1986