Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder zum [...] Nato-Einsatz in Jugoslawien

Bonn, 26. März 1999

In dieser Woche hat Europa Handlungsfähigkeit beweisen müssen. Die Kosovo-Krise, der Rücktritt der Kommission und die Agenda 2000 - das waren in der Bündelung wohl die größten Herausforderungen, die ein Europäischer Rat jemals bewältigen mußte.

Ich bin froh und stolz, Ihnen heute sagen zu können, daß die Europäische Union unter deutscher Ratspräsidentschaft diese Prüfung bestanden hat. [...]

In der Nacht zum Donnerstag hat die NATO mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen. Das Bündnis war zu diesem Schritt gezwungen, um weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte im Kosovo zu unterbinden und eine humanitäre Katastrophe zu verhindern.

Der Bundesaußenminister, die Bundesregierung und die Kontaktgruppe haben in den letzten Wochen und Monaten nichts unversucht gelassen, eine friedliche Lösung des Kosovo-Konflikts zu erzielen.

Präsident Milosevic hat sein eigenes Volk, die albanische Bevölkerungsmehrheit im Kosovo und die Staatengemeinschaft ein ums andere Mal hintergangen.

Monatelang haben der EU-Sonderbeauftragte Petritsch und sein amerikanischer Kollege Hill in intensiver Reisediplomatie mit den beiden Konfliktparteien Gespräche geführt und den Boden für ein faires Abkommen bereitet. In Rambouillet und Paris ist mehrere Wochen lang hartnäckig verhandelt worden. Zu dem dort vorgelegten Abkommen, das die Menschenrechte der albanischen Bevölkerungsmehrheit im Kosovo, aber auch die territoriale Integrität Jugoslawiens gewährleistet, gibt es keine Alternative. Ihm hätten alle Parteien zustimmen müssen.

Die Ziele dieses Abkommens werden auch von Rußland geteilt. Ich selbst habe in einem Telefongespräch mit dem russischen Premierminister Primakow unterstrichen, daß die Europäische Union die Beziehungen zu Rußland weiter ausbauen wird. Wir haben in der Kooperation mit Rußland eine Qualität erreicht, die wir von unserer Seite aus nicht in Frage stellen werden.

Die Vertreter der Kosovo-Albaner haben dem Abkommen von Rambouillet schließlich zugestimmt. Einzig die Belgrader Delegation hat durch ihre Obstruktionspolitik alle Vermittlungsversuche scheitern lassen.

Gleichzeitig hat das Milosevic-Regime seinen Krieg gegen die Bevölkerung im Kosovo noch intensiviert.

Unsagbares menschliches Leid ist die Folge. Mehr als 250.000 Menschen mußten aus ihren Häusern fliehen oder wurden mit Gewalt vertrieben. Allein in den letzten sechs Wochen haben noch einmal etwa 80.000 Menschen dem Inferno zu entrinnen versucht - umgerechnet auf die Bevölkerung der Bundesrepublik Deuschland wäre das die Einwohnerschaft einer Metropole wie Berlin.

Es wäre zynisch und verantwortungslos gewesen, dieser humanitären Katastrophe tatenlos zuzusehen.

Bis zuletzt hat die Staatengemeinschaft sich bemüht, dem Morden auf diplomatischem Wege ein Ende zu bereiten. Außenminister Fischer als EU-Ratspräsident, der russische Außenminister Iwanow und der OSZE-Vorsitzende Vollebaek haben Präsident Milosevic in Belgrad zur Annahme des Rambouillet-Abkommens gedrängt.

Schließlich hat Richard Holbrooke als Sondergesandter der Vereinigten Staaten am Montag und Dienstag dieser Woche einen allerletzten Versuch unternommen, das Regime in Belgrad zum Einlenken zu bewegen. Vergebens.

Wir hatten deshalb keine andere Wahl, als gemeinsam mit unseren Verbündeten die Drohung der NATO wahrzumachen und ein deutliches Zeichen dafür zu setzen, daß wir die weitere systematische Verletzung der Menschenrechte im Kosovo nicht hinnehmen. [...]

Dies ist das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, daß deutsche Soldaten in einem Kampfeinsatz stehen. Ich darf Ihnen versichern, daß die Bundesregierung sich ihre Entscheidung nicht leicht gemacht hat. Aber wir wissen uns in Übereinstimmung mit der großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung und auch der Mehrheit des deutschen Bundestages - über die Parteigrenzen hinweg.

Ich möchte von dieser Stelle aus ein Wort des aufrichtigen Dankes an unsere Soldaten und ihre Familien richten. Sie erfüllen eine schwierige und gefährliche Mission. Und obwohl wir alles tun werden, um für ihren Schutz und ihre Sicherheit zu sorgen, können wir Gefahren für Leib und Leben nicht ausschließen. Sie sollen wissen, daß die Mehrheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger ihren Einsatz für die Menschlichkeit und den Frieden zu würdigen weiß.

Und ich denke, es ist ein Gebot des Anstandes und der Vernunft, auch vom Deutschen Bundestag aus ein Zeichen der Solidarität und Unterstützung an unsere Streitkräfte zu senden.

Die Verantwortung für die entstandene Lage trägt allein die extremistische Belgrader Führung. Es liegt in ihrer Hand, diese Militäroperation unverzüglich zu beenden. Ich fordere deshalb Präsident Milosevic auch von dieser Stelle aus noch einmal eindringlich auf, die Kämpfe im Kosovo sofort zu beenden und das Friedensabkommen zu unterzeichnen.

Die NATO und die internationale Gemeinschaft insgesamt sind unverändert bereit, mit Zustimmung der Streitparteien mitzuhelfen, das Abkommen von Rambouillet umzusetzen. Für die militärische Absicherung eines Waffenstillstands stehen erste NATO-Einheiten, darunter 3000 deutsche Soldaten bereit. Auch sie sollen wissen, daß Bundesregierung und Bundestag hinter ihnen stehen.

Auf der Sondertagung des Europäischen Rates in Berlin hat Europa seine Verantwortung für eine friedliche Entwicklung auf dem Kontinent bekräftigt. Wir können heute mit berechtigtem Stolz sagen:

Auch angesichts der schwierigen Mission im Kosovo spricht Europa mit einer Stimme. [...]

Wir haben heute die Möglichkeit, ausgehend von 50 Jahren Frieden in Europa unsere Völker und Staaten in freundschaftlicher Nachbarschaft immer enger zu verzahnen. Dies ist der Auftrag, den wir von unseren Vätern und Müttern, die zwei schreckliche Kriege auf diesem Kontinent erleben mußten, übernommen haben. [...]

Quelle: DIE WELT [retrieved 4.5.99], Re-Editing und Links: W. Näser 4.5.99