Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * SS 2002 ff.
Schweitzer,
Albert (1875-1965): Verschiedene Texte
Anm.: die Bilder stammen aus dem Internet. Sollte deren Verwendung gegen
irgendwelche Rechte verstoßen, werden sie sofort getilgt. Ich bitte
um Nachricht (und Nachsicht)
Wieviel Wasser fließt unterirdisch und dringt nie als
Quelle zur Erdkruste durch? Wieviele Gedanken und Absichten schlummern in uns und können doch nie die Schale unseres Herzens aufbrechen? Versuchen wir jenes Wasser zu sein, das als Quelle seinen Weg findet. (Selbstzeugnisse, 1967, S. 56) |
Als zweites Kind einer Pfarrersfamilie wird AS am 14. Januar 1875 in Kaysersberg (Elsaß) geboren, verbringt eine glückliche Jugend in Günsbach (Münstertal), genießt schon früh eine gute musikal. Ausbildung. Dt. Abitur in Mühlhausen; 1893-98 Studium der Theologie und Philosophie in Straßburg, Paris und Berlin (+ Militärzeit in Straßburg 1894); ab 1898 Orgelstudien bei Charles Marie Widor (1844-1937; schrieb das Vorwort zu Schweizers Bach-Buch, 1908) und Klavierstud. bei Isidore Philippe und Marie Jaël-Trautmann in Paris; 1899 Promotion in Philosophie, 1900 in Theologie; Pfarrer der Gemeinde St. Nicholas in Straßburg, 1901 Leiter des dortigen theologischen Seminars. 1902 Habilitation in Theologie; Privatdozent. 1903-06 Direktor des Stifts St. Thomas in Straßburg. Am 11.4.1908 traut er in Straßburg Theodor Heuss und Elly geb. Knapp. 1905-11 Studium der Medizin, 1912 Heirat mit Helene Bresslau (+ 1957). 1913 Dr.med., danach als Missionsarzt nach Lambaréné (Gabun, Westafrika), dort aus eigenen Mitteln Bau eines Tropenhospitals mit Leprastation (Vorbild für spätere Aktionen); Schweitzer wird zum Wegbereiter der Tropenmedizin. 1915 Initiierung des Konzepts "Ehrfurcht vor dem Leben". 1917-18 im 1. Weltkrieg von den Fanzosen interniert. 1919 Geburt der Tochter Rhena (Bild rechts: 2001 in Cameroun); 2 Orgelkonzerte in Barcelona, 1920 Tournee mit Vorträgen und Konzerten in Schweden auf Einladung des Erzbischofs Soederblom; AS lehnt Ruf an die Univ. Zürich ab; 1923 Vortragszyklus in Prag; 1924 zurück zur Missionsstation Andende (Lambaréné); (wegen Dysenterie-Epidemie) bis 1927 Bau eines größeren Hospitals; in insgesamt 14 Arbeitsperioden (längste: 1939-48) wirkt er dort bis zu seinem Tode. Zur Finanzierung seiner Arbeit: 1928 Konzert- und Vortragsreisen in die Niederlande, Dänemark, die Schweiz, Deutschland und die Tschechoslowakei; 1932 Vorträge und Konzerte in Deutschland, den Niederlanden, England und Schottland. Am 22. März hält er in Frankfurt die offizielle Gedenkrede zum 100. Todestag Goethes; 1934 philosophische Vorträge in Schottland, 1936: 21 Konzerte in der Schweiz; 1949 in Aspen/Colorado Gedenkrede zum 200. Geburtstag Goethes; mit dem Preisgeld des Friedensnobelpreises erbaut er 1952/3 für 150 Leprakranke das "Village lumière". 1957 und 1958 verbreitet er über Radio Oslo mehrere Aufrufe und Reden über dien Gefahren der Atombombe. Am 20. April 1962 schreibt er an Präsident Kennedy; dieser antwortet: "I read your letter on the nuclear testing problem with interest and sympathy. You are one of the transcendent moral influences of our century. I earnestly hope that you will consider throwing the great weight of that influence behind the movement for general and complete disarmament." Noch Ende 1964 bespricht Schweitzer in Lambarene eine Schallplatte mit dem Titel "Mein Wort an die Menschen", faßt hier sein Leben zusammen, erneuert seine Appelle gegen Wettrüsten und Atomwaffen. Nach vielfachen Ehrungen zum 90. Geburtstag stirbt AS am 4.September 1965 in Lambaréné. 1981 wird dort das neue Spital eingeweiht; 1999 feiert der Schweizer Hilfsverein für das Albert-Schweitzer-Spital sein 50jährige Bestehen.
Werke: grundlegende Arbeiten zur Theologie, Religionsphilosophie und Musikgeschichte; u.a.: Kritische Darstellung unterschiedlicher neuerer historischer Abendmahlsauffassungen (theol. Diss. 1901); Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis (1901); Deutsche und französische Orgelbaukunst und Orgelkunst (1906); Von Reimarus zu Wrede (1906); J.S. Bach, le musicien-poète (dt.: 1908); Straßburger Predigten (1909-19), zusätzl. 334 Predigten (1898-1913); Die psychiatrische Beurteilung Jesu (med. Diss. 1913); Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (1913); Zwischen Wasser und Urwald. Erlebnisse eines Arztes im Urwalde Äquatorialafrikas (1921); Kulturphilosophie I (Verfall und Wiederaufbau der Kultur) und II (Kultur und Ethik), 2 Bde. 1923; Das Christentum und die Weltreligionen (1924); Die Mystik des Apostels Paulus (1930); Aus meinem Leben und Denken (1931), Die Weltanschauung der indischen Denker. Mystik und Ethik. (1935); Goethe. Vier Reden (1950); Das Problem des Friedens in der heutigen Welt (1954); Briefe aus Lambaréné 1924-27 (1955); Friede oder Atomkrieg. 4 Schriften (1958; 3. Aufl. 1984); Reich Gottes und Christentum (1967); Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten. 6. Aufl. (1991). Das Christentum und die Weltreligionen. 2 Aufsätze zur Religionsphilosophie. 3. Aufl. (1992); [mit Helene Bresslau:] Die Jahre vor Lambarene. Briefe 19021912 (1992); Gespräche über das Neue Testament. 2., durchges. Aufl. (1994); Zwischen Wasser und Urwald. Erlebnisse und Beobachtungen eines Arztes im Urwalde Äquatorialafrikas. 225. Tsd. (1995); Reich Gottes und Christentum (1995); Aus meiner Kindheit und Jugendzeit (1996); Straßburger Vorlesungen (1998); Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben, Kulturphilosophie III, Tl. 1-4 (1999); Tl. 3 / 4 (2000); [mit Fritz Buri:] Existenzphilosophie und Christentum. Briefe 19351964 (2000).
Auszeichnungen: u.a. 1920 Ehrendoktor Univ. Zürich; 1928 Goethepreis der Stadt Frankfurt/M.; 1951 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels; 1952 Friedensnobelpreis; als Nachfolger von Marschall Pétain Mitglied der "Académie des Sciences morales et politique"; Paracelsusmedaille (D), Prinz-Carl-Medaille (Schweden); 1954 Ehrenmitglied der amerikanischen "Academy of Art and Sciences"; Pour le mérite.
Neben seinem augopferungsvollen Wirken in Lambaréne erwarb sich Schweitzer
große Verdienste auf vielen anderen Gebieten: als Organist (rechts:
1928 an der Walcker-Orgel in St. Reinoldi, Dortmund), Orgelbau-Experte (viele
der alten Silbermann-Orgeln verdanken es ihm, daß sie nicht modernen
Fabrikorgeln zum Opfer fielen), Musikschriftsteller, Theologe, Philosoph,
im Kampf gegen Kernwaffen und ganz allgemein als Mensch. Die
"Leben-Jesu-Forschung" beschäftigte ihn schon als Student. Sein Bach-Buch
(1908) gilt als herausragend; der natürliche Wille zum Leben
und eine entsprechend lebensbejahende, optimistische Grundhaltung
unter Einbezug aller Lebewesen sind Kernpunkte seiner ("bio-philen")
Verantwortungsethik, die im (1915 geprägten) Wort von der
Ehrfurcht
vor dem Leben Ausdruck findet. "Das Werk Albert Schweitzers muß
in seiner Bedeutung für das anbrechende [21.] Jahrhundert wieder neu
entdeckt werden. Schweitzers Denken trifft in verblüffender Aktualität
die wesentlichen Fragen unserer Zeit. Es ist ein Mitdenken über seine
Zeit hinaus." (In:
http://www.albert-schweitzer-zentrum.de/ethik/wiss_b/wiss_b3.htm). W.N.
Tonprobe (Ausschnitt): Toccata a.d. 5. Sinfonie für Orgel
op. 42 von Charles-Marie Widor, gespielt von KMD Klaus-Ekkehard Ibe an der
Großen Orgel der Stadtkirche Bad Hersfeld, 6.10.1984; Live-Tonaufnahme:
W. Näser
1.1. Zum 28. Juli, dem Todestage Bachs (1908)
Im Jahre 1808 mögen wohl nicht viele des Todestages Bachs gedacht haben. Zwar war sechs Jahre zuvor die begeisterte kleine Biographie von Forkel, dem Freunde der Söhne Bachs, erschienen; aber der Kreis, der sich dadurch zum Meister bekehren ließ, war ganz klein. Bach gehörte noch zu den Vergessenen. Nun aber ist seine Zeit gekommen. Der 28. Juli ist ein Gedenktag, den kaum ein Musiker unbeachtet vorübergehen läßt. Manche Orgel erklingt am Abend dieses Tages in dunkler, leerer Kirche, weil der Organist sich gedrungen fühlt, in Bachschen Fugen und Choralvorspielen für sich einen Erinnerungsgottesdienst abzuhalten. Und wenn dann die Akkorde von Bachs letztem Werk, dem Choralvorspiel über "Wenn wir in höchsten Nöten sind", in die Kirche hinausziehen, ist es, als ob die Orgel mit Engelszungen den Glauben und den Frieden des Mannes predigte, der im dunklen Zimmer, schon mit dem Tode ringend, seinem treuen Schüler und Schwiegersohn diese Fantasie in die Feder diktierte.
[...] Sehr viele Interpreten produzieren sich seit einigen Jahren mit Bach, ohne die Vertiefung an sich zu erleben, die Bach in jedem wahren Künstler zu wirken berufen ist. Die meisten unserer Sänger und Sängerinnen sind in der Technik viel zu weit zurück, um Bach richtig zu singen. Den Geist dieser Musik können nur wenige unter ihnen wiedergeben; die anderen sind in die Ideenwelt des Meisters nicht eingedrungen; sie empfinden nicht, was Bach sagen will, und können es also nicht mitteilen. Und das Schlimmste: sie halten sich für hervorragende Bach-Interpreten und merken nicht, was ihnen fehlt. Manchmal fragt man sich, wie es dem Publikum bei so weihelosen Aufführungen dennoch möglich ist, etwas von der Tiefe Bachscher Musik zu verspüren.
Kenner der Verhältnisse werden diese Aufführungen nicht für übertrieben pessimistisch ansehen. Unsere Bach-Begeisterung macht eine Krisis durch. Es ist Gefahr, daß sie zu oberflächlich wird und daß sich zu viel Eitelkeit und Selbstgefälligkeit mit einmischt. Das klägliche Epigonenhafte unserer Zeit tritt auch in der Art, wie wir uns Bach bemächtigen, schon allzu merkbar zutage. Wir tun, als wollten wir ihn rühmen, und rühmen in Wirklichkeit uns ..., daß wir ihn wiederentdeckt haben und ihn verstehen und wiedergeben wie nie zuvor. Etwas weniger Lärm, etwas weniger 'Bach-Rechthaberei', etwas mehr Können, etwas mehr Bescheidenheit, etwas mehr Tiefe und Verinnerlichung, etwas mehr Schlichtheit, etwas mehr Weihe ... so wird Bach mehr im Geist und in der Wahrheit verehrt werden als bisher.
1. 2. Dichterische und malerische Musik (Johann Sebastian Bach, 1908, Kap. 11)
Der unmittelbare Eindruck der Bachschen Werke auf uns ist zwiespältig. Sie muten uns ganz modern an; zugleich aber haben wir das Empfinden, daß sie mit der nachbeethovenschen Kunst so gar nichts gemein haben. Die Musik des Thomaskantors erscheint uns modern, insofern als sie aus der natürlichen Unbestimmtheit der Tondarstellung kraftvoll herausstrebt und darauf ausgeht, die Dichtung, der sie zugehört, auf den höchstmöglichen Grad musikalischer Evidenz zu bringen. Sie will darstellen. [...]
Wir teilen die Kunst nach dem Material ein, dessen sie sich bedienen, um die ihnen vorschwebende Welt darzustellen. Musiker wird genannt, wer sich in Tönen ausspricht; Maler, wer sich der Farbe bedient; Dichter, wer die Lautsprache anwendet. Das ist aber eine rein äußerliche Scheidung. In Wirklichkeit ist das Material, in welchem sich der Künstler ausdrückt, etwas Sekundäres. Er ist nicht nur Maler, oder nur Dichter, oder nur Musiker, sondern alles zusammen. In seiner Seele wohnen verschiedene Künstler beieinander. Sein Schaffen beruht auf ihrem Zusammenwirken. An jedem seiner Gedanken sind alle mitbeteiligt. Der Unterschied besteht nur darin, dass bei dem einen dieser, bei dem anderen jener dominiert und dass sie jedesmal diejenige Sprache wählen, die ihnen am geläufigsten ist. [...]
Nietzsche erging es mit der Musik wie Goethe mit der Malerei. Er glaubte es seinem Talente schuldig zu sein, sich in der Komposition zu versuchen. Seine musikalischen Schöpfungen stehen aber noch bedeutend niedriger als die Zeichnungen Geothes. Wie konnte er sich bei solcher Unbeholfenheit für einen Tondichter halten? Es war es dennoch. Seine Werke sind Symphonien. Der Musiker liest sie nicht, er hört sie, als ginge er eine Orchesterpartitur durch. Er schaut nicht Worte und Buchstaben, sondern sich entwickelnde und verflechtende Motive. In "Jenseits von Gut und Böse" findet er sogar jene kleinen fugierten Intermezzi, womit Beethoven in seinen Werken manchmal verweilt. [...]
Wagner gehört unter die musikalischen Dichter, nur dass er neben der Wortsprache zugleich die Tonsprache beherrscht. Bekannt ist Nietzsches Formel für die künstlerische Komplexität dessen, den er wie keinen verehrt und gehaßt: "Wagner gehört als Musiker unter die Maler, als Dichter unter die Musiker, als Künstler überhaupt unter die Schauspieler." [...]
Bis zum Momente, wo er durch eine bestimmte Sprache in die Erscheinung tritt, ist jeder künstlerische Gedanke komplex. Weder in der Malerei, noch in der Musik, noch in der Dichtung gibt es eine absolute Kunst, die man zur Norm erheben kann, um alles andere daraufhin als falsche Kunst abzustempeln, weil eben in jedem Künstler noch ein anderer wohnt, der mitreden will, nur dass er es bei dem einen aufdringlich, bei dem anderen kaum merklich tut. Darin liegt der ganze Unterschied. Die Kunst an sich ist weder Malerei noch Dichtung noch Musik, sondern ein Dichten, in welchem sie noch alle vereint sind.
Die lebendige Spannung, in welcher die Künste untereinander stehen, verleiht jeder einen Expansionstrieb, der sie nicht zur Ruhe kommen läßt, bis sie an der letzten Grenze ihres Gebietes angelangt ist. Und dann fühlt sie sich noch getrieben, ein Stück einer anderen an sich zu reißen. Nicht nur die Musik ist versucht, in Analogie zu den beiden anderen Künsten zu malen und zu erzählen: diesen selber ergeht es nicht anders. Die Dichtung will Bilder vorstellen, die eigentlich mit dem Auge erfasst werden müssten, und die Malerei will das Geschaute zugleich mit dem poetischen Empfinden, das sie hineinlegte, festhalten. Nur daß die Musik, weil ihr Darstellungsmaterial zur Abbildung konkreter Ideen so wenig taugt, gar bald an der Grenze angekommen ist, wo sie dichterische und malerische Gedanken noch klar erkennbar mit darstellen kann. [...]
Aber nicht nur die gebende Kunst ist komplex: die empfangende ist es nicht minder. In jedem wahrhaften, künstlerischen Erfassen treten alle Empfindungen und Vorstellungen, deren ein Mensch fähig ist, in Aktion. Der Vorgang ist vielgestaltig, wenn auch der Betreffende nur in den allerseltensten Fällen eine Ahnung davon hat, was alles in seiner Phantasie in Bewegung gesetzt wird und welche Nebentöne zum Grundton erklingen, der ihn scheinbar ausschliesslich beschäftigt. [...]
Die musikalische Empfänglichkeit ist bis zu einem gewissen Grade ein Vermögen der Tonvision, welcher Art sie nun sei, ob sie es mit Linien, Ideen, Gestalten oder Geschehnissen zu tun hat. Auch da, wo man sie nicht vermuten würde, sind Ideenassoziationen im Spiel. [...]
Jedes künstlerische Empfangen ist ein Tun. Das künstlerische Schaffen ist nur ein besonderer Fall des künstlerischen Verhaltens dem Sein gegenüber. Einige Menschen unter den vielen, die das, was um sie ist und um sie herum geschieht, als Künstler erleben, besitzen das Vermögen, das Gehörte und Gesehene in der Sprache der Farbe, des Tones oder des Wortes wiederzugeben. Der Unterschied ist eigentlich nicht der, daß diese mehr Künstler sind als die andern, sondern nur der, dass sie reden können, während die andern stumm sind. [...]
In der Musik [...] wird die Sprache zum Symbol. Die Übertragung auch der allgemeinsten Empfindungen und Vorstellungen wird rätselhaft. Es nützt nichts, daß die Tonphysiologie immer neue Entdeckungen über Tonempfindungen macht: sie erobert damit der musikalischen Ästhetik ein herrliches Kolonialgebiet, das ihr aber in Zeit und Ewigkeit nichts eintragen wird. [...] Je weiter die Prätention des musikalischen Ausdrucks geht, desto auffälliger tritt das Symbolische an der Tonsprache hervor. Es dauert nicht lange, so stellt sie an die Phantasie des Hörers Zumutungen, denen er mit dem besten Willen nicht mehr gerecht werden kann, und treibt mit dem "dies bedeutet" der künstlerischen Sprache den ärgsten Mißbrauch. [...]
Wie es unter Dichtern Maler und Musiker gibt, so gibt es unter den Musikern Dichter und Maler. Sie heben sich deutlich voneinander ab, sobald die Einwirkung des "anderen Künstlers" eine gewisse Bestimmtheit erreicht. Die dichterische Musik hat es mehr mit Ideen, die malerische mehr mit Bildern zu tun; die eine appelliert mehr an das Gefühl, die andere mehr an die Vorstellung. Die Zerfahrenheit der Diskussion über Tonmalerei, Programm- und Schilderungsmusik rührt zum nicht geringsten Teil daher, dass man die beiden nebeneinander und durcheinander gehenden Hauptströmungen in der Tonkunst nicht beachtete, sondern meinte, alles Sündigen wider die reine Musik bewege sich in derselben Richtung von der Wahrheit ab. [...]
2. Aus dem Gutachten über die Orgel zu St. Jacobi in Hamburg (1928)
[...] Die gegenwärtige mechanische Traktur hat ernsthafte Nachteile. Die Tasten gehen schwer und fallen tief. Andererseits aber ist der mechanischen Spielart zu verdanken, daß auf der Orgel zu St. Jacobi das Gewebe der Stimmen in so wunderbarer Klarheit herauskommt. Denkbar wäre, in irgendeiner Weise durch Barkerhebel oder Zwischeneinschaltung von Röhrenpneumatik der Orgel eine leichtere Spielart zu geben. Andererseits aber ist zu befürchten, daß, wenn man einmal mit Änderungen anfängt, man nicht weiß, wo man haltmachen soll. Die Ersetzung der mechanischen Traktur durch etwas anderes wäre ein erheblicher Eingriff in das Werk. Es würde dadurch viel von seinem historischen Werte verlieren. Darum trete ich für die Erhaltung der mechanischen Traktur ein. Sie ist mit bestem Material zu erneuern, wobei sich wohl eine leichtere Spielart erreichen läßt.
Bei Beibehaltung der mechanischen Traktur ist die Benutzung der Koppeln eingeschränkt. Die hat aber bei einem Werke wie dem zu St. Jacobi nicht soviel zu besagen. Jedes Klavier ist ja hier eine vollendete Klangpersönlichkeit, und das volle Werk des ersten Klaviers weist eine solche Fülle auf, daß die Ankoppelung der anderen Klaviere keine Notwendigkeit ist.
Mit der Beibehaltung der mechanischen Traktur entscheidet sich die Frage, ob die Orgel einen Spieltisch und moderne Spielhilfen erhalten soll. An sich wäre es ja sicherlich wünschenswert, daß dem Organisten die Möglichkeit des Zuziehens und Abstoßens von Registern gegeben würde, die er auf neueren Instrumenten vorfindet. Dieses aber würde voraussetzen, daß die Registerzüge und der ganze Registerapparat pneumatisch angelegt würden. Nun ist aber erfahrungsgemäß nichts schwieriger, als Pneumatik mit Schleiflade zu verbinden, besonders wenn es sich um alte Laden handelt. Zu St. Thomas in Straßburg hat man es während meiner Abwesenheit getan. Nun ist zwar das Registrieren viel leichter, aber das Zuziehen oder Abstoßen des Registers braucht eine gewisse Zeit, bis es in Kraft tritt. Das ist ein großer Nachteil. Nach meiner Erfahrung mit alten Orgeln wäre ich also nicht dafür, mit den alten Schleifladen pneumatisches Registerwerk zu verbinden. Sind einmal die Führungen der Registerzüge wieder in Ordnung gebracht, so gehen die Register viel leichter als jetzt. [...]
3. Geschichten für Kinder (Quelle: http://private.addcom.de/kdvo/stiftung/schueler.htm)
3.1. Ein Jude aus einem Nachbardorfe, Mausche genannt, der Vieh- und Länderhandel trieb, kam mit seinem Eselskarren zuweilen durch Günsbach. Da bei uns damals keine Juden wohnten, war dies jedesmal ein Ereignis für die Dorfjungen. Sie liefen ihm nach und verspotteten ihn. Um zu bekunden, daß ich anfing, mich als erwachsen zu fühlen, konnte ich nicht anders, als eines Tages auch mitzumachen, obwohl ich eigentlich nicht verstand, was das sollte. So lief ich mit den andern hinter ihm und seinem Esel her und schrie wie sie <<Mausche! Mausche!> Die Mutigsten falteten den Zipfel ihrer Schürze oder ihrer Jacke zu einem Schweinsohr zusammen und sprangen damit bis nahe an ihn heran. So verfolgten wir ihn vors Dorf hinaus bis an die Brücke. Mausche aber, mit seinen Sommersprossen und dem grauen Bart, ging so gelassen fürbaß wie sein Esel. Nur manchmal drehte er sich um und lächelte verlegen und gütig zu uns zurück. Dieses Lächeln überwältigte mich. Von Mausche habe ich zum ersten Male gelernt, was es heißt, in Verfolgung stilleschweigen. Er ist ein großer Erzieher für mich geworden. Von da an grüßte ich ihn ehrerbietig. Später, als Gymnasiast, nahm ich die Gewohnheit an, ihm die Hand zu geben und ein Stückchen Wegs mit ihm zu gehen. Aber nie hat er erfahren, was er für mich bedeutete. Es ging das Gerücht, er sei ein Wucherer und Güterzerstückler. Ich habe es nie nachgeprüft. Für mich ist er der Mausche mit dem verzeihenden Lächeln geblieben, der mich noch heute zur Geduld zwingt, wo ich zürnen und toben möchte.
3.2. Einen tiefen Eindruck machte mir ein Erlebnis aus meinem siebenten oder achten Jahre. Heinrich Bräsch und ich hatten uns Schleudern aus Gummischnüren gemacht, mit denen man kleine Steine schleuderte. Es war im Frühjahr, in der Passionszeit. An einem Sonntagmorgen sagte er mir: `Komm, jetzt gehen wir in den Rebberg und schießen Vögel. Dieser Vorschlag war mir schrecklich, aber ich wagte nicht zu widersprechen, aus Angst, er könnte mich auslachen. So kamen wir in die Nähe eines kahlen Baumes, auf dem die Vögel, ohne sich vor uns zu fürchten, lieblich in den Morgen hinaussangen. Sich wie ein jagender Indianer duckend, legte mein Begleiter einen Kiesel in das Leder seiner Schleuder und spannte dieselbe. Seinem gebieterischen Blick gehorchend, tat ich unter furchtbaren Gewissensbissen dasselbe, mir fest gelobend, danebenzuschießen. In demselben Augenblicke fingen die Kirchenglocken an, in den Sonnenschein und in den Gesang der Vögel hineinzuläuten .Es war das Zeichen -Läuten, das dem Hauptläuten eine halbe Stunde voranging. Für mich war es eine Stimme aus dem Himmel. Ich tat die Schleuder weg, scheuchte die Vögel auf, daß sie wegflogen und vor der Schleuder meines Begleiters sicher waren, und floh nach Hause Und immer wieder, wenn die Glocken der Passionszeit in Sonnenschein und kahle Bäume hinausklingen, denke ich ergriffen und dankbar daran, wie sie mir damals das Gebot: Du sollst nicht töten ins Herz geläutet haben. Von jenem Tage an habe ich gewagt, mich von der Menschenfurcht zu befreien. Wo meine innerste Überzeugung mit im Spiele war, gab ich jetzt auf die Meinung anderer weniger als vorher. Die Scheu vor dem Ausgelachtwerden durch die Kameraden suchte ich zu verlernen.
3.3. Als eine besondere Güte unserer Eltern empfanden wir, daß sie uns erlaubten, von unseren Schulfreunden mit in die Ferien zu bringen, bis das Haus voll war. Wie meine Mutter die Arbeit, die wir ihr dadurch verursachten, bewältigen konnte, ist mir heute noch ein Rätsel. Der Gedanke, daß ich eine so einzigartig glückliche Jugend erleben durfte, beschäftigte mich fort und fort. Er rückte mich geradezu. Immer deutlicher trat die Frage ,vor mich, ob ich dieses Glück denn als etwas Selbstverständliches hinnehmen dürfe. So wurde die Frage nach dem Recht auf Glück das zweite große Erlebnis für mich. Als solches trat sie neben das andere, das mich schon von meiner Kindheit her begleitete, das Ergriffensein von dem Weh, das um uns herum in der Welt herrscht. Diese beiden Erlebnisse schoben sich langsam ineinander. Damit entschied sich meine Auffassung des Lebens und das Schicksal meines Lebens. Immer klarer wurde mir, daß ich nicht das innerliche Recht habe, meine glückliche Jugend, meine Gesundheit und meine Arbeitskraft als etwas Selbstverständliches hinzunehmen....
Wer viel Schönes im Leben erhalten hat, muß entsprechend viel dafür hingeben.
4. Aus: Mein Wort an die Menschen (1964) => hier als *.mp3; Foto links (Ausschnitt): Dr. med. Christoph Staewen
Ich rufe die Menschheit auf zur Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Diese Ethik macht keinen Unterschied zwischen wertvollerem und weniger wertvollem, höherem und niederem Leben. Sie lehnt eine solche Unterscheidung ab. Denn der Versuch, allgemeingültige Wertunterschiede zwischen den Lebewesen anzunehmen, läuft im Grunde darauf hinaus, sie danach zu beurteilen, ob sie uns Menschen nach unserem Empfinden näher oder ferner zu stehen scheinen. Das aber ist ein ganz subjektiver Maßstab. Wer von uns weiss denn, welche Bedeutung das andere Lebewesen an sich und im Weltganzen hat? Die Konsequenz dieser Unterscheidung ist dann die Ansicht, daß es wertloses Leben gebe, dessen Vernichtung oder Beeinträchtigung erlaubt sei. Je nach den Umständen werden dann unter wertlosem Leben Insekten oder primitive Völker verstanden.
Die unmittelbare Tatsache im Bewußtsein des Menschen lautet: ,Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.' Diese allgemeine Bejahung des Lebens ist eine geistige Tat, in der der Mensch aufhört dahinzuleben, in der er vielmehr anfängt, sich seinem Leben mit Ehrfurcht hinzugeben, um ihm seinen wahren Wert zu geben. Der auf diese Weise denkend gewordene Mensch erlebt zugleich die Notwendigkeit, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. So erlebt er das andere Leben in dem seinen. Als gut gilt ihm alsdann: Leben zu erhalten und zu fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert zu bringen. Als böse gilt ihm nun: Leben schädigen oder vernichten, entwickelbares Leben in der Entwicklung hindern. Dies ist das absolute und denknotwendige Grundprinzip des Sittlichen. Durch die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben kommen wir in ein geistiges Verhältnis zur Welt. [...]
Alle gewöhnliche Gewalt in dieser Welt schafft sich selber eine Grenze, denn sie erzeugt eine Gegengewalt, die ihr früher oder später ebenbürtig oder überlegen sein wird. Die Gütigkeit aber wirkt einfach und stetig. Sie erzeugt keine Spannungen, durch die sie sich selbst aufhebt, sondern sie entspannt die bestehenden Spannungen, sie beseitigt Mißtrauen und Mißverständnisse Indem sie Gütigkeit weckt, verstärkt sie sich selber. Deshalb ist sie die zweckmäßigste und intensivste Kraft. Was ein Mensch an Gütigkeit in die Welt hinausgibt, das arbeitet an den Herzen der Menschen und an ihrem Denken. [...]
Die Ehrfurcht vor dem Leben gebietet uns, den hilfsbedürftigen Völkern in der Welt Hilfe zu bringen. Den Kampf gegen die Krankheiten, von denen diese Völker bedrängt sind, hat man fast überall zu spät begonnen. Letzten Endes ist alles, was wir den Völkern der früheren Kolonien Gutes erweisen, nicht Wohltat, sondern es ist unsere Sühne für das Leid, das wir Weißen von dem Tage an über sie gebracht haben, da unsere Schiffe den Weg zu ihren Gestaden fanden. Es muß dahin kommen, daß Weiß und Farbig sich in ethischem Geist begegnen. Dann erst wird eine echte Verständigung möglich sein. [...]
Die Not [...], in der wir bis heute leben, ist die Gefährdung des Friedens.
Zur Zeit haben wir die Wahl zwischen zwei Risiken. Das eine besteht in der
Fortsetzung des unsinnigen Wettrüstens in Atomwaffen und der damit gegebenen
Gefahr des Atomkrieges, das andere im Verzicht auf Atomwaffen und in dem
Hoffen, daß Amerika, die Sowjetunion und die mit ihnen in Verbindung
stehenden Völker es fertigbringen werden, in Verträglichkeit und
Frieden nebeneinander zu leben. [...] Ich bekenne mich zu der Überzeugung,
daß wir das Problem des Friedens nur dann lösen werden, wenn wir
den Krieg aus einem ethischen Grund verwerfen, nämlich weil er uns der
Unmenschlichkeit schuldig werden läßt. [...] Mögen die, welche
die Geschicke der Völker in Händen haben, darauf bedacht sein,
alles zu vermeiden, was die Lage, in der wir uns befinden, noch schwieriger
und gefahrvoller gestalten könnte. Mögen sie das wunderbare Wort
des Apostels Paulus beherzigen: Soviel an euch liegt, habt mit allen Menschen
Frieden! Es gilt nicht nur den einzelnen, sondern auch den Völkern.
Mögen sie im Bemühen um die Erhaltung des Friedens miteinander
bis an die äußerste Grenze des Möglichen gehen, damit dem
Geiste der Menschlichkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben zum Erstarken
und zum Wirken Zeit gegeben werde.
[Von mir gekürzt.] Quelle:
http://www.schweitzer.org/german/diverses/asdmen.htm
Links:
Historische Tondokumente:
Wird ergänzt * HTML, Ergänzungen, Links (c) Dr. Wolfgang Näser, MR * Stand 6.8.2002.