Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser, Marburg, SS 2002 ff.

Rilke, Rainer Maria (1875-1926): Zur Matthäuspassion im Baseler Münster (1920)

Als Sohn eines Eisenbahninspektors in Prag geboren; 1882-1895 kathol. Klosterschule in Prag. 1886-1891 Militärschule in Österreich u. Handelsschule in Linz, (nach Abbruch) 1892 Privatstudien in Prag. 1894 erster Gedichtband "Leben und Lieder". 1895 Abitur (mit Auszeichnung) in Prag, Studium der Kunst- und Literaturgeschichte, 1896 in München Stud. der Philosophie. Der (14 Jahre älteren) Schriftstellerin und Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé (Bild rechts oben), die er hier kennenlernt, folgt er in leidenschaftlicher Liebe 1897 nach Berlin, wo er sich 1899 für Kunstgeschichte immatrikuliert. 1899/1900 (mit L. Andreas) zwei Rußlandreisen, 1900 in Worpswede, wo er die Bildhauerin Clara Westhoff (seine spätere Frau) und die Malerin Paula Modersohn-Becker (Bild rechts Mitte) kennenlernt. 1902 muß er aus finanziellen Gründen seinen Hausstand auflösen und reist nach Paris, wo er den Bildhauer Auguste Rodin kennenlernt. Hier (im Jardin des Plantes) entsteht 1903 der "Panther", das erste der "Neuen Gedichte", und erscheint seine Monographie über Rodin. 1905, im Jahr des seines "Stunden-Buch"s, nimmt er in Berlin bei Georg Simmel das Philosophiestudium wieder auf. 1906 Privatsekretär bei Rodin; "Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke", 1908 "Requiem für eine Freundin" (=Modersohn-Becker, + 1907), 1910 Tagebuchroman "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge". 1912 auf Schloß Duino bei Triest erste Elegien und "Das Marien-Leben"; auf einem psychologischen Kongreß in München lernt er Sigmund Freud kennen. 1914, zu Beginn des Ersten Weltkriegs, fünf "Kriegsgesänge", danach Abkehr von soldatischer Euphorie. 1915 wehrdiensttauglich, Einsatz in Böhmen; 1916 Versetzung ins Kriegsarchiv nach Wien, 1918 zieht er nach München, wo er die Bekanntschaft von Hanns Eisler und Ernst Toller macht. 1919 an mehreren Orten der Schweiz. Er lernt dort Alexander von Jawlensky kennen. 1921 bezieht er das Château de Muzot sur Sierre (Wallis). 1923 Die "Duineser Elegien" sowie "Die Sonette an Orpheus" erscheinen. 1924-1926 wegen Leukämie Sanatoriums-Aufenthalte in Bad Ragaz und Val-Mont bei Montreux, wo er am 29.12.1926 stirbt. Postum erscheinen "Dichtungen des Michelangelo" sowie ein umfangreiches Briefwerk.

Unser Text entstammt einem Brief an Nanny Wunderly-Volkart (1878-1962) vom 22.3.1920 über eine Aufführung von J.S. Bachs Matthäus-Passion am 21.3. im Münster zu Basel (Bild rechts unten). Rilke legt dem Brief das Text-Heft bei, in dem er das Sopran-Rezitativ "Er hat uns allen wohlgetan" und das Baßrezitativ "Am Abend, da es kühle war" markiert hat. Den in seinem zeitlichen Kontext außergewöhnlichen Text entdeckte ich im Mitteilungsblatt Nr. 52 (Sommer 2003) der Neuen Bachgesellschaft e.V. Interessant ist hier die teils antiquierte, an das frühe 19. Jahrhundert erinnernde Schreibung und Diktion. W.N.


Hat die Musik gstern in mir nachgewirkt?: sie war, wie fast alles, ein Zu-viel für mich im jetzigen Augenblick, und die Scheu und Abwehr, in die mich die Vorgänge in Locarno versetzt haben, wirkte auch hier zuerst gegen den Zudrang des Mächtigen. Dem ersten Theil hielt ich mich fast unbewegt gegenüber, aber, da wir um acht wieder ins Münster kamen, wußte ich mich vom ersten Moment an betheiligter, und dieser Theil bringt ja auch erst das eigentliche Gebirg der Passion, mit den großen Leidenschaften vor der hinaufgehobenen Seele. [Karl] Erb 1), als Evangelist, war von großartigster Beherrschung. Zurückhaltend und doch unabweislich deutend, wie eben ein Zeigender, wußte er eine männliche Milde in die Interpretation seiner Sätze zu legen, so daß mit ihnen zugleich ein Bett er Empfindung gegeben war; an ihm lag es ja, alle Vorgänge heraufzuführen: niemand hätte sie größer ankündigen können, nie maaßte sich seine Stimme eine Beschwörung an, ein eigenmächtiges Aufrufen des Geschehens, sodaß jede Wendung aus der Tiefe ihrer eigenen Bestimmtheit hervortrat, nur eben angesagt, nie überholt von der Stärke des Erzählers. Vielleicht, daß der Bach'sche Evangelist noch einfältiger sein dürfte in dem durchaus protestantischen Geiste dieses enormen Werkes, nebenstehender, überraschter: die Erb'sche Auslegung und Führung verlangt nicht durchaus den Gläubigen sich gegenüber, sie ging selber aus Betrachtung und Abstand hervor, nicht aus dem Erlebnis, für den heutigen Hörer mochte sie die richtigste und entsprechendste sein. In den größesten Stellen stand man indessen doch im Gefühle Bachs, das mir unendlich herrlich wurde, wo es, um sein Großartigstes zu erweisen, seine schlichtesten und strengsten Erfahrungen in Gebrauch nahm: ein unermüdlich gekonntes Handwerk und einen ununterbrochen geübten Glauben. Wie rein, wie ohne nach Wirkung zu drängen, sind die Anwendungen seiner Empfindung. Unvergeßlich zeigt sie sich, wenn nach der Frage des Landpflegers: "Was hat er denn Übles gethan?" und den folgenden Versen, die die Kreuzigung verlangen, die Erklärung von Christi Wohlthun und Unschuld eingeschoben wird, in einem weich von Flöten begleiteten Rezitativ, einem Musik-Thal von solcher Milde des Klima's, daß, drin noch verweilen zu müssen, fast über die Kräfte geht, wo man doch nichts als Härten und Schrecknisse vor sich sieht, bis zu jenem steilen Gipfel im ewigen Schnee des Opfers.

Die in mir zunehmende Schwierigkeit, am christlichen Erlebnis unmittelbar betheiligt zu sein, hat mich verhindert, zum Gegenstande selbst diejenige Hingerissenheit zu fassen, die die Aufnehmung des Ganzen zum Ereignis machen müßte. Mit ist, im Gegentheil, wiederum recht fühlbar geworden, wie sehr diese Verabredung, zu der Gott und Mensch in der Leidensgestalt Christi zusammenkommen, mir das Geheimnis beider, Gottes sowohl, als das des Menschen durch das Verbundensein mit der Passion eine wesentliche Erleichterung geschaffen wird, so bleibt doch auf der anderen Seite auch Gott, der immer neue Mittel der Rettung hat, an diesen anerkannten Ausweg gebunden. Mein unmittelbar gläubiges, mein unbedingtes Herz, kann keinen Gott fassen, der durch das Bestehenbleiben eines Mittlers schließlich verarmen müßte, denn was sollte die Kanalisierung seiner Kraft, die doch von je gewohnt war, alles zu überfluthen und uns die drängendsten Überschwemmungen zu bereiten? Und gerade dieses elementarische Zu-viel Gottes hat so große Verwandtschaft mit der Natur der Musik, daß ich dieser größesten protestantischen immerhin das programmatisch eingeschränkte Gemüth vorwerfen möchte, aus dem sie hervorgegangen ist, wenn man auch fortwährend zugeben muß, daß sie in ihr Métier so rein und redlich eingesetzt war, daß sie, über alle Vorsätze hinaus, ans Gewaltigeste hinreichen konnte.

Liebe, unzulänglich alles dies, ich fühls während ich's schreibe; müßte, um's besser zu erzählen, nicht so müde und unfähig sein, - oder wir hättens müssen gemeinsam anhören im Münster, wo man wunderbar ungestört war, fast wie ohne Nachbaren, ganz anders, als in jedem Konzert-Saal.

1) Karl Erb, Tenor, 1877-1958 (siehe auch Bild links oben)

Wird ergänzt. Transkript, Gestaltung, Vorwort, Links: (c) Dr. W. Näser, Marburg. Stand: 17.10.2003