MENSCHEN IN DER ARBEITSWELT
von Wolfgang Näser, Marburg
Ohne Humor und Ironie kann man gar nicht leben
(Mauricio KAGEL, Komponist, im ARD/ZDF-Frühstücksfernsehen 7.1.97)
Die meisten Menschen nehmen sich nur wenig Zeit für ein ebenso faszinierendes wie kostenfreies Studium: nämlich das ihrer Mitmenschen. Ein solchermaßen bewußt zugebrachter Tag in der Arbeitsstelle kann sich spannender gestalten als der berühmte Besuch im Zoo, gibt es doch unter den Zweibeinern ebenso skurrile und merkwürdige Typen wie in der sogenannten Tierwelt. Ganz allgemein ist es jedoch sehr nützlich, wenn wir kurz einhalten, uns einige Minuten der Besinnung gönnen und uns bewußt werden, mit wem wir es möglicherweise zu tun haben und welchen Standort wir selbst einnehmen in all dem menschlichen Mit-, Durch- und Gegeneinander.
Die folgenden Typ-Beschreibungen sind das Ergebnis eigenen Nachdenkens; meine Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die "männliche Form" entspringt lediglich grammatischer Ökonomie; alle Typen sind jeweils in beiden Geschlechtern anzutreffen. Manchmal begegnen uns auch Menschen, die Charakteristika mehrerer "Typen" in sich vereinigen.
Der Angeber
Seine Arbeit ist der Nabel der Welt; sein Denken und Handeln setzen
Maßstäbe, ohne ihn geht es nicht (denkt er). Indem er sich
erhöht, erniedrigt er die übrigen.
Der Biegsame
Nicht, wie man vermuten könnte, geistige Flexibilität zeichnet
ihn aus, sondern ein Mangel an Rückgrat; eng verwandt mit dem
-> Opportunisten und dem -> scheinbar Hilflosen, führt er ein
schwer durchschaubares amphibisches Dasein und wird erst dann
gefährlich, wenn er sich mit dieser Existenzform ein hohes Amt gesichert
hat. Dann nämlich erweckt er leicht den Anschein von
Souveränität und Verläßlichkeit und
verrät gerade die, die sich ob dieses schönen Scheins vertrauensvoll
an ihn wenden. VORSICHT: eine ganz besonders heimtückische Kreatur!
Der Bollerkopf
Seine Hauptqualifikation wird in dB (Dezibel) gemessen (Bel kommt von A.G.
BELL, könnte hier auch auf "Bellen" bezogen sein). Er ruiniert fast
jede Telefonkapsel und jedes intakte Trommelfell; cholerisch, wie er ist,
brüllt er seine Ansichten heraus ("Wer schreit, hat Unrecht" gilt hier
nicht immer!) und ist dann meist schnell wieder im Lot, weil er seinen
Psycho-Müll vokal entsorgt hat. Aus diesem Grunde frißt er nie
etwas in sich hinein, wird uralt und "erfreut" noch in hohem Alter seine
Mitmenschen, allerdings jetzt als Pensionär. Die im Grunde ehrlichen
"Brüll-Affen" sind meist nicht nachtragend.
Der Delegator
Selbst die schwierigsten Arbeiten übernimmt er, verspricht vollmundig
deren optimale Erledigung - und gibt sie an Dritte weiter. Er bekommt nie
schmutzige Hände: er, der Koordinator und Organisator. Es gibt viel
zu tun: verteilen wir es.
Der Fiesnickel
Bisweilen auch Ekel oder (auf tieferer Sprachebene) Kotzbrocken
genannt. Nach dem Motto "Wenn es mir schlecht geht, warum soll es dann anderen
gut gehen?" stets bestrebt, die eigene schlechte Laune auf die Mitmenschen
zu übertragen (Giftgallen-Transfusion) oder Kollegen bzw. Untergebenen
das mit gutem Willen zu bewältigende Arbeitsleben zur Hölle zu
machen. F. sind manchmal gleichzeitig Workaholics, da sie zu Hause,
also im Privatleben, nichts zu melden haben.
Der scheinbar Hilflose
Er kann keinen Nagel in die Wand schlagen und hat zwei linke Hände:
jede von ihnen wäre glatt gut genug, einen Meineid zu schwören.
Sein Leben gründet darauf, daß ihm andere zuarbeiten; so
ist er groß geworden und hat die, die ihm halfen, verbraucht am Wegesrand
zurückgelassen. Sein harmloses Lächeln wiegt die Mitmenschen in
Sicherheit, aus der heraus sie ihm selbst ihre intimsten Nöte und
Geheimnisse anvertrauen, um sich damit ihr eigenes Grab zu graben. Denn der
scheinbar so naive Lächler hat es faustdick hinter den Ohren.
Der Idealist
Oft äußerst sensibel, nicht selten auch künstlerisch begabt
und offen für die Mitmenschen und ihre Probleme. Der Idealist leidet
an dem ihn umgebenden Unrecht. Er denkt und redet gradlinig, sitzt oft zwischen
den Stühlen, leidet physisch und psychisch an seiner Umgebung, bringt
es nur dann zu hohen Würden, wenn ihm irgendwann einmal Gleichgesinnte
unter die Arme gegriffen haben. Ansonsten verharrt er meist im Mittelfeld
und wird von Kollegen und Vorgesetzten gleichermaßen verkannt.
Der Initiative-Blocker
(-> Bollerkopf, -> Fiesnickel, -> Statistiker) wartet stets ab,
bis ein Mitarbeiter sich durch Eigeninitiative fast profiliert hat, um dann
ex officio ("das gibt das Amt her") diese Initiative abzuschmettern.
Ziel ist die Konstanz der Mediokrität, die auch im
universitären Rahmen (leider) oft sehr guten Nährboden vorfindet.
Hilfe findet der IB oft bei besonders stromlinienförmigen ->
Opportunisten. Auf Solidarität können seine Opfer
schon deshalb kaum rechnen, weil in der Regel viele Bequeme den
Initiative-Entfaltern nicht das Schwarze unterm Nagel gönnen und es
aus einer anderen Art von Bequemlichkeit (sagen wir besser: aus Feigheit)
und/oder Gleichgültigkeit vorziehen, im Falle des Falles
wegzusehen/-zuhören und/oder den Mund zu halten. Auf diese Weise und
nur so können Diktatoren jeglicher Art und Couleur zu Macht und Ansehen
gelangen. Heinrich MANN ("Der Untertan") läßt grüßen:
das gilt auch im nächsten Fall.
Der Karrieremacher
Auch Erfolgsmensch oder Macher genannt. Accessoires: Handy,
Samsonite-Koffer (mit Notebook), Nadelstreif und BMW. Jung, dynamisch, sportlich
(Jogging), informiert, eloquent (eingebaute Datenbank für Profi-Phrasen)
und gewinnend (Parties). Egozentrischer Utilitarist. Beurteilt die Menschen
nach Man-Power. Verhalten ist für ihn Strategie. Einzig
um schnellen Aufstieg bemüht und meist mit Hilfe zahlreicher Zuarbeiter
bewältigt er die Stufenleiter in Rekordzeit. Jedes Stadium ein Lernschritt,
jeder Eindruck eine auszuwertende Information. Gut nur das, was nützt.
Gefühl ist out. Der einprogrammierte Kurs führt vorbei an den Menschen
und deren Problemen. Nach Absolvieren aller Hausaufgaben residiert der KM
in saalartigem Ambiente vor hochglanzpoliertem De-Luxe-Schreibtisch und lenkt
mit einsamen Entscheidungen sein Imperium.
Weibliche Variante ist die sogenannte Karrierefrau. Ihre Devise: eine Frau muß immer besser (in diesem Falle rücksichtsloser) als ein Mann sein, um akzeptiert zu werden. Irgendwann, wenn überhaupt, stellt sie fest, daß weibliche Grazie und frauliche Würde auf der Strecke geblieben sind und daß das, was in dem Nadelstreifenkostüm steckt, ein nur etwas anderer Mann ist. Schade.
Der Kumpel
Offen und ehrlich, immer zu Gesprächen und Hilfe bereit, stellt er die
eigenen Interessen zurück, wenn es um die Kollegen geht. Der Typ, mit
dem man Pferde stehlen möchte. Hat immer einen Kaffee, wenn es einem
dreckig geht. Ist die gute Seele (s. auch dort) im Betrieb, hat selten
Aufstiegschancen, weil er sich keine Zeit nimmt, an sein Fortkommen zu denken.
Oft in Personalvertretungen anzutreffen.
Der Motivator
Der Idealtyp eines Vorgesetzten (oder Team-Kollegen). Erkennt intuitiv die
Begabungen und Neigungen seiner Mitmenschen und bestärkt
sie darin, diese zum Wohle des Ganzen optimal einzusetzen. Obwohl selbst
vielbeschäftigt, hat er doch ab und an Zeit für ein paar freundliche
Worte: zur rechten Zeit und am rechten Ort.
Der Naive
Wie ein Traumtänzer geht er durch's Leben, immer den passenden Schutzengel
neben sich; er hat noch die in Kleists "Marionettentheater" erwähnte
Unschuld. Argwohn, Mißtrauen, Intrigen sind ihm fremd, und so entgehen
ihm auch Schlechtigkeiten, die für jedermann außer ihm gut sichtbar
direkt vor seiner Nase passieren. Die Naivität ist unbewußt ein
hervorragender Schutz und garantiert ein bis ins hohe Alter unversehrtes,
stabiles Nervensystem. Negativ: der Naive wird oft unbewußt zum Werkzeug
von Intrigen.
Der Opportunist
Er braucht keinen Windkanal: sein CW-Wert übertrifft die kühnsten
Ingenieurträume, denn er ist super-stromlinienförmig und aalglatt.
Er tut immer das, was man von ihm verlangt, begehrt nie auf, paßt sich
an, sein Fähnchen eilt der Winddrehung um eine Zehntelsekunde voraus.
Wenn es opportun ist, verrät oder übergeht er die eigenen Kollegen.
Der Pedant
Er bedenkt und bearbeitet alles bis ins Mikroskopische, wird deshalb
selten fertig, beklagt sich ständig über Unordnung,
Gammelei und Nachlässigkeit im Kollegenkreis, ordnet in
psychopathologischem Zwang auf Kollegentischen die Bleistifte zur
Parade-Formation, vergißt über seinem Genauigkeitsfimmel, daß
es noch Menschen um ihn herum gibt und daß diese Sorgen haben, um die
er sich vielleicht auch etwas genauer kümmern könnte.
Die Quasselstrippe
Eine unaufhörlich und meist über andere redende Person.
Ihr Arbeitsgerät ist der Telefonhörer, den sie (nach
pharaonischem Brauch) als Beigabe mit ins Grab bekommt. Die QS interessiert
sich für alles und jeden, ist eine wandelnde Enzyklopädie
ihrer Umwelt, kennt die Kollegen und ihre Familien, ist als
Info-Börse Anlaufstelle für Sorgen, Nöte
und Vertraulichkeiten aus dem Kollegenkreis. Auch in populären
TV-Serien (Familie Hesselbach, Büro-Büro) und -sketchen immer wieder
gern karikiert, stirbt diese meist liebenswerte Spezies allmählich aus,
findet sie doch weder Platz noch Nahrung in den unpersönlich-kalten
Glitzerwelten und competence centers unserer Technokratie.
Der Querulant
Mit dem Bollerkopf wesensverwandt, hat er eine Meisterschaft entwickelt darin,
es mit jedem nur möglichen Mitmenschen zu verderben. "Viel Feind, viel
Ehr" ist seine Maxime.
Der Resignator
In einem langen Arbeitsleben wurde er so oft übergangen, verkannt und
gedemütigt, daß er es aufgegeben hat, irgendwelche Initiativen
zu entfalten oder mit den Vorgesetzten über seine Lage zu sprechen.
Er, der für seine Arbeitsstelle möglicherweise so Wertvolle, Ergiebige,
werkelt still und apathisch vor sich hin, offenbart sich gelegentlich seiner
Mitwelt, die dann meist Sympathie heuchelt und froh ist, daß es nur
ihn getroffen hat.
Der Schweigsame
Ihn merkt man kaum. Der Schweigsame kommt, arbeitet, geht, erscheint nie
zum Tee, im Grunde weiß niemand so recht, was er tut. Das ist schade,
könnte er doch aus seinem Tun, Handeln, Beobachten und Fühlen heraus
vieles Gute und Interessante an seine Mitmenschen weitergeben. Stille Wasser
gründen tief!
Die gute Seele
Diese Spezies ist meist weiblich; unzählige
Sekretärinnen und Sachbearbeiterinnen überstrahlen
die Arbeitswelt mit der milden Sonne eines ausgesprochen lieben Wesens.
Gäbe es sie nicht, so hätte möglicherweise so manche im Dienst
gequälte Mensch allen Grund, sich vor oder hinter einen Zug zu werfen.
Das Lächeln einer guten, lieben Seele versetzt mehr
Berge als eine ganze Bibliothek voller abstruser, als Resultat geistiger
Blähungen freigesetzter Theorien.
Der Sensible
Oft mit hochgradig künstlerischen Neigungen und Begabungen gesegnet,
hungert der sensible Mensch in seinem Arbeitsfeld nach einfühlsamer
Behandlung und dem Kontakt mit Gleichgesinnten, doch dieses Verlangen bleibt
fast immer unerfüllt. Der sensible Mensch erduldet still alle
Demütigungen (für die er eine ideale Übungs-Zielscheibe
darstellt), sein Nervensystem ist bald zerrüttet, gravierende
Gesundheitsschäden und ein frühes Siechtum sind die Folge.
Der Statistiker
Ihn gibt es sowohl als Vorgesetzten wie als Mitarbeiter. Ersterer
will zu allem und jedem eine Aufstellung (noch gestern) und kontrolliert
alles: vom Fenster-Schließen bis hin zum Klorollenverbrauch; letzterer
zählt und dokumentiert alles, bis hin zur Anzahl seiner Beiwohnungen;
hat er Glück, avanciert er in eine Führungsposition.
Der Tüftler
Nichts ist unmöglich, seine Devise. Kein Problem, das nicht gelöst
werden kann. Der Wissenschaftler muß wissen, was zu wissen ist, und
alles machen, was zu machen ist, sagte sinngemäß Edward TELLER,
der Konstrukteur der Wasserstoffbombe. In seiner genialischen Verbissenheit
steht der akademische Tüftler fernab von jeder gesellschaftlichen
Verantwortung, ist williges Werkzeug skrupelloser Politiker. Das Problem
fasziniert, die Lösung befriedigt, die Bombe fällt, und schon ist
Hiroshima ausradiert.
Den Tüftler gibt es auch in einer geisteswissenschaftlichen Version. Er sitzt in seinem Elfenbeinturm und zählt sprachliche oder literarische Fliegenbeine, während "draußen" brutale Kriege geführt und politische Lösungen, zu denen er sein geistiges Potential beisteuern könnte, nicht gefunden werden.
Der Wichtigtuer
Wesensverwandt mit dem -> Angeber. Für ihn gilt das Axiom, daß
manche Menschen nur in aufgeblasenem Zustand sichtbar werden. Er macht
aus allem einen coitus principalis *). Es gelingt ihm, alles
hochzustilisieren: zuallererst die eigene Arbeit, aber auch jeden
kleinsten Zwischenfall, der durch sein Zutun kriegerische Dimensionen
annimmt.
Der Workaholic
Dieser Suchtkranke lebt, um zu arbeiten. Die
Arbeitsstelle ist oft Fluchtpunkt einer Existenz, die daheim unter dem Pantoffel
steht nach dem Motto "Papa hat bei uns nichts zu sagen". Der W. schuftet
wie ein Berserker, auf seinem Schreibtisch türmen sich "gewachsene Haufen"
unerledigter Vorgänge, das Wühlen, Sortieren,
Abzeichnen und Stempeln sind sein Lebens-Elixier. Über
seiner Arbeit vergißt er, daß es Kollegen gibt.
Der Zeitlose
Scheinbar träumerisch durchs Leben (und die Arbeit) gehend, koppelt
er sich ab von allen technischen Innovationen, die - zu hause
wie im Beruf - die Arbeit erleichtern, neue Horizonte eröffnen und
Erkenntnisse bringen könnten. Der Z. hält wenig von den sogenannten
Neuen Medien, erzählt stolz, daß er daheim entweder keinen
Fernseher hat oder ihn so gut wie nie benutzt; im Büro lehnt er
Computer strikt ab (und nimmt daher verfügbare Etat-Mittel nicht
in Anspruch), hält natürlich auch nichts vom Internet (einer
Brutstätte von Kinder-Pornographie und sonstigen Verbrechen, hat er
irgendwo gehört), von E-Mail und all diesem Zeugs. Aufgrund seiner
gehobenen Position hat er das zweifelhafte Glück, sich solche
Standpunkte leisten zu können. In den oft esoterisch angehauchten,
realitätsfernen Zirkeln, in denen er privat verkehrt, hat er
sich mit seiner Technikfeindlichkeit ein gewisses Maß von Achtung
und Anerkennung erworben.
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*) Fürstenbeischlaf
(c) Wolfgang Näser 8/96 ff.