Medien, Gewalt und Egoismus

von Wolfgang NÄSER, Marburg (1993)

In einem Europa, das alt, müde und von vielen Konflikten abgenutzt erscheint und Mühe hat, verlorengegangene moralische Normen neu zu definieren, haben die neunziger Jahre auch hinsichtlich der MEDIEN zur Ernüchterung geführt und einen Prozeß des kritischen Nachdenkens eingeleitet. Denn BRUTALITÄT, seelische GRAUSAMKEIT und GEWALT in Literatur (Comic, Krimi, Phantasy), Film, Fernsehen und Video haben in den hochzivilisierten westlichen Ländern die seelische VERROHUNG und die KRIMINALITÄT sprunghaft ansteigen lassen: heute, wo man die aus der Pflicht und Eigenverantwortung genommenen Kinder vor LANGEWEILE und ERLEBNISARMUT bewahren und straffällige Jugendliche entertainmentgerecht mit einer "Erlebnis-Pädagogik" läutern will, gibt es auch in Deutschland bereits Banden von 10-14jährigen, die sich mit bewaffnetem Raub, Vergewaltigungen und anderen Taten "hervorgetan" haben, und es gibt 16jährige SKINHEADs, die in gedankenloser Nachahmung nicht davor zurückschrecken, Häuser anzuzünden und wehrlose Menschen darin verbrennen zu lassen.

Bedrohlich steigende Scheidungsraten, das immer moderner werdende Prinzip der "Eineltern-Familie", das opportunistische Zurückdrängen des Rechts-Unrechtsbewußtseins und Pflichtgefühls, ein an "endzeitliche" Verhältnisse erinnernder, hemmungsloser Drang nach Selbstverwirklichung und Genuß und in diesem Rahmen die mediengesteuert steigenden Lebensansprüche haben dazu geführt, daß in einer an ERFOLG und PROFIT orientierten Welt viele Kinder allein gelassen werden und dann zu Hause oder bei Freunden GEWALT konsumieren: entweder als ACTION-Filme im KABELFERNSEHEN oder in Gestalt von HORROR-, HARDCORE- oder sogar KANNIBALISMUS-Videos, die sie sich über Erwachsene aus VIDEOTHEKEN besorgt haben.

ZU VIELE STIMULI MACHEN KRANK
Verantwortungsvolle Pädagogen und Psychologen warnen seit Jahrzehnten vor den gefährlichen Folgen der REIZ-ÜBERFLUTUNG; schwere VERHALTENSSTÖRUNGEN im Kindes- und Jugendalter werden immer häufiger. Viele Kinder sind hyperaktiv, können sich nicht (mehr) konzentrieren, haben es nie lernen können, still zu sitzen, haben nie die Chance gehabt, auf ein leises Geräusch zu hören und sich an einem feinen Klang zu erfreuen. Hunderttausende Jugendliche in diesem Lande haben in Diskotheken irreparable Gehörschäden bekommen. Viele Kinder, die mit dem Beat- und Stampfrhythmus und dem Gekreisch der Rockmusik aufwuchsen und aus opportunistischen Gründen nie mit etwas Anderem bekannt gemacht wurden, wissen gar nicht, wie Musik von natürlichen Instrumenten klingt.

TV und Video diktieren den Stundenplan schon im Kinderzimmer. Die ständige Stakkato-Musikberieselung durch den WALKMAN, die auditive und visuelle Hektik der Video-Clips (MTV), immer aggressivere Computerspiele und, im Zuge der Einführung neuer interaktiver Medien, demnächst auch eine mit Konflikt und Gewalt angereicherte "virtuelle Realität" werden in dieser "brave new world" die körperlich und seelisch noch "unfertigen" jungen Menschen vollends vereinnahmen und ihnen das nehmen, was sie dringend nötig hätten: den Erwerb körperlich-geistiger Harmonie und auf diesem Wege die nötigen Phasen der Verinnerlichung, Ruhe und Besinnung.

Ihr wißt nicht, was ihr den jungen Menschen mit Fernsehen und Video antut, mahnen nicht nur die Anthroposophen. Die Kinder sehen "Rambo" in RTL plus, wälzen sich im Schlaf und gehen am nächsten Morgen mit Augenringen zur Schule. Unsinn, entgegnen andere. Sie haben die Augenringe, weil die Schule sie überfordert. Und überhaupt: was sind schon "Momentaufnahmen" in unserer schnellebigen Zeit? Wer erinnert sich in drei Monaten noch daran, wie - live im Fernsehen - ein verrückter Steffi-Fan der Monika Seles ein Messer in den Rücken rannte?

Wir haben überhaupt keine Zeit mehr, die vielen Eindrücke zu verarbeiten, erwidern die Mahner. Es gibt nicht mehr das Auf und Ab von Ruhe und Bewegung, wir werden zur Maschine, die ständig auf Hochtouren läuft.

Zerstört eine Hektik, die gnadenlos einpeitscht, die Oszillation des Lebens? Versperrt sie den Blick zurück? Wat jeht mich mein Jeschwätz von jestern an, soll doch schon ADENAUER gesagt haben...

MEDIEN SOLLEN AUFKLÄREN, ABER MIT DEN MENSCHEN NICHT SCHINDLUDER TREIBEN.

Die Grenze zwischen berechtigter Kritik und Enthüllungs-Journalismus ist fließend.
(Lothar LOEWE im ARD-"Presseclub", 9.5.1993)

Im Zeitalter des COMPUTERs und der totalen ELEKTRONISIERUNG spricht man oft und gern vom "gläsernen Menschen". Nicht nur die Fiktion, sondern auch die traurige Realität konfrontiert mit skrupellosem Sensations-Journalismus. Versteckte Mikrofone und Kameras sollen das Privatleben prominenter Mitmenschen ausspionieren; Telefone werden angezapft und abgehört, Gesprächstransskripte ungeprüft publiziert. "BILD sprach als erste mit dem Toten": darüber lachte man noch in den 50er Jahren. Die sog. McCARTHY-Ära der 50er Jahre, später bei uns die BARSCHEL-Affäre und andere journalistische Hetzjagden haben gezeigt, daß und wie die Medien unter dem Vorwand der "Informationspflicht" jegliche Menschlichkeit verachten und den Ruf ganzer Familien auf lange Zeit vernichten können. Aufklärung um jeden Preis?

Die Bevölkerung ist sensibel geworden. Auch im Zusammenhang mit der VERBRECHENSBEKÄMPFUNG diskutiert man den "totalen Lauschangriff". "Der Staat hat im Schlafzimmer nichts zu suchen", sagt Klaus BEDNARZ in der ARD-Sendung "Pro und Contra" vom 27. Mai 1993.

MEDIEN, VOYEURE UND DAS SCHULDGEFÜHL

Schreckensbilder haben einen ganz spezifischen, ästhetischen Reiz.
(Dietrich LEDER im WDR 5, 28.5.1993)

Geradezu tonisierend soll auf die fast schon sensationsmüden Konsumenten eine neue Mach-Art des privaten Fernsehens wirken: REALITY TV oder, wie es ein Autor nannte, "Boulevard-Fernsehen". Gewalt und Katastrophen auf dem Bildschirm sind real, das Blut ist echt, die Leiche wirklich tot. Der Zuschauer wird auch hier zum VOYEUR.

Wo bleibt, so fragen viele, der sogenannte gute Geschmack? Was, meinen viele, will sich der Journalismus noch alles herausnehmen?

Andere sagen: was wollt ihr überhaupt? Reality TV ist doch nur eine Variante dessen, was die TV-Nachrichten seit vielen Jahren zeigen: und wenn wir wieder und wieder die Bilder aus Bosnien sehen, sind wir ja ohnehin fast schon abgestumpft. Das ist ja das schlimme, entgegnen die Kritiker, die Menschen werden es leid, ständig mit dem Unglück konfrontiert zu werden, diese Abgestumpftheit überträgt sich doch auf die Realität, da lassen wir draußen auf der Straße das Opfer liegen, gehen einfach vorbei, der Anblick rührt uns nicht mehr. Die Kinder, meinen diese Kritiker, können ja auch nicht mehr unterscheiden zwischen Fiktion und Realität, verwechseln allzuoft Tag und Traum. Wie sollen sie in kritischen Fällen, wo der "deus ex machina" ausbleibt und sie sich selbst helfen müssen, eine situationsgerechte Entscheidung treffen, verantwortlich handeln?

Werden wir nicht von den Medien zu Voyeuren gemacht? "Wir bleiben mit unserem Ü-Wagen in Solingen." Muß das sein, wenn sich dort schon alles beruhigt hat? Warum läßt man, nach dem Türkenmord, die durch anschließende Unruhen, Straßenkämpfe, Plünderungen und Millionenschäden leidgeprüften Bürger nicht ganz einfach in Ruhe? Warum, fragen sich viele, wird von den Medien immer und immer wieder unter dem Vorwand der Aufklärung und Informationspflicht in Wunden herumgestochert, die auf diese Weise nie verheilen können?

Medien, entgegnen die Journalisten, verstehen sich als Mahner, sie wollen aufrütteln, wollen verhindern, daß man verdrängt oder vergißt. Das mag sein, sagen die anderen, doch kann dies zu sehr unerwünschten Folgen führen. Wenn man einer Nation trotz ihres ständigen Bemühens um Wiedergutmachung und Demokratie seit einem halben Jahrhundert unablässig die historische Schuld vorwirft, so kann tiefempfundene, tätige Reue in Unmut, ja in Haß umschlagen und diese Nation zum Risikofaktor werden in einem zu Integration und dauerhafter Konfliktfreiheit strebenden Staatenverbund.

Jeder Psychologe weiß es: Wirft man einem Kind, das sich um Besserung bemüht, trotzdem immer wieder vor, wie schlecht und böse es ist, dann führt, je nach Temperament und Gemütslage, dieses "anti-pädagogische" Handeln zu entsprechend gravierenden, die Zukunft des Kindes schädigenden Konsequenzen:

  1. das stille, introvertierte Kind wird apathisch, verliert Urteilsfähigkeit und Kreativität,
  2. das nüchtern denkende Kind analysiert seine Lage, sieht sich um die Frucht seiner Bemühungen betrogen und wird nach dem Motto "jetzt erst recht" noch böser,
  3. das gefühlsbetonte, stark empfindende Kind erträgt die ständige Erniedrigung noch eine Weile, dann reißt ihm der Geduldsfaden und es schlägt alles um sich herum kurz und klein.

Verantwortlicher Journalismus, das sollte sich herumgesprochen haben, hat sehr viel mit Pädagogik zu tun und noch viel mehr mit Menschen und und ihrer nur begrenzt belastbaren Psyche...

Schlüsselloch-Journalismus, Reality TV und Informationspflicht sind Aspekte, die in unserem Kurs kritisch hinterfragt werden können, so unter dem Aspekt der persönlichen Entfaltung, der Menschlichkeit, des friedlichen Zusammenlebens und der Menschenwürde.

Aus: Wolfgang Näser: Die Medien an der Schwelle zum 3. Jahrtausend (Einleitungstext zum Internationalen Sommerkurs der Philipps-Universität, Gruppe 6: Literatur und Medien, SS 1993)