Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser, Marburg, SS 2002 ff.

Jacobi, Lieselotte (* 1929): Schritt für Schritt
(erschienen 2002; mit freundll. Genehmigung der Autorin)

Im "Märchenwald" des Hauses Spöktal lerne ich die Autorin am 16. September 2003 kennen. "Hier ist die Welt zu Ende, mein Herr." An einem kleinen Waldhaus ruht sie auf einer Liege; ihr elektrischer Rollstuhl wartet zwei Meter weiter rechts. Ich sei Künstler, vermutet sie. Nicht ganz, entgegne ich, doch ein wenig vielleicht wegen meiner vielen Live-Tonaufnahmen von Konzerten und den damit verbundenen Empfindungen und Aktivitäten. Sie sei Kantorin gewesen, habe Orgel gespielt und auch Soli in Kantaten gesungen - so beginnt ein langes, wunderbares und sehr aufschlußreiches Gespräch, an dessen Ende ich zwei kleine Bücher1) erwerbe. "Schritt für Schritt", mit viel Liebe und Können von der Autorin illustriert, ist meine erste Lektüre, und hieraus stammt der folgende Text. "Lilo" (wie sie von allen genannt wird) skizziert ihre Lebens- und Leidensgeschichte. Gerade mal 17 Jahre jung, verspürt sie die ersten Anzeigen der Multiplen Sklerose, die sie mit 28 Jahren zur Aufgabe ihres Kirchenamtes zwingt und, in Begleitung anderer Krankheiten, die tapfere Frau bis heute begleitet - in vielen kräftezehrenden Stationen, die sie nur dank der Kraft ihres klaren Geistes übersteht. Als Enkelin des Warener Zeitungsverlegers Ernst Reimers sen. in der Hansestadt Rostock geboren, lebt sie seit 1980 in Bispingen und verbringt die schönsten Monate regelmäßig in der Geborgenheit des Spöktal-Waldes der Familie Marold, die sie umsorgt. Ohne Übertreibung darf ich hinzufügen, daß mich die Begegnung mit dieser wunderbaren Frau tief beeindruckt hat. W.N.


Wieder heimgekehrt

Halt ein! Du hast wohl gar nicht bemerkt, dass die Erde schon zarte Risse bekommt und die Krokusse hervorgucken? Wer weiß denn, dass Hartmut für mich die kleine Waldhütte "Eiche" renoviert hat? Ich bin sehr gespannt auf diesen Platz mitten im Wald in einer Ein-Raum-Hütte. Und wieder freut sich meine Lunge bis Ende September.

Wer sich noch freut? Das ist "Koko", der Waschbär. Manche Gäste behaupten, er sei meiner. Von allen Tieren hier im Spöktal gehört mir auch nicht eines.

Der Waschbär sitzt in einem meiner Gartenstühle über Nacht und zeigt mir: "Dies ist mein Wald". Er lässt Sand und Kiefernnadeln zurück. Er entwendet mir alles, was ihm gefällt: einen Hausschuh, ein kleines Kissen, eine Decke, eine Bürste, Gummistiefel von Gästen. Manchmal findet Inga etwas wieder.

Der Siebenschläfer wohnt im Dach und fragt nicht, ob er darf. Er hat ein gutes Gewissen, weil er doch nicht der Sprache mächtig ist.

Anders ist es mit den Eichelhähern. Sie halten zwischen drei und vier Uhr nachmittags ihren Konvent ab. Sie schreien sich an, beschimpfen einander, sind sehr unhöflich. Einer fällt dem anderen ins Wort. Öl und Eukalyptus verachten sie. Darum bekommen sie ihre Stimmen nie wieder klar. Heiserkeit wäre ihr Adel, sagten sie neulich zum Zaunkönig und krächzten auf ihn ein.

Der junge Fuchs zeigt sich morgens, hier neben dem Rhododendron, wartet, dass ich aus dem Haus schaue. Ich begrüße ihn, frage, wie's zu Hause geht. Ihm selber geht es gut. Das sehe ich ihm an. Er steht so ruhig da, sieht mich an und sagt: "Ich komme gerne mal vorbei. Meine Mutter schickt mich. Ich soll mich bei dir zeigen. Sie meint nämlich, du würdest dich über die Farbe und den Glanz meines Felles freuen. Ich wäre doch ihr schönstes Kind." - "Ja, sie hat recht. Dein Fell erfreut mein Herz und meine Sinne. Du bist ein Prachtstück. Willst du nicht gehen?" - "Nein, noch nicht." Er wiegt seinen Kopf mal nach rechts, mal nach links. Sieht mich unentwegt an. "Deine Mutter wartet." Schon ist er verschwunden.

Die Rehe kommen zweimal täglich vorbei. "Das ist doch gestattet?" fragt das etwas scheuere Reh, "du frisst dieses Blattwerk ja doch nicht. Übrigens weiß unsere ganze Familie, dass du keine Flinte hast. Hahaha!"

Das andere, frechere, erpresst mich. "Fünf Rosen für einmal Petzen." Wenn ich es weitersage, kommt Hartmut mit der Chemie daher! "Zwei Rosen für keinmal Petzen, nur so aus lauter Freundschaft. Bedenke doch: pflückst du dir zwei Rosen: Was hast du davon? Nur Arbeit! Vase suchen, Wasser geben, Stiele kürzen. Nachts fallen die Blütenblätter auf die Erde. Aufsuchen, Rest hinter's Haus werfen, Wasser wegschütten ... Ich zupfe, äse und habe das Vergnügen auf der Zunge!" Ja, das sehe ich ein und überlasse dem Reh meine Rosenknospen.

Mit dem Waschbären hat alles seine besondere Bewandtnis. Er wohnt in nächster Nachbarschaft. Er ist ganz sicher, dass die vielen Holz- und Reisighaufen extra für ihn hingeschafft wurden. Außerdem muss er jeden späten Abend hier vorbei, wenn er mit seiner Nachtschicht beginnt. "Ich weiß", sage ich zu ihm, "du bist ja auch mein Freund. ich bewundere dein schönes, weiches Fell, die schwarzen und weißen Muster darin. Kein Tier hat diese Besonderheiten in seinem Gesicht, an seinem Schwanz, wie du! Stinkst du nicht und bist du auch nicht von Ungeziefer befallen?" Er weckt mich mitten in der Nacht. Sitzt in der Fensterbank und schaut mir beim Schlafen zu. Ich lasse mich nachts nicht sprechen. Das geht zu weit. "Los, hau ab!" Er bleibt. Nun zische ich ihn an, benehme mich tierisch. Fauche und beuge mich vor. Er verschwindet. Keine Banane bekommt er mehr von mir. Dann werde ich ihn nicht wieder los, wenn die herumliegen.

Warum die Füchse nachts bellen, weiß ich nicht. Es hört sich schaurig an. Sollen sie bloß weit genug entfernt bleiben ud den Streit unter sich abmachen.

Wenn der Specht unaufhörlich klopft, ist es Zeit zum Aufwachen. Die Eichhörnchen sind schon beim Frühsport. Sie rennen die Kiefern hoch und runter. Spielen Haschen. Dabei quietschen sie und knurren, kreischen und lachen. Auf dem Waldboden verstreut liegen die dünnen, blattzarten, rotbraunen Schuppen von der Kiefernrinde. (...)

Im Winter lebe ich in meiner Wohnung in Bispingen. Hier stürmt es heute und regnet den ganzen Tag über. Das Wasser rinnt unaufhörlich durch die Dachrinne. Und die Zeit vergeht, rinnt schnell, unaufhaltsam dahin. Es wird etwa zweihundert Tage dauern, dann kann ich wieder ins Spöktal zurückkehren, und das halbe Jahr Einsamkeit wird wie die Abendsonne von gestern längst im Dunst versunken sein. (...)

Wie ein Baum sein

Wie ein Baum sein - kann man das?
Wir sind Menschen, beweglich, angelegt zur Fortbewegung.
Wir können davonlaufen, wenn es uns irgendwo nicht gefällt.
Ein Baum ist geduldig und muss aushalten.
Ein Baum steht ewig. So sagen wir.
Ein Baum wird schon mal vom Blitz getroffen.
Ein Baum ist verwundbar und kann erkranken.
Ein Baum wird abgeholzt, wenn er nichts taugt.
Ein Baum kann vom Orkan entwurzelt werden oder, wenn er hohl geworden ist, einfach vom Sturm zusammenbrechen, dass man sein vermodertes Holz zersplittert und pulvrig im Gras liegen sieht.

Ein Mensch ist kein Baum. Aber er liebt den Baum. Er braucht den Baum zum Atmen, und er gebraucht seine Früchte, sein Holz. Der Baum ist sein Freund. Eine Gabe des Schöpfers - ehe der erste Mensch zu atmen anfing.

Der Baum ist etwas durch und durch Lebendiges und Beständiges, In-sich-Ruhendes, Wachsendes. Ein Sinnbild für das Werdende.
Seine Wurzeln geben ihm Halt. Er wächst in die Höhe und in die Tiefe. Ins Sichtbare und Unsichtbare.

Auch was ein Mensch zeigt, ist sein Ganzes. Man muss schon danach graben, vorsichtig wie ein Gärtner, will man ihn verstehen.
Ein Baum braucht Raum für seine Wurzeln, manchmal nur einen Felsspalt. Wie tröstlich.
Wir halten uns sein Stillehalten gern vor Augen und werden still dabei.
Aber wir sind keine Bäume. Wir sind ja ständig in Bewegung und wechseln unseren Standort.
Wir lassen es zu, dass unsere Wurzeln ausgerissen werden, und besitzen die Kraft, sie abermals und ein Dutzend Mal wieder anwachsen zu lassen.
Wir treiben voran und werden getrieben. Vorwärts, rückwärts, auf der Stelle - oder nur im Kreis. Wir kreisen um uns selbst. Das erzeugt Unruhe, gibt einen Wirbel. Einen Wirbelsturm, der uns selber umwerfen kann.
Wir halten uns sein Stillehalten vor Augen.
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1) ihre Werke erscheinen im BS-Verlag Rostock

Vorwort, HTML, Gestaltung, Fotos: (c) Dr. W. Näser, MR 14.10.2003 * Stand: 25.2.2k5
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