Textsorte Kurzgeschichte:
Willis Porsche
von Dietmar Seibert (9. Januar
2008)
Heute habe ich ihn besucht. Seit einem Jahr sehe ich
ihn jeden Morgen im Obi von D., im Stehcafé im Foyer neben der
Bäckertheke, drei Tische mit Barhockern an der großen Scheibe
zum Parkplatz, am letzten Tisch, er entgeht einem nicht, Willi, der seinen
Kaffee umklammert und die Leute anstiert. Er sitzt immer am selben Platz.
Fünfundsechzig, vielleicht siebzig, schwer zu sagen. Ich glaube, dass
er jünger ist, als er aussieht. Seine Gesichtszüge sind weich,
die Haut ist glatt rasiert. Es ist eher das Gesicht einer alten Frau als
das eines Mannes, doch es ist ein Gesicht, wie es einer vom Land hat. Für
mich gehörte er bald zu diesem Obi wie der Biber im Logo. Ein
introvertierter, wortfauler Dorfmuffel, den man grüßt, aber keine
Reaktion bekommt. Anfangs habe ich es versucht, dann habe ich es aufgegeben.
Seine Augen sind die eines interessierten Beobachters, nicht die eines Spanners,
der den Frauen auf die Beine oder auf den Hintern stiert, dafür ist
der Blick zu gleichgültig; nein, es sind eher die Augen eines gelangweilten
Außenseiters, der irgendwann ins Abseits gedrängt wurde und jetzt
weiterlebt, indem er den anderen zusieht. Dass sie auch ihn sehen, scheint
ihn nicht zu kümmern. Seine Blicke fixieren jeden, der im Vorbeigehen
Brötchen kauft oder seinen Wagen durch die Eingangshalle schiebt, Frauen
wie Männer gleichermaßen. Oder sie ruhen auf mir oder wer immer
noch dort morgens um diese Zeit einen Kaffee trinkt. Anfangs dachte ich,
er gehört zum Personal, macht gerade Pause, einer, der häufig Pause
macht, bis ich begriff, dass er einfach nur da sitzt, um unter Leuten zu
sein. Manchmal ruft er in Richtung Bäckertheke:
Bettina, machst de mir noch'n Kaffee?"
Bis vor kurzem war das der einzige Satz, den ich von ihm kannte. Es war unschwer
zu erkennen, dass er von hier ist. Hochdeutsch, wie es einer spricht, der
eigentlich Platt redet. Dass er Willi heißt, weiß ich nur, weil
Bettina immer dann, wenn sie ihm den Kaffee hinstellt, sagt:
So, Willi! Mit Liebe gemacht!"
Ich dachte, sicher ist das der Grund, warum er dasitzt, und mehr Kaffee trinkt,
als seinem Herzen guttut, denn immer, wenn sie das sagt, zieht ein zufriedenes
Lächeln in seine Mundwinkel ein. Er ist zu alt für sie, aber zu
jung um nicht daran zu denken. Wenn sie ihm die Tasse hingestellt, sie das
gesagt und er gelächelt hat, verkriecht er sich wieder in sich selbst
und seine Augen wandern emotionslos umher, wie eine Überwachungskamera.
Vor zwei Wochen allerdings hatte er mich verblüfft. Ich hatte es
längst aufgegeben ihm irgend eine Reaktion abzutrotzen. Ich stellte
gerade mein benutztes Geschirr zurück, als er plötzlich lächelte
und sagte:
Machs gut!"
Auch Bettina sah auf und flüsterte ihrer Kollegin zu, deren Name ich
nicht kenne, weil Willi nur Bettina namentlich anspricht:
Der hat ja gelacht."
Der hat bestimmt Therapie gemacht.", kicherte die zurück.
Ja, du auch!", antwortete ich. Seine Geste hatte mich so überrollt,
dass mir völlig entgangen war, dass ich ihn geduzt hatte. Erst im Auto
erinnerte ich mich, du hast ihn ja geduzt.
Die Woche darauf spielte uns das Schicksal einander zu. Alle Hocker waren
besetzt, bis auf einen an Willis Tisch. Hallo!", ging ich auf ihn zu.
Ist der noch frei?" Ja!", war die karge Antwort. Er reckte sich
auf, zog seine Tasse zu sich und profilierte sich wieder in Schweigen. Ich
biss in mein belegtes Brötchen und wich so dem Zwang aus, meinerseits
etwas sagen zu müssen. Nach einer Weile durchbrach er den Damm und sagte:
Mer wird nie fertig!"
Ja sicher, dachte ich, hatte jedoch keine Ahnung, wovon er sprach. Mit einem
Bissen im Mund sah ich auf und nickte ihm verständnisvoll zu. Dann fuhr
er fort:
Es is immer was zu dun um´s Haus rum." Wieder nickte ich,
schluckte.
Gott, es kümmert ja sowieso kein mehr, awwer mer kann ja auch
net alles verkomme lasse."
Ich wollte fragen: Sie haben ein Haus?", erinnerte mich aber, dass
ich ihn zuletzt geduzt hatte. Während ich mir einen Satz zurechtbastelte,
mit dem ich die Anrede erst einmal geschickt umgehen konnte, kam er mir
zuvor:
Fährst Du heut net offen?" Er deutete durchs Fenster auf mein
Cabrio.
Noch zu kalt!", antwortete ich kauend.
Musst Du noch schaffe heut? Am Sonndach solls ja bis zu 25 Grad
gewwe."
Wie sollte ich ihm meinen Job erklären?
Schaffst wohl in Marburg?", nahm er mir die Antwort ab.
Ja", antwortete ich knapp und dann meinte er, er habe auch ein Cabrio.
Er schmunzelte. Irgend etwas stimmte an dieser Aussage nicht.
'n Porsche!", schob er nach.
Einen Porsche?"
Ja!" Er lachte. 'n roter Porsche! Steht in der Scheune! Ich
weiß awwer net, ob er noch anspringt."
Verstehe!" Er meinte seinen Traktor. 20 PS Diesel mit Frontlader
und Ackerschiene?"
Ne, ne, 'n Super L319 mit 40 PS un Schnellgang. Der fuhr ohne Last
fünfunddreißig."
Er strahlte, als er das sagte und dann belehrte er mich über Porsche,
und wann man die Sparte Traktoren" an, ich glaube es war MAN verkauft
hatte.
Ja, ja, die ham bis 1962 auch Traktorn gebaut..." Er kannte alle Modelle
und von wann bis wann sie gebaut worden waren. Gott,...", winkte er
schließlich ab, ...ich weiß ja gar net, ob er noch
fährt."
Ich blieb an diesem Thema:
Die gab es doch nur in rot, oder?" Ich erzählte ihm, von dem Porsche
der Nachbarn meiner Eltern, einem Einzylinder, offenbar kleiner als seiner,
und wie gerne ich als Kind darauf gespielt hätte.
Jo, Gott, ich weiß ja net, ob er noch fährt.", wiederholte
er. Erst hab ich'n immer noch im Feld gefahrn, awwer die wolle die
ja heut net mehr versichern, wenn mer kei Landwirtschaft mehr hat. Mer kann
se drosseln, dann brauch mer kei Versicherung mehr, awwer, Gott, das is ja
doch nix mit 6 km/h. Jetzt fahr ich Fahrrad! Ich hab mer'n Speedline
gekauft."
Er zeigte durch die Scheibe auf ein Fahrrad, das an einen Stützpfeiler
gekettet war.
Gott die sin ja teuer heut, dreizehnhunert Euro!" Er winkte ab, als
er diese Summe nannte. Ich konnte dazu nichts sagen.
Ich verstehe nichts von Fahrrädern.", gab ich zurück.
Ei, mer gönnt sich ja sonst nix. Irgendwas muss mer ja mache."
Und das geht noch so mit dem Radfahren?"
Die ganze Zeit über hatte ich mich gefragt, was mir an ihm so
widersprüchlich, so unwirklich vorkam. Irgendetwas an ihm passte einfach
nicht zusammen. Jetzt fiel es mir auf. Es war die Kleidung: der hochmoderne,
enganliegende Radlerstyle, gegenüber dem zeitabgewandten altersstarren
Gesichtsausdruck eines Landwirtes im Ruhestand, der seinem Traktor
nachtrauerte.
Ei Gott, es geht noch so.", antwortete er. "Mer is ja kei zwanzig mehr,
awwer mer muss doch was dun."
Er erzählte von organisierten Radtouren, an denen er teilgenommen hatte,
nannte Örtlichkeiten, wo sie eingekehrt waren, als müsste ich sie
kennen. Für sein Alter hatte er sich wohl herausragend geschlagen, ich
konnte es nur schwer beurteilen. Seine Begeisterung für den Radsport
konnte ich nicht teilen.
Davon verstehe ich zu wenig.", sagte ich. Doch jetzt hatten wir ein
gemeinsames Thema: den Porsche!
Kann ich ihn mal sehen?"
Den Porsche?" Er lachte.
Ja, den Prosche!"
Gott jo, ich weiß nur net, ob er noch anspringt. Ich bin ja doch
immer deheim. Nur am Sonndach net, da treffe ich Unsere. Letzte Sonndach
sin mer an der Lahn gefahrn bis nach Dietz. Sin ja heut sauwer gemacht, die
Radwhe."
Und wo ist daheim?", fragte ich.
Er gab mir seine Adresse, und als ich sie ins Navigationssystem eingab, sah
ich, dass es direkt auf meinem Weg lag. Ich kannte diesen Bauernhof am
Ortsausgang des Nachbardorfes. Wie oft war ich dort vorbei gefahren. Ich
erinnerte mich sogar an den Porsche. Über die Jahre waren mir die
Veränderungen dort nicht entgangen. Anfangs gab es noch Vieh, später
nur noch den Schäferhund, der wie ein Wächter über einen
längst geraubten Schatz an seiner Kette auf- und ablief. Zuletzt lag
er nur noch vor der Hütte und schaute mir misstrauisch nach, wenn ich
in Schritttempo vorbeifuhr und in den Hof schaute. Er war alt geworden. Einmal
hatte ich angehalten, um mir den Hof von innen anzusehen, wobei sich das
inzwischen so friedliche Tier in Windeseile in eine zähnefletschende
Bestie verwandelt hatte.
Ich erinnerte mich gut an den Porsche. Er war mir aufgefallen, weil es ein größeres Modell war. Meist stand er irgendwo im Hof oder an der Straße, mal mit Anhänger, mal mit irgendeinem anderen landwirtschaftlichen Gerät. Einen Deutz gab es auch. Der Maschinenpark war auf dem Stand der 60er geblieben, danach hatte der Hof offenbar von der Substanz gelebt. Erst verschwand der Deutz, später der Misthaufen in der Mitte des Hofes und mit ihm auch der Porsche. Den Platz, wo der Misthaufen war, zierte bald darauf ein Blumenbeet. Jetzt war die Stelle gepflastert, und auch den Hund gab es nicht mehr. Die Kette lag noch vor der Hütte, als hätte ihn eben jemand ausgeführt, doch mir war klar, dass es anders war.
Als ich heute in den Hof fuhr, überkam mich ein merkwürdiges Gruseln. Ein schöner Hof, aber tot. Ein Organismus, aus dem das Leben gewichen war, wie aus einem menschlichen Körper; ein Heimatmuseum, in das man Trachtenpuppen stellen möchte, aber nicht Willi in seinem Radlerlook. Selbst er schien innerlich schon längst gegangen zu sein. Ich sah mich um: alle Läden verschlossen, am Fachwerk bröckelte schon lange der Lehm, doch es lag nichts am Boden. Alles war sauber gekehrt, alles in ordnungsgemäßem Zustand dem schleichenden Verfall übergeben. Was vom Dach herunterfiel, wurde weggeräumt, aber nicht mehr repariert. An der Klingel las ich: Familie Wilfried Weil." Die Schrift war verblasst. Vor den Fenstern hingen Blumenkästen, aber sie waren nicht mehr bepflanzt worden. Die Fenster waren allesamt geschlossen, die Gardinen zugezogen, versiegelt, wie man unbewohnte Räume versiegelt. Dann kam er an die Tür.
Ach Du bist´s." Er strahlte. Komm doch rein!"
Nach meinem Namen hat er mich nie gefragt. Als ich eintrat, war mir klar,
dass es sich um einen Männerhaushalt handelte. Irgendwie roch es nach
Männerhaushalt. Ein typischer Alte-Leute-Geruch, muffig und kalt, doch
ohne die Geruchspartikel von Putzmittel oder WC-Frisch, wie es Frauen dieses
Alters verwenden würden. An der Garderobe hingen zwei Sportjacken und
auf der Hutablage lag seine Schirmmütze mit dem Logo von adidas. Ein
Mantel verriet mir, dass es hier eine Frau gegeben hatte. Ich spürte,
dass sie tot war. Der Mantel war bloß noch nicht weggeräumt
worden.
Ich frühstücke grad. Setz Dich doch!", sagte er.
Auf dem Tisch stand eine Tasse Kaffee, eine angebissene Scheibe Brot mit
Leberwurst lag daneben, ein Frühstücksei.
Kann ich Dir was anbieten? Ich habe awwer nur Neskaffee, den annern
vertag ich net."
Komisch, dachte ich. Im Obi verträgt er ihn.
Ja, gerne!", antwortete ich. Er setzte Wasser auf, nahm eine Tasse
aus dem Schrank, stellte sie auf den Tisch, gab zwei Teelöffel Kaffeeflocken
hinein, schloss die Dose wieder und fragte:
Oder willst Du mehr? Ich nehm immer nur zwei."
An der Wand über dem Küchentisch hingen Fotos, eine kleine
Bildergalerie, Momentaufnahmen mitten aus dem Leben, und für einen Moment
übernahm meine Phantasie die Regie. Ich sah die Frau, die einmal an
seiner Seite gelebt hatte, eine schöne Frau mit strenger Stirn. Kinder,
ihre Kinder, als sie auf dem Traktor mitfuhren oder mit Schultüte in
Pose gestellt. Menschen, die hier einmal zu Hause gewesen und, nach den Bildern
zu urteilen, hier einmal glücklich gewesen waren.
Lebst Du alleine hier?", fragte ich.
Die Frau is ja doch letztes Jahr gestorben.", antwortete er. Der
Krebs hat se regelrecht aufgefressen. Die Ärzte konnte nix mehr machen.
"
Eine schöne Frau!", sagte ich. Er sah, dass meine Augen an dem
Foto klebten.
Ja, damals war se noch schön. Eine Kölnerin, 'ne echte
Rheinländerin. Die hatte Temprament! Aber der Krebs hat se regelrecht
aufgefressen."
Wie alt war sie denn?", fragte ich.
Das ist die Umwelt...", antwortete er. Gott, es is ja doch heut
alles verseucht." Dann erzählte er von seiner Frau, wie sie sich kennen
gelernt hatten, wie sie gearbeitet habe. Sie habe den Hof im Griff gehabt
und eine gute Mutter sei sie auch gewesen. Immer wieder schwenkte er um zu
ihrer Krankheit und wie sie eingegangen sei. Meine Augen ruhten auf ihrem
Bild. Wäre sie mir begegnet, irgendwo im realen Leben, hätte sie
sicher meine Neugier geweckt. Ein wenig schmerzte es mich, wie er von ihr
sprach. Er lobte sie und hob sie in den Himmel, doch die Art und Weise, in
der er es tat, klang eher so, als ginge es um eine Kuh, die ihm verendet
sei.
Und jetzt lebst Du ganz alleine hier?", fragte ich.
Jo, ich komme schon zurecht. Gott, es muss ja doch irgendwie weitergehn.
Die junge Leut ham ja heutzudach kein Interesse mehr an so em Hof. ´S
rechnet sich ja auch net mehr. Gott, der Hof ist ja auch zu klein. Ich habe
immer bei Buderus gearweit, die Landwirtschaft lief nur newebei."
Hast Du Enkelkinder?", fragte ich und sah wieder nach der Gallerie.
Der Burghard...", er deutete auf eines der Bilder, der is nach
Stuttgart verheirat und die hawwe zwei Kinner, en Jung un e Mädche.
Die Sabine hat je doch keine. Die is in Kalifornien."
Er klopfte sein Ei auf, schälte es mit dem Teelöffelchen behutsam
in kleinen Häppchen aus der Schale und ließ diese lutschend auf
seiner Zunge zergehen. Es war wie ein spirituelles Ritual, zu dem man die
Hände falten mochte.
Als er damit fertig war, verabschiedete ich mich wieder. Eigentlich war ich wegen des Porsches hingefahren, das hatte ich ganz vergessen. Vorgefunden habe ich aber einen einsamen Menschen im Spagat zwischen zwei Welten, von denen er aber keine mehr erreicht. Einen Single einer im Aufbruch begriffenen Gesellschaft, im Niemandsland zwischen einer neuen Zeit, die aber nicht mehr die seine wird, und seiner eigenen verflossenen Geschichte, die er lediglich in ihren Fakten und Jahreszahlen begriffen hat. Identitätslos! Ein Prototyp eines Individuums auf dem Land, der bald in Serie geht, wenn einmal meine Generation in dieses Alter aufsteigt. Als ich wieder im Auto saß, dachte ich an meine Großeltern, eine Generation, die ihr Alter noch im Kreis der Familie verbracht hatte, mit den Enkelkindern unter einem Dach gelebt hatte und dennoch ihrer Zeit treu geblieben war. Sie waren Geschichtenerzähler. Ihre Geschichten klangen wie Märchen aus Tausendundeiner Nacht, nicht wie das Jaulen eines angeschlagenen Hundes, der den Trends der Jungend hinterherhinkt. Ich drehte mit meinem Auto, sah noch einmal nach der Kette des Hundes, nach den versiegelten Fenstern, sah ihn, Willi, in seinem Radlerlook auf der Treppe stehen. Eine Hängepartie zwischen Gestern und Morgen in einer schnelllebigen Zeit, dachte ich. Es war keine Depression, aber für einen Moment war ich vom Gedanken an mein eigenes Alter angeschlagen.
Redaktion und HTML: W. Näser, MR; Stand: 2.4.2k8