Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser, Marburg, SS 2002 ff.

Schirmunski, Viktor Maksimowitsch (1891-1971): Vorwort zu "Deutsche Mundartkunde"
(Nemeckaja dialektografija, Moskva 1955; dt. Übers. Berlin [O.] 1962; hier ohne Fußnoten)

Der bedeutende Sprach- und Literaturforscher und Dialektologe wurde am 2.8.1891 in St. Petersburg geboren und starb am 31.1.1971 in der in Leningrad umbenannten Metropole. In äußerst schwieriger Zeit - gerade mal zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg - entstanden, bildet seine "Mundartkunde" bis heute einen unverzichtbaren philologisch-linguistischen Grundstock deutscher Sprachwissenschaft und Mundartforschung und - in der deutschen Übersetzung von 1962 - das Musterbeispiel für eine Fachsprache, die auch ohne pseudonaturwissenschaftlichen Terminologie-Fetischismus auskommt und daher auch für interessierte Laien verständlich ist.

Werke u.a.: Die deutschen Kolonien in der Ukraine. Geschichte, Mundarten, Volkslied, Volkskunde. Charkow (1928); Sprachgeschichte und Siedelungsmundarten. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 18, H. 3/4: 113-122; H. 5/6: 171-188 (1930); Einführung in die Metrik Vergleichende Epenforschung. I (Veröffentlichungen d. Instituts f. Dt. Volkskunde : Deutsche Akademie d. Wiss. zu Berlin 24; 1961); Deutsche Mundartkunde.Vergleichende Laut- und Formenlehre der deutschen Mundarten. Berlin (1962). posthum: Linguistische und ethnographische Studien über die alten deutschen Siedlungen in der Ukraine, Rußland und Transkaukasien. Hg. v. Claus-Jürgen Hutterer. München (1992); Deutsche Romantik und moderne Mystik A.d. Russ. v. Irina S. Alexejeva, Alexandr W. Beolbratow u. Alexej I. Zerebin. St. Ingbert (1995).


Ein wissenschaftliches Studium der deutschen Sprache, ihrer Geschichte und ihres heutigen Zustandes ist ohne gründliche Kenntnis der deutschen Dialektologie nicht möglich. Bekanntlich ist die jahrhundertelange feudale Zersplitterung Deutschlands in vollem Ausmaß bis zur Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen, im Grunde bis zur staatlichen Einigung von 1871 erhalten geblieben. Nicht ohne Grund betrachtete Lenin die Einigung Deutschlands als wichtigste nationale Frage seiner bürgerlichen Entwicklung im 19. Jh.

Die Folgen dieses historischen Schicksals des deutschen Volkes zeigen sich auch in der Sprache: Einerseits sind die deutschen Mundarten äußerst zersplittert, und zwar sowohl im Hinblick auf die bedeutenden Unterschiede zwischen ihnen als auch in bezug auf ihre weitgehende territoriale Aufspaltung. Andererseits hat sich die Herausbildung der gesamtdeutschen nationalen Literatursprache außerordentlich langsam vollzogen und ist sogar in ihrer schriftlichen Form erst im 18. Jh. abgeschlossen. Es hat langdauernde lokale Schwankungen der Norm in Aussprache und Grammatik gegeben, und die heutige gemeindeutsche Literatursprache bewahrt in ihrer umgangssprach1ichen Form spürbare Färbungen lokaler Aussprache und einige lexikalische Verschiedenheiten, hauptsächlich im Wortschatz des alltäglichen Lebens.

Daraus erhellt, daß sich eine wissenschaftliche Geschichte der deutschen Sprache auf der Mundartkunde aufbauen und daß sich eine historische Grammatik der deutschen Sprache auf die vergleichende Grammatik der deutschen Mundarten stützen muß. Ein vertiefter praktischer Sprachunterricht im Deutschen muß ebenfalls die lokalen Besonderheiten berücksichtigen, die bis zu einem gewissen Grade nicht nur die Umgangssprache, sondern auch die Literatursprache der deutschen Klassiker.des 18. und 19. Jhs. und der modernen Schriftsteller des demokratischen Deutschlands aufweist.

Diese Sätze erklären und rechtfertigen das Thema des vorliegenden Buches, das der deutschen Mundartkunde gewidmet ist. Dieses Buch ist jedoch kein Lehrbuch. Es stellt den Versuch dar, das gewaltige Material einzelner Tatsachen und Beobachtungen, wie es in den zahlreichen Aufzeichnungen und Spezialuntersuchungen zur deutschen Dialektologie gesammelt ist, zu verallgemeinern und theoretisch zu interpretieren. Da der Deutsche Sprachatlas äußerst unvollständig und ungenau und nur zur Hälfte veröffentlicht ist, war es nötig, zur Lösung der Aufgabe Beschreibungen einzelner Ortsmundarten und Arbeiten über die Dialektgeographie größerer Gebiete heranzuziehen. Ein Verzeichnis der Quellen enthält die Bibliographie; Spezialuntersuchungen zu Einzelfragen der Lautlehre, der Grammatik und des Wortschatzes der deutschen Mundarten in Verbindung mit der Geschichte der deutschen Sprache werden jeweils in den Fußnoten genannt.

Wenn sich der Autor nur auf diese gedruckten Quellen hätte stützen können, hätte er sich nicht entschlossen, die Fragen der deutschen Mundartkunde zum Gegenstand einer speziellen Untersuchung zu machen; er hat sich jedoch selbst mehrere Jahre1ang mit der Beschreibung und Erforschung der auf dem Territorium der Sowjetunion gesprochenen deutschen Mundarten befaßt. Die dabei gemachten Direktaufnahmen und Beobachtungen allgemeiner Art bildeten den Schlüssel für eine genauere und kritischere Interpretation der gedruckten Quellen.

Das Buch besteht aus den folgenden Hauptabschnitten: Die Einleitung enthält die allgemeinen methodologischen Richtlinien. Es werden darin die Beziehungen zwischen Gemeinsprache und Lokalmundarten in den aufeinanderfolgenden Phasen der historischen Entwicklung betrachtet: von den Gentil- und Stammessprachen zu den Nationalitätssprachen, von den Sprachen der Nationalitäten zu den Nationalsprachen. Dabei werden die spezifischen historischen Bedingungen der Wechselbeziehung zwischen der deutschen Sprache und ihren Mundarten berücksichtigt. Im I. Teil des Buches wird die Geschichte der deutschen Mundartforschung, ihre Methodologie und Methodik dargestellt. Dabei werden die Leistungen und die Mängel der deutschen Dialektologie (besonders der herrschenden dialektgeographischen Richtung) kritisch erörtert und die Aufgaben für die weitere Arbeit umrissen. Ein besonderes Kapitel ist dem "Fränkischen Dialekt" von Engels gewidmet - einem in seiner Methode klassischen Werk, das fiir die historische Erforschung der deutschen Mundarten grundlegend ist. Teil II und III bilden den umfangreichsten Hauptabschnitt des Buches; sie bieten eine vergleichende Laut- und Formenlehre der deutschen Mundarten. Die Ausmaße dieses Abschnittes rechtfertigen sich durch den Umfang und die außerordentliche Vielfältigkeit des Materials; aus diesem Grunde fehlt auch in der deutschen Dialektologie eine einigermaßen befriedigende zusammenfassende Darstellung. Es war notwendig, die wichtigsten phonetischen und morphologischen Unterschiede der deutschen Mundarten möglichst vollständig systematisch darzulegen. Es mußten ferner die geographischen Verbreitungsgrenzen der einzelnen Merkmale und - soweit möglich - Zeit und Ort der Entstehung und Ausbreitung eines jeden von ihnen sowie sein Schicksal in der Geschichte der nationalen Literatursprache gezeigt werden. Dabei mußten die dialektologischen Einzeltatsachen in die weitere Entwicklungsperspektive der historischen Grammatik der deutschen Sprache eingeordnet werden.

Die historisch-vergleichende Betrachtung stellt auch auf diesem Gebiete den einzig möglichen Weg zur Aufdeckung der allgemeinen inneren gesetzmäßigen Entwicklungstendenzen der Sprache in ihren Dialekten dar. Im vorliegenden Buche wird der Versuch unternommen, unter diesem Gesichtspunkt am Material der Mundarten einige zentrale Fragen der historischen Phonetik und Grammatik der deutschen Sprache zu erörtern: die grammatische Bedeutung des germanischen dynamischen Akzentes und der damit zusammenhängenden Reduktionsvorgänge in den unbetonten Silben; die hochdeutsche Lautverschiebung; die Entwicklung des grammatischen Umlautes als einer Erscheinung der inneren Flexion; die Diphthongierung der engen Langvokale; einige allgemeine innere Gesetzmäßigkeiten in der Formenbildung des Nomens, Pronomens und Verbums, die im einzelnen unterschiedlich, aber doch in ähnlicher Entwicklungsrichtung in den verschiedenen Dialekten zu Tage treten. ln den übrigen Fällen, wo es dem Verfasser nicht in genügendem Maße gelungen ist, die Fülle des Materials und der Einzeltatsachen unter einem allgemeineren Gesichtspunkt zusammenzufassen, tröstet er sich mit dem Gedanken, daß es die Vollständigkeit des hier gesammelten und systematisch dargestellten Materials anderen mit dieser oder jener Frage der deutschen Sprachgeschichte beschäftigten Forschern erlauben wird, es zur Unterstützung bei einer verallgemeinernden und tiefer gehenden Spezialarbeit über ihr jeweiliges Thema heranzuziehen.

ln einer abschließenden Zusammenfassung werden die Hauptwege der historischen Entwicklung der deutschen Mundarten in ihrer Wechselbeziehung zur Gemeinsprache umrissen. Dieser Prozeß läßt sich in drei Abschnitte gliedern: 1. Wechselwirkung und Einigungstendenzen innerhalb der Nationalitätssprache, die der Bildung der Nationalsprache vorausgehen und sie vorbereiten; 2. Konzentration der Mundarten zu einer einheitlichen Nationalsprache auf der Grundlage einer unter den gegebenen historischen Bedingungen vorherrschenden Mundart (ostmitteldeutsch); 3. Absorption der Mundarten durch die nationale Literatursprache unter Herausbildung einer Reihe von Übergangsformen (sogenannter "Halbmundarten"). Diese Entwicklungsabschnitte werden am Beispiel einer Reihe der wichtigsten deutschen Großmundarten veranschaulicht; es sollen damit gleichzeitig die historischen Bedingungen ihrer Entstehung und Entwicklung insgesamt charakterisiert und ihre wichtigsten Merkmale genannt werden. Die methodologischen Perspektiven dieses Kapitels führen von den Fragen der historischen Dialektgeographie zu einer Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Mundarten in Verbindung mit der Geschichte des Volkes.

Der Umfang des Buches machte es notwendig, einige ursprünglich entworfene Abschnitte, die nachträglich unter Heranziehung des dazu erforderlichen ebenfalls sehr umfangreichen Materials ausgearbeitet werden sollten, zu kürzen. So werden die Fragen der Wortbildung nur im Zusammenhang mit der Formenbildung betrachtet. Ausgenommen hiervon sind lediglich die Diminutiva, die im Deutschen an der Grenze der Formenbildung stehen und andererseits füir die Differenzierung der deutschen Mundarten sehr wesentlich sind. Fragen der Syntax werden nur im Zusammenhang mit der Morphologie berührt; so vor allem der Gebrauch der grammatischen Formen, der Kasus, der Tempora und Modi, soweit er für die morphologische Entwicklung von Bedeutung ist, besonders dort, wo es sich um die Verdrängung verschiedener Flexionsformen durch analytische Konstruktionen handelt (z. B. das Schicksal des Genitivs und des Dativs, die einfache und die zusammengesetzte Vergangenheitsform und der Optativ). Es muß jedoch gesagt werden, daß sich in den eigentlich syntaktischen Problemen (Syntax des Satzes) die deutschen Mundarten untereinander wenig unterscheiden und eher insgesamt der schriftlichen Literatursprache als ein besonderes syntaktisch-stilistisches System, das mit den allgemeinen Besonderheiten der mündlichen Rede verknüpft ist, gegenüberstehen.

Leider mußte auch auf einen besonders notwendigen Abschnitt, der eigens dem mundartlichen Wortschatz gewidmet war, verzichtet werden. Das in den deutschen landschaftlichen Wörterbüchern angehäufte gewaltige Material erfordert eine in methodologischer Hinsicht völlig neue Bearbeitung im Zusammenhang mit dem allgemeinen theoretischen Problem der Wechselbeziehung zwischen dem Wortschatz der Gemeinsprache und der Lokalmundarten, der alten Stammesunterschiede des Grundwortschatzes und der späteren Differenzierung des Wortbestandes in den verschiedenen lexikalischen Bereichen usw. All dies muß Gegenstand einer größeren Spezialuntersuchung oder richtiger einer Reihe von speziellen Voruntersuchungen sein. Um diesen Mangel teilweise auszugleichen, ist in das Kapitel iiber die Geschichte der Mundartforschung ein ziemlich umfangreicher Paragraph (Kapitel II § 10) über die Sammlung und Erforschung des landschaftlichen Wortschatzes und die nächsten Aufgaben auf diesem Gebiete aufgenommen worden.

Den geographischen Rahmen des im vorliegenden Werke verwendeten Materials bildet das geschlossene Verbreitungsgebiet der deutschen Sprache und ihrer Mundarten. Die deutsche Literatursprache oder deutsche Mundarten sind die Muttersprache der Bevölkerung in Deutschland, Österreich, der nördlichen und zentralen (deutschen) Schweiz, der östlichen, an Deutschland angrenzenden Provinzen Frankreichs (des Elsaß und Ostlothringens) und teilweise Luxemburgs. Dementsprechend werden hier nicht die Mundarten Deutschlands, sondern die Mundarten der deutschen Sprache innerhalb ihrer heutigen Verbreitungsgrenzen behandelt. Aus dem gleichen Grunde bleiben die deutschen Mundarten östlich der polnischen Grenze (der Oder-Neiße-Linie), in den Ländern, die seit alters slawischen und baltischen Völkern gehörten und heute auf Beschluß der Potsdamer Konferenz ihren ursprünglichen Einwohnern zuriickgegeben worden sind, außerhalb der Betrachtung. Die in der Vergangenheit aufgenommenen deutschen Mundarten dieses Gebietes werden nur herangezogen, wo dies aus sprachgeschichtlichen Gründen notwendig ist. Nach Mitteilung zuständiger Sprachforscher sind sie heute in raschem Schwinden begriffen, sie gehen in den Lokalmundarten derjenigen Teile Deutschlands, in die ihre Träger umgesiedelt wurden, auf oder weichen der "Halbmundart", die sich in unterschiedlichem Grade der lokalen umgangssprachlichen Form der Literatursprache annähert.

Die Quellen, denen die zur Veranschaulichung der mundartlichen Besonderheiten dienenden Beispiele entnommen sind, wurden im Text, wo es notwendig schien, durch Abkürzungen gekennzeichnet (vgl. das Abkürzungsverzeichnis S. VII ff.). Dieses Material wird in einer vereinheitlichten Lautschrift geboten, deren Prinzipien unten dargelegt sind (vgl. S. 627 ff.). Wo eine Transkription fehlt (wie in Wenkers Sprachatlas und den darauf gegründeten Arbeiten), werden die Beispiele notwendigerweise in der gewöhnlichen deutschen Orthographie wiedergegeben.

Das vorliegende Buch ist nach einem Plan des lnstituts für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der UdSSR vorbereitet (1951-1953), und die einzelnen Kapitel sind mehrfach im Sektor für germanische Sprachen (Moskau) und in der romanisch-germanischen Abteilung (Leningrad) besprochen worden; das Werk aIs Ganzes wurde wiederholt im Wissenschaftlichen Rat des Institutes erörtert. Den Kollegen, die das Buch beurteilt und an seiner Besprechung teilgenommen haben, dankt der Verfasser aufrichtig für ihre kritischen Bemerkungen und ihre Hilfe bei der Arbeit. Insbesondere bin ich Prof. Leo Sinder zu herzlichem Dank verpflichtet für die große Hilfe, die er mir bei der redaktionellen Bearbeitung des Manuskripts erwiesen hat.

Die deutsche Übersetzung ist von mir durchgesehen, und an einigen Stellen sind gegenüber dem russischen Original Verbesserungen und Ergänzungen vorgenommen worden. Die nach der Drucklegung der Originalfassung (1955) erschienenen Spezialuntersuchungen (darunter eine Reihe von Neuerscheinungen auf dem Gebiete der ostmitteldeutschen und bairisch-österreichischen Mundartforschung) konnten bei der Übersetzung nicht mehr berücksichtigt werden, ohne den Rahmen des Textes zu sprengen. Das Wichtigste davon hat der Übersetzer ergänzungsweise in der Bibliographie oder in den Fußnoten verzeichnet.

V. M. Schirmunski

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