Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * 2002 ff.

Seibert, Dietmar (*1961): Zum Schluss ist es immer das Herz"
(Halle: Projekte-Verlag Cornelius 2007; alle folgenden Textproben mit frdl. Genehmigung des Autors)

1961 geboren, wächst Seibert in Eibach bei Dillenburg auf, absolviert eine Lehre als Bürokaufmann, leistet anschließend Zivildienst, bildet sich im Beruf des Kaufmanns weiter bis zum Betriebswirt, entdeckt seine Liebe zur Musik. Klavierstudium bei Prof. Helmut Weinrebe (Musikhochschule Köln). Als Betriebswirt arbeitet er im Geschäftsführenden Vorstand eines Trägers von Sozialen Einrichtungen, betätigt sich auch nebenamtlich als Kirchenmusiker.

Heute lebt Seibert in Herborn und arbeitet als freischaffender Pianist und Klavierlehrer in Dillenburg, Gießen und Marburg, auch gestaltet er Seminare für Improvisation am Klavier. Er wirkte mit bei den von Wolfgang Schult geleiteten Bachwochen Lahn/Dill sowie in Liedbegleitung an Rundfunkaufnahmen. Zur Zeit arbeitet er hauptsächlich freischaffend als Autor.

Seibert ist engagierter Pädagoge, erprobt im Klavierunterricht spezielle didaktische Verfahren, die den senso-motorischen Fähigkeiten blinder Schüler/innen entgegenkommen. In Sorge um die Zukunft der gymnasialen Bildung schreibt er angesichts gegenwärtiger Experimente u.a.: "Seit Jahren wird nun eine ganze Schülergeneration mit Reformen geknebelt, die sich als nichts weiter erweisen, als undurchdachte Experimente, durchgeführt auf den Rücken der Kinder (...). Ich beobachte schon seit Jahren, dass immer häufiger Schüler, sobald sie die Gymnasien besuchen, in ihrer Entwicklung Schritte zurück gehen, verstört sind und am Ende der 5. Klasse zu kognitiven Leistungen nicht mehr fähig sind, zu denen sie in der 4. Klasse noch fähig waren. (...) Lernstoffe werden nicht durchdrungen und akzeptable Noten täuschen über Defizite hinweg. Der Maßnahmencocktail von U-Plus und G8 wird diesen Trend fortsetzen. (...) Beschämend, dass schon jetzt die anspruchsvolleren Studiengänge an deutschen Musikhochschulen kaum noch von deutschen Studenten belegt werden können. Erstaunlich, wie ein Land seine Kultur verliert, man merkt es kaum. Um es mit einem renommierten Kapellmeister zu sagen: "Beethoven gehört längst den Japanern", und es ist nicht die Schuld der Kinder."


I. Dokumentation zur Lesung am 7. November 2007 im Rahmen von "Deutsch im 20. Jahrhundert"
(Hörsaalgebäude der Philipps-Universität Marburg, Raum 207)

Die folgenden Textauszüge wurden vom Autor dargeboten, dazu meine (bearb.) Tonaufnahme (Teil 1 / Teil 2a / Teil 2b / Teil 3a / Teil3b Teil 4a / Teil 4b / Teil 5). Am 21. Dezember 2007 wurden sie mir vom Autor zur Publikation in dieser Seite übergeben.

Bei „Zum Schluss ist es immer das Herz“ handelt es sich um einen psychologischen Roman. Er beschreibt die Lebenskrise eines Gymnasiallehrers, die durch den Schlaganfall der Mutter ausgelöst wird. Auf der Suche nach einem Pflegeplatz für sie kommt er in das Altenheim, in dem er vor über 20 Jahren seinen Zivildienst leistete. Die Auseinandersetzung mit dem Pflegenotstand dort und die Gedanken, die immer wieder um sein eigenes Alter kreisen, verändern ihn schließlich selbst. Im Zwiespalt zwischen empfundener Verantwortung einerseits, und Selbstschutz andererseits, geht er eine Liebesbeziehung zu der Pflegerin Maria Salvatori ein. Sie ist Halbitalienerin. Später wird sie zu seinem verlängerten Arm an seiner Mutter werden, als es um die Frage nach aktiver Sterbehilfe geht. Der Titel „Zum Schluss ist es immer das Herz“, der zunächst mehrdeutig klingt, ist aber lediglich eine Floskel, der sich gegen Ende des Romans eine Pflegekraft bedient, in einer Situation, die ich aber jetzt nicht verraten möchte.

Text 1: Eingangsszene bis Seite 9
[dazu Tonaufnahme Teil 1]

Seniorenresidenz“ stand jetzt über dem Eingang. Die Trauerweide an der Straße war gefällt. Auf der weiß gestrichenen Fassade blitzte das gelbe Logo unter den schuppig aneinander gereihten Balkonen, dahinter der kleine Park. Noch waren die Bäume kahl, und obwohl es heute in Strömen goss und betongrauer Himmel schwer auf das aschfahl schimmernden Schieferdach drückte, versprach alles hier einen erfüllten, einen sonnigen Lebensabend, hier, im stilvollen Ambiente, wenn erst einmal der Frühling eingezogen wäre.  Damals nannte man sich schlicht „Altersheim“, und in seinem Inneren las er den bescheidenen Schriftzug von damals. Er las ihn wie einen Wegweiser, der einem am Ende einer langen Strecke signalisiert, dass man wieder zu Hause angekommen ist.

Es war ein fast vergessener Ort für ihn. Und jetzt warf ihn dieser Anblick zwei Jahrzehnte in seinen Erinnerungen zurück. Hinter diesen Mauern absolvierte er damals seinen Zivildienst. Sollten sie jetzt die zentrale Kulisse für einen langen, vielleicht schmerzlichen Abschied von seiner Mutter abgeben? Ein schwarzer Morgen.

Erschöpft von der langen Fahrt und dem Stau auf der A 5, stellte er nun den Motor ab und überquerte unter dem Schutz seiner Jacke die Straße, schüttelte den kalten Regen ab. Schon diese Eingangshalle war mit so vielen Erinnerungen behaftet. Jetzt nahm er auch wieder jenen in den Altenheimen üblichen Geruch wahr. Eine Mischung von Essen aus der Küche, durchsetzt mit stets schwachem Urinduft und den ihn überdeckenden Desinfektionsmitteln.

Sein Zivildienst musste - er verglich die Jahreszahlen - ja vor nun schon 23 Jahren gewesen sein! Ein flüchtiger Blick über die Kunstdrucke an den Wänden. Ihr Arrangement und die Dekorationen auf den Fensterbänken trugen eine andere Handschrift. Die Stempeluhr! Sie gab es also wieder! Damals wurde sie doch aus Überzeugung abgeschafft und die Dienstzeiten des Pflegepersonals sollten auf den Stationen verwaltet werden.

Er hätte nie geglaubt, dass ihn sein Leben noch einmal hierher führen würde...

„Kann ich Ihnen helfen?“

Erschrocken wandte er sich um. Eine junge Frau, hübsch anzusehen, schlank und zierlich, in dunkelblauem Kostüm und mit rotem Halstuch, war ihm aus der Rezeption gefolgt. Ein Namensschild im gleichen Rot war auf ihre Brusttasche genäht: Frl. T. Kramer. Ja sicher, er hätte am Fenster der Anmeldung klingeln müssen. Sie lächelte hilfsbereit, hielt noch einen Kugelschreiber in ihrer Hand.

„Thomas Wegener“, stellte er sich vor. „Ich hatte einen Termin mit Schwester Elke wegen...“

„Ich rufe sie, einen Augenblick bitte“, unterbrach sie ihn, ging wieder zurück in ihr Büro, griff zum Telefonhörer und während sie mit Schwester Elke telefonierte, schaute er durch den Spalt der halb geöffneten Tür. Hier hatte sich nichts verändert. Die Regale, die Schreibtische, alles war beim Alten geblieben. Lediglich standen jetzt Monitore dort, wo er noch Schreibmaschinen kannte.

Sie bat ihn, gegenüber der Rezeption im Empfangsraum Platz zu nehmen, Schwester Elke würde gleich hier sein. Er kannte den Raum. Nein, nein, er wolle sich hier ein wenig die Beine vertreten, erklärte er und fügte entschuldigend hinzu, ihm täte ein wenig Bewegung gut, der langen Fahrt wegen.

Nun forschte er auf der Tafel gleich neben der Rezeption zwischen den aufgelisteten, nach Stationen geordneten Namen nach Überlebenden der letzten 23 Jahre. Überlebende, schmunzelte er. Es war ein Altenheim und sein Zivildienst lag ein knappes Vierteljahrhundert zurück. Es war also unwahrscheinlich, dass er jetzt noch Bewohner aus dieser Zeit antreffen würde.

Die Einteilungen der Stationen waren offensichtlich anders als zu seiner Zeit, soviel ging aus der Tafel hervor. Doch jetzt stieß er tatsächlich noch auf einen ihm bekannten Namen: Elisabeth Pulk. Er wiederholte den Namen leise: „Elisabeth Pulk, Zimmer 117!“

Er steckte die Hände in die Hosentaschen, wurde nachdenklich. Sie lag nun auf der Pflegestation. Die Hunderterstelle gab das Stockwerk des Zimmers an und im ersten Stock war eine Pflegestation. Sie musste jetzt weit über achtzig sein. Ihr ganzes Leben hatte sie in diesem Haus verbracht. Man hatte ihm erzählt, dass sie als Kind hier aufgewachsen war, hier im „Waisenhaus“, wie es zu der Zeit noch hieß, als alte Menschen noch Abschied im Kreise ihrer Familie nahmen und nur wer niemanden mehr hatte und versorgt werden musste hierher kam.

Sie war körperlich behindert, kleinwüchsig. An der linken Hand waren Zeigefinger und Mittelfinger zusammengewachsen. Er sah sie vor sich, wie ihre Augen hinter den dicken Brillengläsern rollten wie Bleikugeln. Geschwätzig war sie, und sie petzte! Wie ein Kind in der 3. oder 4. Klasse steckte sie alles Oberschwester Leni zu, von dem sie glaubte, dass es sie interessieren könnte. In ihrer Gegenwart musste man vorsichtig sein. Aber sie konnte auch herzlich sein. Unter den Nationalsozialisten - hatte er gehört - wäre sie beinahe vergast worden, hätte in dieser Zeit schweres Leid erlitten, Vergewaltigungen darunter. Später wurde sie wohl hier in der Hauswirtschaft beschäftigt, danach verbrachte sie nahtlos ihren Lebensabend oben im Haus als Bewohnerin, jetzt offensichtlich als Pflegefall. Er werde sie aufsuchen, beschloss er. Ob sie ihn noch kennen würde?

Dann ging er doch zum Empfangsraum. Er dachte noch an Elisabeth. Ja, er war damals per Du mit ihr, jeder war es. Er setzte sich nun in einen der mächtigen Ledersessel und erst jetzt bemerkte er, dass jemand in der Ecke auf einem Stuhl saß, ein eingefallenes Gesicht mit kindlichen Augen, die ihn fixierten. Ein Heimbewohner! Nicht hinschauen, dachte er, griff nach einem der ausgelegten Prospekte. Sein Beobachter allerdings ließ nicht von ihm ab, starrte ihn unentwegt an, grinste schließlich ... und lachte. Demenz, da gab es keinen Zweifel. Bloß nicht reagieren! Wer weiß, auf was man sich da einlässt? Und dennoch haderte er beschämt mit seiner Beklemmung diesem Menschen gegenüber, die ihn augenblicklich wie eine Lähmung befiel. Sie überwältigte ihn wie der Schlaf, gegen den man sich bei einem Krimi zu später Stunde vergeblich zu wehren versucht und dem man schließlich doch unterliegt. Es war wieder die gleiche Hemmschwelle, die er auch damals bei Antritt seines Zivildienstes überwinden musste. Damals ging es nach einer Weile, doch jetzt wollte er nicht wieder in die weiße Hose des Zivildienstleistenden schlüpfen. Es lohnte sich jetzt nicht. Es lohnte sich nicht, um dieses Momentes willen gegen sich anzugehen, und sicher würde Schwester Elke gleich hier sein. Vielleicht später, wenn seine Mutter hier eingezogen sein würde, wenn er sie besuchen würde, ja, vielleicht dann würde er sich auf Gespräche mit den Bewohnern einlassen. Aber jetzt lohnte es nicht.

Er war inzwischen wieder aufgestanden und erneut zur Tafel gegangen, um nach weiteren Überlebenden zu suchen. Der verwirrte Bewohner hatte ihn verschont. Er erinnerte sich nun an so manchen Namen, der freilich nicht mehr auf der Tafel stand.

Die Korridortür knallte, und eine Mitarbeiterin aus der Küche schob einen Essenwagen an ihm vorbei. Sie trug das gleiche Halstuch wie die junge Frau an der Rezeption, allerdings in gelb mit dem passenden Namensschild auf dem Kittel. Er öffnete ihr die Tür zum Durchgang in Richtung Küche. Dass sie dort arbeitete, schien ihm schon allein ihrer unkontrollierten Figur wegen ersichtlich. Schon damals schien man den Fettgehalt im Speiseplan am Hüftumfang des Küchenpersonals ablesen zu können und ohne Rücksicht auf Pflegepersonal und bettlegerische Bewohner und deren offene Wunden kochte man hier, als würde man sie für ihren letzten Gang mästen müssen. Ihr fiel es sichtlich schwer, ihren übergewichtigen Körper im Lot zu halten. Sie schwenkte bei jedem Schritt mit ihren Hüften weit aus, schaukelte ihren Oberkörper dem Pendel ihrer Hüften jeweils entgegengesetzt und balancierte so die entstandene Unwucht in ihrem Gang wieder aus, was bei gleichzeitigem Abbremsen des Essenwagens auf dem leicht abschüssig geneigten Boden zur Küche hin wie eine Schwerstbehinderung aussah.

Als er die Tür hinter ihr geschlossen und sich seiner eigenen gemäßigten Figur versichert hatte, besann er sich seiner früheren, eher gelockerten Sicht auf dieses Thema. Damals verteidigte er bei Dienstbesprechungen die Überzeugung, Leute vom Land schätzten halt üppige Kost, bestünden auf Speck und Sülze, und selbst wenn die ausgehungerte Kriegsgeneration irgendwann doch wieder ein gesundes Gefühl für Körper und Ernährung bekommen sollte, sähe er keinen Grund, weswegen man in seinem letzten Lebensabschnitt noch auf seine Figur achten sollte. Was bliebe ihnen denn sonst noch am Leben? Aber jetzt dachte er auch an seine Mutter, die er nun hier unterbringen wollte, die hier ihren letzten Lebensabschnitt antreten würde, da es zu Hause mit ihr alleine wirklich nicht mehr ging.

„Ach der Thomas!“, platzte da eine schrille Stimme in seine ins Gewissen versunkene Gedanken. „Dachte ich doch, dass es unser Thomas Wegener ist!“

Schwester Elke! Er erkannte sie wieder. Die Elke von der Pflege I, die haben sie hier zur Pflegedienstleitung gemacht, und er streckte seine Hand nach ihr aus.


Inzwischen ist seine Mutter in die Seniorenresidenz eingezogen und Thomas erfährt Stück für Stück, wie viel Täuschungskraft in diesem wohlklingenden Namen „Seniorenresidenz“ steckt. „Es sind keine Residenzen....“, sagt er später. „Es sind schattige Winkel, in denen wir am Ende unseres Lebens versteckt und unauffällig unsere Enttäuschungen aushauchen.“ Noch ist er hoffnungsvoll und sieht nach vorn. Er kommt er aus dem Stationszimmer, eine Schwester Inge (die Stationsleitung) hat ihn über den Zustand seiner Mutter aufgeklärt. Er geht ins Zimmer seiner Mutter. Dort hält der auktoriale Erzähler die Kamera in seinen Kopf und sieht ihm beim Denken zu. Der Text behält zunächst die Sprache des Erzählers bei, die aber keineswegs anonym ist. Sie bleibt stets nah an den Gedankengängen des Protagonisten.

Text 2: ab Seite 13 „Im Zimmer seiner Mutter... bis Seite 21 „...seine innere Zufriedenheit mit sich und seinem Leben wieder herzustellen.“
[dazu Tonaufnahme Teil 2a / Teil 2b]

Im Zimmer seiner Mutter schloss er hinter sich die Tür. Schwer atmend lag sie da, der Mund stand offen, die Augen trüb. Er gab ihr etwas Tee aus der Schnabeltasse. Sie schluckte nicht. Tee lief aus ihren Mundwinkeln. Er wusch ihn mit dem Tuch ab, das er mit der anderen Hand unter ihr Kinn hielt, warf einen Blick auf ihre Mitbewohnerin im Bett gegenüber und setzte sich schließlich auf den Balkon des Zimmers. Es war ein außergewöhnlich warmer Tag für diese Jahreszeit. Er überlegte, welche Schritte er als nächstes einleiten müsse, machte sich eine Liste und legte die Vorgehensweise fest, in der er den nicht zu übersehenden Berg an Papierkram und nicht zuletzt die Auflösung ihres Hausrates zu bewältigen gedachte. Die Auflösung ihres Hausrates stellte er zunächst einmal zurück und hoffte, er würde dadurch einen freien Kopf für die nun primär anstehenden Angelegenheiten bekommen, was ihm jedoch nicht gelang. Jetzt stand seiner Mutter hier nur ein Pflegeplatz in einem Zweibettzimmer zur Verfügung, eine Übergangssituation also. Ihr Zustand sei ungewiss, sagten die Ärzte, und so erhoffte er sich natürlich eine Besserung. Vielleicht würde sie ja wieder auf die Beine kommen und zurück in ihr Haus können? Soviel war ihm klar, er musste diese Entscheidung schon letztlich ihr überlassen, und doch erschien es ihm, dass es vielleicht aber auch nur eine Frage der Zeit sei, bis er es sein würde, der handeln müsse, und es nur gut sei, wenn er für diesen Fall einen „Plan B“ ausgearbeitet hätte. Er doch an das Haus. Bevorzugt spielte er mit der Alternative, es zu vermieten, um mit den Mieteinnahmen den über ihre Rente hinausgehenden Teil der Heimkosten zu finanzieren. Hierzu müsste allerdings im Haus einiges umgebaut werden, worüber er aber jetzt zu grübeln abbrach. Die zweite Alternative, das Haus zu verkaufen, erschien ihm zu endgültig und rutschte daher auf den letzten Platz seiner Rangliste.

Vor ihm lagen nun Fragebögen, die ihm Elke bei der formellen Heimaufnahme in die Hand gedrückt hatte. Fragen nach beispielsweise Angehörigen, die im Notfall benachrichtigt werden sollten, ließen ihn routiniert seine Daten in die freien Felder kritzeln und für den Schwung seiner Handschrift war ihm der hierfür vorgesehene Platz entschieden zu eng, aber an Fragen nach der Art der Bestattung und den ausgefeilten Details der Patientenverfügung hing er nun überfordert fest.

Er klappte die Mappe mit den Fragebögen wieder zu und beschloss, sich am Automaten in der Empfangshalle einen Becher Kaffee zu holen. Vielleicht würde ihm ja Elke begegnen und sich daran erinnert fühlen, dass sie, wie er von Schwester Inge gehört hatte, seiner Mutter noch immer keinen Besuch abgestattet hatte. Schließlich war seine Mutter schon in der dritten Woche hier und soviel Wertschätzung brachte damals Schwester Leni - ihre Vorgängerin - doch den Bewohnern entgegen, dass sie die neu eingezogenen Heiminsassen, auch wenn sie nichts mehr mitbekamen, wenigstens zur Begrüßung mit einer Visite beehrte. Und so ging er zum Kaffeeautomaten, suchte in seinen Hosentaschen nach passendem Kleingeld und schnippte es in den Schlitz. Der Automat nahm brummend und zischend seine Bestellung entgegen, spie einen Becher aus, sabberte ein schwarzes Konzentrat hinein, spritzte Wasser hinzu, röchelte, Relais schalteten, klacksten. Er wartete den letzten Tropfen ab, aber die gewünschte Milch blieb aus. Er kehrte wieder zurück, vorbei an Elkes Büro, wechselte den heißen Becher von der linken in die rechte Hand, versetzte ihn in leichte dem Rhythmus seiner Schritte entgegengesetzte Drehbewegungen, damit er nicht überschwappte, im Zimmer seiner Mutter stellte er ihn rasch ab. Elke war ihm nicht über den Weg gelaufen. Seine Mutter schlief nun fest, und er setzte sich wieder nach draußen.

Während ihm nun der Kaffeeduft in die Nase stieg, dachte er an seine Begegnung neulich mit Elke. Er fand es nun amüsant, wie ähnlich sie Schwester Leni geworden war. Bei der Heimaufnahme saß sie – genau wie Schwester Leni damals bei seiner Vorstellung zum Zivildienst - wie eine Ikone der Barmherzigkeit hinter ihrem Schreibtisch und signalisierte Mitleid. Die Beherrschung dieser Geste, schmunzelte er, sei wohl die bedeutendste Voraussetzung für eine Karriere in diesem Beruf. Ihm war aufgefallen, dass Elke, während sie mit ihm redete, nicht damit aufhören konnte, mit ihrem Schlüsselbund zu spielen. Kaum dass sie ihn rasselnd abgelegt hatte, griff sie aufs Neue nach ihm und irgendwie lag, wie er nun empfand, Macht in dieser Gebärde. Doch wenn sie redete, benutzte sie das gleiche demütige Vokabular wie Schwester Leni damals, schwoll im gleichen fürsorglichen Tonfall und erst im weiteren darüber Nachdenken befand er, dass es wohl am ehesten die Motivationsstrukturen waren, die beide doch unterschieden. Während Schwester Leni ihren Dienst noch ganz im Zeichen der Diakonie verstand, sie war Diakonisse vom alten Schlag, trug noch Haube und Schürze, betete mit den Heiminsassen, und verwaltete jeden Neuankömmling, ob Bewohner oder Personal, zunächst einmal als potentielles Missionsfeld, hatte Elke ein eher medizinisches, ein - wie sie betonte - professionelles Verständnis von ihrer Arbeit. Sie versuchte ihn mit ihren eingeübten Fachausdrücken aus der Pflegewissenschaft zu beeindrucken, was jedoch gegenüber ihrem ansonsten eingeschränkten Wortschatz wie eine zu spät gelernte Fremdsprache wirkte. Aber beide verstanden es, ihre Umgebung an sich zu binden, indem sie ihre persönlichen Sorgen und Nöte nach außen trugen. Sie beherrschten es in geradezu akribischer Perfektion, ihre Gegenüber einzuwickeln, indem sie sie teilhaben ließen, sie einbezogen in ihre persönlichen, seelischen Desaster und übertrugen ihnen so eine Mitverantwortung an ihrem inneren Gleichgewicht. Man fühlte sich schuldig, wenn man, in welcher Sache auch immer, gegen sie vorging, ob man nun Recht hatte oder nicht. Sie ernteten auf diese Weise Nachsicht auf allen Ebenen und das, wie man sah, mit Erfolg.

Als Elke ihm gegenüber aber über die Auswirkungen der Pflegeversicherung auf die Seniorenresidenz referierte, wirkte sie wieder kompetent. Er grinste, denn immer dann, wenn ihre Sätze ihre nun erworbene Position unterstrichen, überlud sie sie mit Superlativen. Thomas wusste also jetzt, dass sie Pflegewissenschaft studiert hatte und unter welch widrigen Umständen sie das zustande gebracht hatte. Er konnte sich allerdings des Eindrucks nicht erwehren, dass eigentlich nur das es war, was sie ihm stecken wollte. Für seinen Weg nach seinem Zivildienst, hatte sie sich kaum interessiert, nur beiläufig nachgefragt. Der Antwort, zu der er ausholen wollte, wäre sie sicher nicht gefolgt. Wenn er einen Satz abbrach, bemerkte sie es nicht einmal. Wie sie schilderte, hatte sie zwar unter völlig anderen Vorzeichen, die Stelle von Schwester Leni übernommen, aber - und davon war sie überzeugt - sie würde alles anders machen. Soviel war ihm aber in den letzten Tagen hier schon klargeworden: Sie kopierte inzwischen Schwester Leni, und das so exakt, dass sie sogar ihren Gang imitierte. Sie pendelte jetzt mit dem linken Arm, wenn sie ging, während sie mit wohlwollend prüfenden Blicken an sich herunter strich. Gelegentlich warf sie im Vorbeigehen entdeckte Mängel in zart verpackten Worten in die Dienstzimmer und kommentierte sie mit ihrem ach so sorgenvollen Blick. Eigenarten, die sie doch damals an Schwester Leni so gehasst hatte, er erinnerte sich an ihr Geraune darüber, als er ein oder zweimal auf der Pflege I mit ihr Dienst hatte.

Jetzt sah er wieder die Mappe mit den Formularen vor sich liegen, die sie ihm gegeben hatte, seine Checkliste war auch darunter. Aber so unausweichlich ihm die Beschäftigung damit auch erschien, nichts löste jetzt jenen energischen Griff nach ihr aus, den er sonst von sich kannte, wenn er zum Korrigieren von einem Stapel Klassenarbeiten zu einem nächtlichen Marathon durch Wurzelgleichungen, Funktionen und Logarithmen ausholte. Einmal in Gang gekommen, fand er dann keine Ruhe mehr, bis das gesteckte Ziel erreicht und der Stapel abgearbeitet war. Er war Lehrer für Deutsch und Mathematik. Oberstudienrat! Und zum ersten Mal war ihm dieser Status wichtig. Mathematik, ja, das war sein Fachgebiet. Aber Erdbestattungen, Feuerbestattungen?

Er stellte seinen Kaffeebecher neben die Mappe, suchte in seiner Jacke nach Zigaretten - vergeblich. Sie müssten noch im Auto liegen. Er drehte sich nun um und wollte durchs Fenster nach seiner Mutter sehen. Im Spiegel der Glasscheibe sah er aber sich, sah in sich das Kind, den kleinen Jungen Thomas verzweifelt vor seinen Hausaufgaben sitzen. Nur verlangte ihn damals nicht nach Zigaretten. Es waren der Durst, oder der Druck auf die Blase, die ihn von den Aufgaben ablenkten. Ja, er hatte damals schlechte Lehrer, entschuldigte er vor sich selbst, jedoch mit der unausgesprochenen Gewissheit, dass er damals aber auch ein schwacher Schüler war, Angst hatte vor den Klassenarbeiten und den Demütigungen durch schlechte Noten. Immer wurden Arbeiten an solchen Tagen geschrieben, die ihm heilig waren. Er erinnerte sich nun, dass ihm in drei aufeinanderfolgenden Jahren sein Geburtstag durch desaströse Klassenarbeiten verregnet wurde und schon Tage vorher die aufkeimende Vorfreude. Damals saß Holger neben ihm. Holger, der stets heulte, wenn er eine schlechte Note schrieb. Er hätte sich diese Blöße nie gegeben, dachte er, und wenn der Schmerz und die Enttäuschung noch so sehr ins Mark getroffen hätten.

Er sah nun in die spiegelnde Scheibe, und korrigierte die geduckte Haltung des Jungen, zog die Schultern hoch und lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander, was ihm wieder Sicherheit verlieh. Schon lange hatte er nicht mehr an diese Zeit gedacht. Hatte die Mappe nun diese düsteren Erinnerungen ausgelöst und die Vernarbungen der kindlichen Seele wieder freigelegt? Hatten ihn, durch seine Unfähigkeit, sich mit diesen Fragen auseinander zu setzen, die Versagensängste seiner Kindheit wieder eingeholt? Hatte er sie je ganz hinter sich gelassen? Oder war es die Angst vor der konkreten Auseinandersetzung mit dem nahenden Verlust seiner Mutter, der einzigen Kontaktfläche zu seiner Kindheit? Sein Vater war bereits vor Jahren bei einem Verkehrsunfall gestorben, Geschwister gab es nicht.

Er griff nun nach seinem Kaffee, griff zu fahrig nach ihm, kippte ihn um und der Kaffee floss über den Tisch, tropfte herunter. Dann sah er den nassen Fleck an seinem Hosenbein, man könnte meinen, ein Hund habe ihn angepinkelt. Er löschte die Spritzer von der Mappe, indem er mit seinem Ärmel darüber fuhr und stieß einen Fluch aus. Auf dem Nachbarbalkon stand eine Pflegerin und lachte und erst als sie wieder hineingegangen war, fiel ihm auf, dass sie hübsch war. Er hatte hier noch nie eine so schöne Frau gesehen und es war ihm unangenehm, dass sie ihn in dieser Situation belächelt hatte.  

Am nächsten Tag reiste er ab. Elke hatte zwar organisiert, dass er, immer wenn er seine Mutter besuchen würde, eines der schmucken Gästezimmer günstig bewohnen konnte, doch in den meisten Angelegenheiten seiner Mutter konnte er jetzt nichts ausrichten und das Nachdenken hier bekam ihm nicht. Als er schließlich in seinen schwarzen Jeep stieg, war er wieder ganz er selbst. Der dicke verchromte Metallbügel vor der Haube und der PS-starke Motor gaben ihm jetzt wieder die Kraft und den Schwung zurück, die er hier verloren geglaubt hatte. Er genoss es, wie die Pferde unter seiner Haube den Koloss beschleunigten und ihn in den Sitz pressten. Nur selten belastete ihn noch der Spritverbrauch. Er hatte damals gesagt, man habe bei solchen Entscheidungen auch eine ökologische Verantwortung. Er selbst hätte sich für diesen Wagen niemals entschieden. Sie betrieben aber ein Restaurant in der Inselstadt Lindau. Nein, seine Frau und ihr Bruder betrieben es. Es war ein Familienbetrieb mit Tradition und unter den Geschäftsleuten von Lindau waren solche Statussymbole eben von Nöten, da konnte man nichts machen.

Seine Frau war eine äußerlich sehr durchschnittliche Erscheinung, flachgesichtig, blass und hatte breite Schultern, ansonsten war sie aber eine eher hagere Gestalt. Er mochte sie. Sie war scheu und zurückhaltend, doch eine wahre Rakete, wenn es darum ging, irgendetwas durchzusetzen, was dem Wohl ihres Restaurants diente. Ja, sie hatte sich in den Jeep verguckt und er hatte zugestimmt, weil sie ihm gefiel, wenn sie so begeistert war. Sie beide waren inzwischen ein eingespieltes Team geworden und lebten eine „ausgewogene Beziehung“, wie er es nannte. Gelegentlich allerdings probierte sie sich aus in zu exklusiven Frisuren, die ihr aber nur selten standen. Er hielt sich mit den geforderten Lobeshymnen zurück. Darüber konnten sie Streit bekommen. Ja, sicher, dachte er dann, sie wollte ihm gefallen, aber die große, wilde Leidenschaft war sie nie gewesen. Es war wohl eher die Geborgenheit ihrer Familie, die ihn damals angezogen hatte, als er als Referendar bei ihnen ein Zimmer gemietet hatte und wie ein Familienmitglied aufgenommen und umsorgt wurde. Er hatte stets darunter gelitten, ein Einzelkind zu sein. So sehr hatte er sich Geschwister gewünscht, doch er stand immer mit allen Problemen alleine da. So auch jetzt. Die ganze Organisation um den Zusammenbruch seiner Mutter und die Trauer darüber, alles lastete nun auf seinen Schultern und fand in ihm alleine statt. Die Familie seiner Frau, die hielt zusammen. Die vier Geschwister hatten zwar äußerst unterschiedliche Interessen und verteidigten gegensätzliche Weltanschauungen, manchmal konkurrierten sie miteinander wie junge knurrende Wölfe, aber wenn es drauf ankam, waren sie füreinander da, halfen allesamt bei Engpässen im Restaurant und bürgten füreinander bei den Banken. Immer häufiger fühlte sich Thomas wie ein streunender Hund in diesem Rudel, aufgenommen, beschützt und verteidigt, jedoch dem Rudel unterworfen. Er genoss die Privilegien der Familie, liebte ihre Wohnung mit Dachterrasse und Panoramablick über den Bodensee und den sich dahinter auftürmenden Alpen, aber in letzter Zeit beschlich ihn zunehmend ein Gefühl des Verlustes, ein Vakuum durch eine nicht gelebte Seite seines Selbst vielleicht. Es wurde wohl ausgelöst durch die zunehmende Abnabelung seiner mittlerweile volljährigen hübschen Tochter. Sie trudelte mit ihrem verliebten Freund mit neidauslösender Leichtigkeit durch die Wohnung. Sie liebten sich mit einer Leidenschaft, die er in seinem Leben nie zugelassen hatte. Er war damals auf der Suche nach Sicherheit, einem Rudel eben, und die lustvolle Seite der Liebe erschien ihm zu leicht, zu windig.

So wie er jetzt den Blinker zum Überholen auf der Autobahn setzte und vorbeizog, ja, so befand er sich seit seinem Studium auf der Überholspur und war nun vielleicht zu früh am Ziel angelangt, zu früh im Hafen von Lindau. Hier endete nun sein Weg, hier hörte die Autobahn auf und... Merkwürdig, dachte er, sein Weg hatte ihn irgendwie immer weiter von diesem Altenheim weggetrieben. Er dachte aber jetzt nicht an damals, auch nicht an seine Mutter. Es war die Pflegerin, die er auf dem Balkon gesehen hatte. Sie ging ihm nicht aus dem Kopf und wie die ständige Wiederholung eines entscheidenden Elfmeters in einem Länderspiel, spulte sein Kopf immer wieder die Sequenz ihrer flüchtigen Begegnung ab.

Im Zivildienst damals spielte er mit den großen Gefühlen, wagte aber keine feste Bindung aus Leidenschaft, der Angst wegen, er könne ja verlassen werden und würde dann den unerträglichen Verlust einer Liebe aushalten müssen. Fast jeder Zivildienstleistende verliebte sich damals mehr oder weniger in irgendeine Praktikantin oder Pflegeschülerin und manche von ihnen waren immer noch ein Paar. Er saß nun in Lindau sicher im Sattel, aber er saß fest, dachte er, und hatte Mühe, seine gewohnte Zufriedenheit mit sich und seinem Leben wieder herzustellen.


Thomas fährt zurück nach Lindau am Bodensee, wo er mit seiner Frau und seiner Tochter ein, für bürgerliche Verhältnisse, angenehmes Leben führt. Doch die Situation verändert sich: Gerd, ein langjähriger Freund, wird arbeitslos, es gibt Spannungen zwischen ihnen, die auf unterschwelligen Neid zurückzuführen sind. Da ist auf der einen Seite Thomas, mit der wirtschaftlichen Absicherung eines Beamten, der dazu noch die Privilegien einer angesehenen Familie genießt, und auf der anderen Seite Gerd, ein überqualifizierter Ingenieur im Bereich des Zeppelinbaus, der keine adäquate Arbeit findet und sein Haus verkaufen muss. Es kommt zu Wortgefechten mit Vorwürfen, die Thomas nachhaltig belasten. Dazu entgleitet ihm seine Tochter Melli zunehmend und die Buchhaltung des Restaurants wächst ihm über den Kopf. Mit Problemen im Gepäck reist er schließlich wieder zu seiner Mutter ins nördliche Hessen, und hier schließt der Text an:

Text 3: Seite 31 „Thomas hatte sich...“ bis Seite 39 „...in tiefen Schlaf fiel.“
[dazu Tonaufnahme Teil 3a / Teil3b]

Thomas hatte sich für die letzte Ferienwoche vorgenommen, wieder zu seiner Mutter zu fahren. Diesmal würde er eine ganze Woche dort bleiben müssen, sich einen Arbeitsanzug mitnehmen und sehen, was er in ihrem Haus schon einmal entrümpeln könnte. Einen Termin mit einem Makler stand an. Er wollte das Haus bewerten lassen, denn die Finanzierung der Heimkosten war immer noch nicht geklärt. Die Ärzte machten ihm keine Hoffnungen, dass sie jemals wieder dorthin zurückkehren könnte. Aber so sehr ihn das alles beschäftigte, in der Nacht, bevor er abreiste, träumte er von Elisabeth Pulk aus dem Altenheim:

Er befand sich dort und wollte, wegen des mittlerweile viel zu engen Personalschlüssels, aushelfen. Jemand wies ihn im Dienstzimmer ein und zeigte ihm die Tafel mit den kleinen farblich unterschiedlichen Steckkärtchen mit Buchstaben darauf. Sie standen für die verschiedenen Aufgaben, die bei jedem Bewohner erledigt werden mussten. Mittlerweile standen Monitore auf den Schreibtischen und man dokumentierte abrechenbare Pflegeleistungen, indem man mit einem Scanner über einen Balkencode fuhr. Aber dieses System in seinem Traum ähnelte dem aus seiner Dienstzeit und er stand nun vor dieser Tafel und schaute, welche Steckkärtchen in der Spalte „Elisabeth Pulk“ noch nicht entfernt worden waren. Jemand schien hinter ihm zu stehen. Ein Arm griff über seine Schulter, griff nach dem blauen Kärtchen mit dem Buchstaben B und hielt es ihm hin. Buchstabe B, er wusste es, stand für baden. Er sollte Elisabeth Pulk also baden.

Er drehte sich nun um, es war die Pflegerin, die er auf dem Balkon gesehen hatte. Aber sie erschien ihm irgendwie tot. Ja, ihr Blick war starr und leer, traf ihn nicht, durchbohrte den leeren Raum. Dann trat sie zurück, blieb ihm aber zugewandt, ohne auch nur im Geringsten diesen starren Gesichtsausdruck zu verändern. Keine Geste des Einverständnisses, einer Bitte oder einer Frage lagen darin. Schließlich wandte sie sich ab und ging. In seinem Traum war ihm aber klar, dass er Elisabeth neulich, als er ihren Namen auf der Tafel im Foyer des Altenheims gelesen hatte, unbedingt hatte aufsuchen wollen. Bis heute hatte er es nicht getan.

Der Traum ging weiter: Als er nun zu ihr ins Zimmer kam, saß sie dürftig mit einem Nachthemd bekleidet auf einem, ja, es war eine Art Treppengeländer. Sie war jetzt eine kleine Katze, eine kleine Maine-Coon-Katze, deren Körperproportionen, ihres dicken Fells wegen, der Größe des Kopfes gegenüber zu kurz geraten schienen. Er dachte daran, dass man sich damals an ihr vergangen hatte, als sie noch ein Mädchen war. Er wollte sie jetzt nicht dazu überreden, sich von ihm waschen zu lassen. Es ging jetzt nicht mehr darum, sie zu baden, sie sollte jetzt gewaschen werden. „Nein, nein, nicht Elisabeth!“, wehrte er ab. Das sollte doch lieber eine Frau übernehmen. Nun sprang sie herunter von dem Geländer und erschien ihm wie ein Mädchen im Vorschulalter, das streng nach Urin roch. Es wollte nicht gewaschen werden.

„Ich bin schon gewaschen worden!“ Es sprach jetzt mit einer keifenden Kinderstimme. „Es gab aber noch nichts zu essen!“ Es bestand darauf, dass es nicht nach Urin riechen würde. Entgegen seiner Überzeugung, beschloss er, es zu glauben.

Dann kletterte das Mädchen auf ein merkwürdiges instabiles Gerät, auf dem es Krankengymnastik machen wollte. Das Gerät verformte sich, während Elisabeth hinaufkletterte, und kippte um. Thomas griff nach ihr und hielt sie fest. Nun war sie wieder Elisabeth, hatte aber noch den Fuß eines Mädchens und ihm fiel auf, dass der verkrüppelt war.

„Warum hältst du mich so fest?“, fragte sie entrüstet.

Thomas wachte auf, sein Speichel hatte einen nassen, kalten Fleck auf seinem Kopfkissen gebildet und es beschämte ihn, dass er sie immer noch nicht aufgesucht hatte. Er werde es nicht mehr aufschieben, beschloss er, er werde sie diesmal besuchen.

Unterwegs auf der Autobahn ging ihm dieser Traum nicht aus dem Kopf und er wunderte sich, dass ihm Elisabeth wie eine Katze erschienen war. Noch mehr wunderte ihn aber, dass er ein so deutliches Bild von der Pflegerin gesehen hatte und dass sie ihm tot vorgekommen war. Obwohl er sie neulich auf dem Balkon doch nur flüchtig gesehen hatte, hatte sein Traum ein absolut klares Bild von ihr gezeichnet, und er kannte sie. Irgendwie war er vertraut mit ihr. Ihre Gesichtszüge waren mädchenhaft, sie erschien ihm kaum älter als 20 Jahre, obwohl er ahnte, dass sie älter war. Ihr dichtes Haar, schwarz und gelockt, trug sie jetzt offen und es fiel ihr bis über die Schultern. Es flossen wohl einige Tropfen italienisches oder spanisches Blut in ihren Adern und trotz ihres jetzt starren Blicks, verliehen die großen Wimpern den schönen dunklen Rehaugen weibliche Überzeugungskraft. Die Kälte in ihrem Blick allerdings versetzte ihm einen Schreck, der den Traum wie eine mystische Schwingung durchzog.

Nun sah er auf dem Beifahrersitz etwas liegen. Sicher, er wusste gleich, was es war: ein Kondom. Es war noch verschlossen. Er wollte aber jetzt nicht darüber nachdenken, wie und bei welcher Gelegenheit Melli und ihrem Freund Denis dieses Kondom verloren gegangen sein könnte. Sie beide waren zuletzt mit dem Jeep unterwegs und außer ihm und seiner Frau fuhr ihn sonst keiner. Aber es beschäftigte ihn jetzt doch, warum es noch verschlossen war. Nein, nein, sie müssen ja heute nicht mehr im Auto, sie können doch auf ihre Zimmer gehen, dachte er, und es sei ja nicht mehr wie bei ihnen damals. Dann setzte sich ein neuer Gedanke in seinem Kopf fest, der Gedanke, dass er Großvater werden könnte. Anfangs erschrak er vor dieser Aussicht, aber dann ... Er hatte eigentlich mehr als ein Kind haben wollen. Er selbst war als Einzelkind aufgewachsen, hatte darunter gelitten und litt bis heute. Er wollte auf keinen Fall seiner Tochter das gleiche Schicksal zumuten. Ein zweites Kind war aber damals für seine Frau nicht in Frage gekommen und manchmal hatte er den Eindruck, sie hatte nicht einmal das erste gewollt.

Wie sich Melli als Einzelkind fühlte, fragte er sich, während er den ihn überholenden Autos nachschaute. Er fuhr nun ein „sparsames“ Tempo, erinnerte sich an den Aufkleber, den er während seiner Zivildienstzeit auf seinem Auto präsentierte: „Tempo 100 - dem Wald zuliebe!“.

Damals hatte er noch Ideale. Nein, er hatte sie nicht aus dem Blick verloren, er war ihnen nur nicht weiter nachgegangen und vielleicht irgendwann resigniert stehen geblieben. Jetzt kannte er noch nicht einmal seine Tochter wirklich. Er konnte die Frage nicht beantworten, wie sie sich als Einzelkind fühlte. Er hatte sie nie danach gefragt. Aufgeklärt hatte er sie auch nicht. Hatte das ihre Mutter getan? Aber das konnte er sich nicht vorstellen. Melli hatte sich offenbar völlig an ihnen vorbeientwickelt und von ihnen bestenfalls gelernt, wie sie sie benutzten konnte, indem sie sie gegeneinander ausspielte. Bessere Verhältnisse als seine eigenen hatte er ihr nicht geschaffen. Er kannte sie wirklich nicht. Sie war ihm fremd geworden.

Zu seiner Mutter war sie nun auch nicht mitgekommen. Eine ganze Woche? Das sei ihr doch zu lange, hatte sie geantwortet, und er war ihr eigentlich dankbar, denn es wäre ihm ebenfalls zu anstrengend mit ihr gewesen. Vielleicht fühlte sie sich auch verpflichtet, ihm beim Räumen in seinem Elternhaus zu helfen, dachte er, und vielleicht wollte sie dem lieber ausweichen, wie sie jeglicher körperlicher Arbeit aus dem Weg ging.

Er erinnerte sich an die Meinung, die Gerd von ihr hatte und die er unter dem Druck von Korn und Bier so ungefiltert ausblies. Thomas wusste aber wohl, dass Gerd eigentlich ihn damit angreifen wollte. Melli kümmerte es auch offenbar nicht, dass es vielleicht kein nächstes Mal mehr geben könnte. Wie konnte sie so kalt werden? Sie mochte doch seine Mutter und hing an ihr, auch wenn sie sich nur selten sahen.

Er setzte nun den Blinker, überholte mit nicht mehr als 15 km/h Differenz einen LKW, kehrte wieder zurück in die rechte Spur, ließ die Raser vorbei, sah nun auch, wenn Kindersitze auf die Rücksitze geschnallt waren oder entsprechende Aufkleber auf eine Elternschaft der Fahrer hindeuteten.

Er fühlte sich als „Großvater“ und übte sich in diesem neuen Bewusstsein, sah sich aufrücken in die ältere Generation, die dann abtritt, sah entfernt den Turm des Ulmer Münsters, zündete sich eine Zigarette an, drückte den Stummel wieder aus, legte sich eine CD ein, aber die Fahrgeräusche erschienen ihm zu laut. Er fuhr langsamer, fuhr an einen Rasthof, nahm einen Espresso, fügte sich wieder ein in die Kolonne, die sich in Richtung Norden wälzte, sah die Silhouette von Rothenburg vor dem wolkenzerkratzten Himmel, vorbei an Würzburg, Aschaffenburg. Es regnete. Er schaltete die Scheibenwischer ein, wieder aus, überholte, wurde überholt, dachte nach und befand sich schließlich vor der Seniorenresidenz. Im zweiten Stockwerk sah er Frau Peter an ihrem Fenster. Sicher hielt sie wieder Ausschau nach ihrem Sohn, der aber nicht kam.

Er ging durch die Eingangstür, bat Tanja, die junge Frau an der Pforte, um den Schlüssel zu seinem, ja, nun schon seinem Zimmer. Sie trug wieder ihr blaues Kostüm mit dem roten Halstuch. Es sollte wohl eine Art Uniform sein, in der sich die Mitarbeiter jetzt präsentieren mussten. Er freute sich schon auf Tanjas wohlwollendes Lächeln, doch irgendwie wirkte sie heute verstört auf ihn.

„Ach ja, Herr Wegener“, sagte sie überrascht und doch schien sie ihn erwartet zu haben.

„Schwester Elke hat Ihnen doch sicher Bescheid gegeben, dass ich komme?“, hakte er nach.

„Ja, schon, aber sie wollte Sie eigentlich woanders unterbringen. Aber da ich bis jetzt noch keine Anweisung erhalten habe...“ Sie gab ihm den Schlüssel und er belohnte sie mit einem Lächeln.

„Nett von Ihnen, Tanja!“ Er sprach sie mittlerweile mit ihrem Vornamen an, blieb aber, wie er es bei seinen volljährigen Schülern tat, beim Sie. „Nett, dass Sie einem müden Pilger die ersehnte Dusche nicht länger versagen.“

Noch während er redete, dachte er, wie blöde doch dieser Satz war. Einfach nur geschwollen und peinlich. Er drehte sich noch einmal zu ihr um. „Sie bekommen doch keine Schwierigkeiten deswegen?“ Er fragte eigentlich nur zum Scherz und weil er wegen seines geschwollenen Satzes noch etwas Gewöhnliches zu ihr sagen wollte.

Sie antwortete: „Ich hoffe nicht, sonst müssen sie mir beistehen.“

Trotz ihrer neckische Antwort spürte er aber, dass sie verunsichert war. Sie hatte jetzt Schwester Elke empfindlich übergangen. Aber warum wollte ihn Elke unbedingt woanders unterbringen? Und wo? Es gab doch keine anderen Gästezimmer im Haus als diese und frei war sein bisheriges Zimmer doch offensichtlich auch.

Bevor sich Thomas nun ins Gästeapartment zurückzog, sah er doch kurz bei seiner Mutter vorbei. Hier gab es keine Neuigkeiten. Eine Schwester Sandra, die er aber nicht kannte, hatte sie frisch gelagert und wollte gerade ihr Zimmer verlassen.

„Sie sind sicher der Sohn.“, sagte sie.

„Ja, ich bin eben angereist und werde ein paar Tage bleiben.“

„Da wird sich ihre Mutter aber freuen.“

Er dachte nun, sie sei wieder ansprechbar und würde ihn vielleicht erkennen, er würde sich mit ihr unterhalten können, doch es war nur eine flüchtiger Hoffnungsspritzer, ein Blitz, der im Bruchteil einer Sekunde aufhellte und mit grollendem Donner in der finsteren Realität verschwand. Ihm wurde klar, dass diese Pflegerin einfach nur etwas sagen wollte und sich dieser Floskel bediente.

„Sie lagern ganz alleine?“, fragte er sie.

„Ja, ich bin alleine auf Station bis um vier.“

„Ist denn das erlaubt?“

Sie lief jetzt rot an. Er wollte sie aber nicht in Verlegenheit bringen und schob nach: „Wegen der körperlichen Belastung, dachte ich. Es gibt doch sicher Bewohner, die schwerer sind als meine Mutter.“ Er erinnerte sich, dass sie damals nur zu zweit lagerten, zumindest solche Patienten, die nicht mehr mithalfen und so steif waren wie seine Mutter jetzt. „Ist es mit meiner Mutter nicht zu schwer alleine?“, und bevor sie antworten konnte, bot er ihr an: „Ich bin drüben im Gästezimmer, ich würde ihr gern das Abendbrot geben. Wenn sie sie vorher noch einmal lagern, rufen sie mich ruhig. Ich helfe Ihnen.“

„Ja klar.“, sagte sie, sah ihn erstaunt an und ging. Offensichtlich hatte sie nicht vor gehabt, seine Mutter vor dem Abendbrot noch einmal zu lagern. Er ging nun auf sein Zimmer, stieg unter die Dusche und legte sich aufs Bett. Die Fahrt hatte ihn doch ganz schön mitgenommen. Die Stille hier, gelegentlich durchbrochen von dumpfen Geräuschen aus den Pflegezimmern unten oder der Baustelle drüben, bewirkte, das er einnickte und schließlich in tiefen Schlaf fiel.


In dem Gästeapartment gegenüber ist inzwischen die Pflegerin Maria Salvatori eingezogen, jene Pflegerin, die er auf dem Balkon gesehen hatte. Sie hat ihre eigene beklagenswerte Geschichte, zu der sie sich selbst im Text noch äußern wird. Sie ist auch der Grund, warum Schwester Elke ihn woanders unterbringen wollte. Er lernt sie kennen und allmählich kommen sie sich näher. Als sie seine Gefühle erwidert, fühlt sich Thomas vom Himmel belohnt. Im Folgenden sind sie bereits ein Paar, allerdings leben sie ihre Beziehung noch verdeckt. Sie sind unterwegs nach Italien um Marias Tante zu besuchen, und hier schließt der Text wieder an, mit einer kleinen Begebenheit, die für ihren Umgang miteinander noch von Bedeutung sein wird:

Text 4: Seite 51 „Sie schaute ihn schließlich an...“ bis Seite 157 „...zum seelischen Pflegefall.“
[dazu Tonaufnahme Teil 4a / Teil 4b]

Sie schaute ihn schließlich an. Ja, es machte ihn schon fast verlegen, wie sie ihn ansah. Sie fuhren durch eine der schönsten Gebirgslandschaften Europas, über die im Sommer wie im Winter Touristen wie die biblischen Heuschreckenschwärme herfielen, um sie in ihre Erinnerungen und Fotoalben aufzusaugen, und keine Region, kein Winkel zwischen Lindau und Flensburg schien abgelegen und verschlafen genug, um dass man nicht die Balkongeländer-, Blumenkästen- und Dachfrieskultur von hier dorthin transportiert hätte, aber sie schaute ihn an und sagte: „Du gefällst mir“

Sie genossen einander, hörten Musik, scherzten, lachten, erzählten, hielten an jeder Raststätte an, beobachteten genervte Familien, Kinder, die quengelten und nach McDonalds schrieen, Mütter, die an ihnen zerrten, Väter, die nach anderen Beinen starrten, frustriert, enttäuscht, und denen offenbar Maria nicht entging, Busse, die dauergewellte Rentnerinnen von Toilette zu Toilette schaukelten, und sie beide fühlten sich als verliebtes Paar in dieser illustren Gesellschaft als einzige Menschen auf dem Planeten von einer guten Fee geküsst, zogen links vorbei und tappten im Überholrausch kurz hinter der italienischen Grenze in eine Radarfalle.

Als sie die Kelle des blau uniformierten Poliziotto in den Parkplatz wies, spiegelte sich in Marias Gesicht der Schrecken des jüngsten Gerichts.

„Ich wusste es!“, sagte sie „Es dauert nie lange, wenn es mir mal gut geht.“

Sie stieg mit ihm aus und versuchte, in fließendem Italienisch zu verhandeln. Thomas war fasziniert, wie klangvoll sie Italienisch sprach, aber sie blieb erfolglos. Ihr Charme wollte nicht greifen und Thomas schien es, dass es wegen ihrer Angst war, die sie dem Ordnungshüter gegenüber nicht unterdrücken konnte, und dieser spielte jetzt ein niederträchtiges Spiel mit ihr. Thomas verstand nicht, was er redete, aber die Gestik, mit der er immer wieder in seine Richtung deutete, und der herablassende Ton in seiner Stimme, während seine Augen sie von oben bis unten lüstern musterten, verrieten ihm, dass sie sicher erfolgreicher gewesen wäre, hätte sie ihn, den Deutschen, nicht im Schlepptau gehabt.

Als sie wieder im Auto saßen, Thomas eine empfindliche Geldbuße in bar abgedrückt hatte, zerrieb sie sich mit Selbstvorwürfen. Sie sei Schuld daran. Sie habe ihn abgelenkt. Bis hin zu der mystischen Überzeugung, es sei ihretwegen passiert. Es sei die Strafe Gottes, die sie immer verfolge, wenn es ihr gerade mal gut ginge.

Thomas hatte Mühe, sie zu beruhigen und sie davon zu überzeugen, dass lediglich er es war, der eben zu schnell gefahren sei, basta! Sie treffe keine Schuld. Sie wollte ihm das Geld geben. Er verbot es ihr.

„Die Hälfte!“, sagte sie, und sie einigten sich auf einen Kuss zur „Sühne“ ihrer Tat.

Thomas fand es anrührend, wie sie sich zierte, und dachte noch: Welch eine liebevolle Seele! Er glaubte, er würde diese Szene bald wieder vergessen, aber etwas in seinem Gehirn hatte nun registriert, dass man diese Frau mit Schuldgefühlen lenken konnte. Es war jetzt noch ohne Bedeutung und es war ihm auch nicht bewusst, aber es war wie ein Virus, der nun auf einer Festplatte lauerte und irgendwann beim Öffnen einer bestimmten Datei die empfindlich aufeinander abgestimmten Programme ungewollt verschaltete.  

„Erzähl mir von deiner Tante. Wie ist sie so und was wird sie davon halten, wenn du einen anderen Mann mitbringst?“, sagte Thomas schließlich.

„Wenn sie dich kennen lernt, wird sie mich verstehen!“ Und in einem nachdenklicheren Ton fuhr sie fort, während sie in die vorbeifliegende Landschaft starrte: „Sie konnte meinen Mann nie leiden und hat nie verstanden, dass ich ihn geheiratet habe. Sie ist die Schwester meines Vaters. Sie hat nie geheiratet, weil ... Ich glaube, sie ist über eine frühe Enttäuschung nie hinweggekommen und versucht jetzt jeden zu bekehren, der dabei ist, sich durch eine Heirat ins Unglück zu stürzen.“

„Sie wird fürchten, dass ich dich heiraten will“, scherzte er. „Und sie wird dich vor diesem Unglück bewahren wollen.“

„Sicher nicht“, sagte sie und erzählte knapp:

„Mein Mann war jähzornig, er hat mich geschlagen. Sie wusste das. Sie wird sehen, dass du anders bist, und sie wird erleichtert sein.“

Maria befürchtete, dass Thomas jetzt nachhaken würde.

„Dein Mann hat dich geschlagen?“

„Ja“, antwortete sie und irgendwie wollte sie, dass er jetzt danach fragte.

Jetzt war ein guter Zeitpunkt. Sie fühlte sich von ihm geliebt und traute sich, sich ihm zu öffnen, und so fuhr sie fort:

„Und das war auch der Grund, warum ich meine Tochter nachts aus dem Bett gerissen habe. Sie wollte nicht. Sie wollte bei ihm bleiben, aber ich habe sie mitgenommen. Uns raste ein betrunkener Motorradfahrer ins Auto und sie starb im Krankenhaus. Mir war klar, dass ich sie auf dem Gewissen hatte.“

„Aber es war doch der Motorradfahrer! Nur er hat das zu verantworten.“

„Nein“, sagte sie. „Hätte ich sie nicht mitgenommen, wäre sie noch am Leben. Sie wollte bei ihrem Vater bleiben.“

„Aber du wolltest sie vor ihm schützen“, sagte Thomas.

„Ich wollte ihn verletzen. Mir ging es in diesem Moment um mich und um ihn, aber nicht um sie. Er hätte ihr nichts getan, das wusste ich. Er vergötterte sie.“

„Er hätte dich nicht schlagen dürfen“, verteidigte Thomas sie, aber sie schwieg.

„Er hat es zu verantworten, nicht du!“, schob er nach, aber sie sagte kein Wort mehr darüber, schaute aus dem Fenster, sah die ersten Olivenhaine an ihnen vorbeiziehen und lenkte das Gespräch wieder auf ihre Tante.

„Sie hat eine kleine Plantage mit Olivenbäumen, oben bei Pieve di Tremosine. Von ihrem Haus aus hat man eine wundervolle Aussicht über den Lago di Garda.“

Sie beschrieb ihm das Haus. Es hinge an einem abschüssigen Felsen. Marias Stimme verriet ihm aber, dass ihr zum weinen war, und sie fuhr sich mit der Hand vorsichtig unterm Auge entlang, prüfte im Spiegel an der Sonnenblende, ob ihre Wimperntusche verlaufen war. Jetzt schwenkte sie wieder um und knüpfte an ihre, wie sie meinte, Verantwortung für den Tod ihrer Tochter an.

„Darum bin ich Altenpflegerin geworden. Ich habe umgeschult und wollte wieder etwas gut machen.“

„Warum bist du nicht Kinderkrankenschwester oder etwas Ähnliches geworden?“

„Das hätte mich zuviel an sie erinnert. Aber Altenpflegerin war auch nicht der richtige Weg.“

„Warum? Ich bin froh, dass du´s bist. Es braucht dort Leute wie dich!“

„Aber ich weiß mittlerweile nicht mehr, ob es gut ist, was ich da tue, oder ob es nicht vielleicht schon kriminell ist.“

„Das klingt hart“, sagte er erstaunt.

„Ja, denn die Pflege, die wir mittlerweile betreiben müssen, ist zutiefst menschenunwürdig!“ Sie schaukelte jetzt unruhig mit ihrem Bein, wie sie immer schaukelte, wenn sie durch irgendetwas sehr erregte war. „Es ist nicht mehr so, dass man bei seiner Arbeit in dankbare Gesichter sieht, denen man durch freundliche Zuwendung vielleicht ihr letztes Lächeln auf den Mund gezaubert hat, und dann nach Dienstschluss mit einem guten Gefühl die Übergabe verlässt und sich auf die Schulter klopft und sagt: Was warst du heute für ein guter Mensch! Nein, es ist vielmehr so, dass man im Schlaf keine Ruhe findet, weil man unter Zeitdruck und Überlastung die einfachsten Zuwendungen wieder einmal nicht geben konnte. Man hat gewaschen, gelagert, Einlagen gewechselt, Wunden versorgt und wo ´s mit dem Essen nicht mehr funktionierte, Sondennahrung angehängt, wie am Fließband, und man hat dabei so manchen in seiner Einsamkeit ersticken lassen. Das zehrt an einem selbst, besonders dann, wenn man Zeit hat, zum Beispiel nachts, und über sein eigenes Alter nachdenkt und feststellt, dass man schon jetzt einsam ist. Man fragt sich jeden Abend, ob der Dienst, den man heute geschoben hat, nicht schon - zumindest moralisch gesehen - eine Straftat war.“

„Das klingt verbittert“, sagte Thomas. Er erinnerte sich an seinen Dienst damals und meinte: „Gerade in solchen Notständen kann jemand wie du doch positive Akzente setzen und ich bin sicher, dass du den alten Leuten gut tust.“ Er dachte, er könnte sie mit solchem Trost aufbauen. Sie sah ihn an, als ob sie zuhörte, also holte er weiter aus: „In meiner Zivildienstzeit …“

Sie unterbrach ihn schroff: „Deine Zivildienstzeit ist lange her. Du hast erzählt, dass ihr im Frühdienst mit drei und im Spätdienst mit zwei Pflegekräften für neun Bewohner zuständig wart, von denen sich zwei weitgehend selbst versorgten, weil sie lediglich blind waren. Wir versorgen zu viert 25 Bewohner und die liegen alle fest im Bett. Du unterrichtest doch Mathematik. Kannst du dir ein Bild davon machen, was sich da geändert hat? Klar sind pflegefremde Tätigkeiten, wie Brote schmieren und mal mit jemandem ums Haus gehen und ein paar Sätze reden, weggefallen, aber das gerade macht es ja so unmenschlich! Die Bewohner haben jetzt alle Nasszellen auf ihren Zimmern, aber sie liegen fest im Bett. Sie haben nichts mehr davon und uns fehlt die Zeit, um dafür zu sorgen, dass ihr Flüssigkeitsbedarf gedeckt ist. Man ist ungeduldig, wenn ´s mit dem Schlucken nicht schnell genug geht, und man schaut besorgt auf den Plan, wo die zugeführte Flüssigkeit eingetragen werden soll und wieder auf die Uhr. Verstehst du, was ich meine? Und das jeden Tag! Und mit jedem Tag gehst du selbst deinem eigenen noch perspektivloseren Alter entgegen, oder glaubst du etwa wirklich, dass die Verhältnisse besser werden?“

Thomas schwieg nun betroffen und nach einer Weile sagte sie - sie hatte sich wieder beruhigt: „Ich dürfte eigentlich bei dir so gar nicht reden, du bist ja schließlich Kunde mit deiner Mutter. Ja, schau mich nicht so an! In den Altenheimen, die privatisiert worden sind, sieht man das so. Da kann man sich ehrgeizige Konzepte nach Samariterart nicht leisten. Die dementen Alten werden sich nicht mehr beschweren und ihre Kinder und die Behörden sind lediglich an einer kostengünstigen Verwaltung dieses Elends interessiert. Es geht um ´s Überleben der Einrichtungen am Markt und um unsere Arbeitsplätze.“

Zeit verstrich und sie sagte: „Entschuldige, tut mir leid. Deiner Mutter ...“

Thomas unterbrach: „Ich bin froh, dass sie bei euch ist. Dass ihre letzte Lebensphase nicht angenehmer verläuft, als es jetzt der Fall ist, habe lediglich ich mir vorzuwerfen, nicht du.“

Und als ob eine Aufzeichnung seiner Stimme weiterredete, hörte er sich sagen:

„Ich bin sicher, dass du alles Menschenmögliche für sie tust.“ Während er es aussprach, erinnerte er sich, dass es die Worte seiner Frau waren. Sie hatte diese Formulierung ihm gegenüber verwendet, um sein Gewissen zu beruhigen.

Alles Menschenmögliche, dachte nun der Deutschlehrer in ihm, alles dem Menschen Mögliche ... Wie grotesk wirkte doch diese Redewendung in einer Sprache, in der man sie eben auch mit Begriffen wie „Konzentrationslager“ und „Endlösung der Judenfrage“ in Verbindung bringen konnte! Es würde sicher wieder eine Zeit kommen, in der man Begriffe wie vielleicht „demoskopischer Faktor“ oder „Überalterung der Gesellschaft“ mit einer ähnlich menschenverachtenden Bedeutung besetzen werde.

Maria schaute nachdenklich durchs Fenster und sagte in sich gekehrt: „Ja, sicher, ich kümmere mich um deine Mutter so gut ich kann“, und nachdem sie sich der Tragweite dieser Aussage bewusst wurde, fügte sie hinzu: „Ich bin aber auch nicht immer auf Station, wie du weißt.“

Sie schwiegen eine Weile und offensichtlich bedauerte Maria jetzt ihren Ausbruch. Dann entschuldigte sie sich: „Ich dachte halt nur, wenigstens du würdest mich besser verstehen, denn in dem Job wird man irgendwann selbst zum seelischen Pflegefall.“


Trotz dieser düsteren Sätze bleibt Maria die sympathischste Figur in diesem Roman. Sie ist der Gegenpol zu dem immer korrekten und berechneten, aber auch gehemmten Beamten Thomas. Sie steht aber auch für eine weiter Opfergruppe im mittlerweile kommerzialisierten Pflegebetrieb: nämlich für das Pflegepersonal. Thomas, der gesetzestreue Beamte, der niemals auch nur eine Handbreit von einer Vorschrift abweichen würde (was sich noch ändern wird), ist immer wieder fasziniert von ihrer italienischen Spontaneität und vor allem von ihrer unkonventionellen Art, Probleme zu lösen.

Text 5: Seite 113 „Sie hatte ihm erzählt...“ bis „...zog in seine Mundwinkel.“
[dazu Tonaufnahme Teil 5]

Sie hatte ihm erzählt, dass es im Altenheim einmal Probleme mit einer garstigen Bewohnerin gegeben habe. Die habe in einem Zweibettzimmer gewohnt und ihre bettlegerische Mitbewohnerin Frau K. immer wieder mit Ohrfeigen traktiert. Besonders nachts, wenn diese geschnarcht oder gestöhnt habe. Bei den Übergaben im Dienstzimmer sei das Problem fast täglich diskutiert worden. Jeder habe Mitleid mit Frau K. gehabt, die, den Demütigen dieser Frau hilflos ausgeliefert, inzwischen nur noch verängstigt zusammengezuckt sei, wenn man sie unverhofft berührt oder sie aufweckte habe. Reden habe sie nicht mehr gekonnt. Eine erlösende Verlegung in ein anderes Zimmer sei aus verschiedenen Gründen nicht möglich gewesen und da es keine Angehörigen mehr gegeben habe, die für sie Partei hätten ergreifen können, habe sie, Maria, Frau K. einmal gefragt, ob sie wieder geschlagen worden sei. Frau K. habe genickt und dann habe Maria ihr einfach einen Stock unter die Bettdecke gelegt.

„Sie wissen, was man damit tut?“ habe sie gefragt und Frau K. habe gestrahlt und genickt und ihre Augen hätten geleuchtet. Von da an sei das Problem gelöst gewesen. Lediglich ihre Peinigerin Frau Z. habe ein oder zwei Mal unerklärliche Blutergüsse an ihren Armen gehabt. In die Dokumentation habe Maria eingetragen, Frau K. bräuchte den Stock, um die Bettdecke ein wenig anzuheben, wenn sie ihr zu schwer auf den Füßen liegen würde.

Eine italienische Art, Probleme zu lösen, dachte er. Das passte zu ihr, und ein Lächeln zog in seine Mundwinkel.


Der Pflegenotstand, den Thomas hautnah erfährt, und die Bedingungen, unter denen die Mitarbeiter im Pflegebetrieb mittlerweile arbeiten müssen, darunter seine Geliebte, lösen in ihm immer wieder Gewissensbisse aus. Er sucht nach einer Verantwortung, die er aber nicht wirklich tragen will. Er fasst schließlich mit an, allerdings - wie nachstehende Szene zeigt - mit zweifelhaftem Erfolg.

Seite 46  f. „Thomas ging zu seiner Mutter...“ bis „...und er verlor sich.“

Thomas ging zu seiner Mutter. Schwester Inge hatte Dienst und war ihm dankbar, als er dem überforderten Personal das „Füttern“ seiner Mutter und ihrer Bettnachbarin abnahm. „Nahrung anreichen“ würden sie jetzt dokumentieren, dachte er. Herr Wegener hat seiner Mutter „Nahrung angereicht“. Aber „füttern“ war mittlerweile die angemessenere Beschreibung. Friss oder stirb, galt mittlerweile hier, und es war nicht die Schuld der Pflegekräfte. Er wusste es und Schwester Inge wusste, dass er es wusste und verstand. Es war die Politik, nein, es war das System! Das System einer Gesellschaft, die die Verantwortung für ihre Randgruppen nicht mehr übernahm, die Kürzungen in erster Linie bei den Wehrlosen als unvermeidbar deklarierte und sich die Hände in Unschuld wusch. Eine Gesellschaft, die nun das Problem ihrer Alten lösen musste. Und jede Gesellschaft erzeugt ihre Probleme selbst, dachte er. Und er? Er saß in diesem System fest im Sattel, scheinbar unverwundbar, Beamter auf Lebenszeit mit geregeltem Auskommen, und das erfüllte ihn nun mit Scham. Er schämte sich Leuten wie Gerd, seiner Mutter und dem Pflegepersonal hier gegenüber. Wer würde hier schon zwölf Wochen Ferien im Jahr bekommen, bei vollen Bezügen? Hier breitete sich nun die Schattenseite des Systems aus, mit seinem störanfälligen ökonomischen Gleichgewicht, und unter der Unwucht der immer schneller rotierenden Kreisläufe von Geld und Waren litten als erstes die Pflegebedürftigen. Sie werden wohl die geduldigsten Opfer sein, dachte er. Die Hände, die die Trümmer nach 1945 wieder aufgebaut hatten, sind schwach geworden. Sie werden sich nicht mehr zur Faust ballen.

Er setzte sich zu seiner Mutter auf den Bettrand, band ihr ein Tuch um und es trieb ihm Tränen in die Augen, dass sie noch nicht einmal mehr ihn erkannte.

Während er ihr nun die Suppe gab, hatte sie offenbar starke Schmerzen. Schwester Inge hatte ihr bereits Novalgin verabreicht. Plötzlich verschluckte sie sich, hustete, würgte und drohte zu ersticken. Er klingelte, rannte zum Flur, niemand da, wieder zurück, sie röchelte. Er versuchte sie umzudrehen und klopfte ihr auf den Rücken, sie würgte weiter, rang nach Luft und erbrach sich schließlich, alles über seine Hose. Dann stöhnte sie, atmete schwer und erschöpft. Sie wollte wohl etwas sagen, er verstand es nicht. Die Kanüle, die sie noch im Arm hatte war abgerissen, Blut lief aus. Schwester Inge stürzte herein, ein junger Mann eilte herzu, beide nahmen ihm seine Mutter ab. Er setzte sich zurück auf den Stuhl und sah das Blut. Er konnte doch kein Blut sehen! Jetzt begann sich der Raum zu drehen. Die Stimmen von Schwester Inge und dem jungen Mann schallten wirr durcheinander, er dachte für einen Moment, er sei in einem Dom. Hall und Echo verschmolzen ineinander zu einem einzigen scheppernden Ton, ihm wurde dunkel und er hörte Schwester Inge sagen:. „Verdammt, der auch noch!“, und er verlor sich.

II. Lesung in der ev. Gemeindebücherei der Thomaskirche Marburg, Oberer Richtsberg, 16.4.2008
Mit knapp 50 Hörer/innen meist älterer Jahrgänge wurde die Lesung zu einem vollen Erfolg: das zeigte sich vor allem an den hernach in der Diskussion geäußerten Fragen und Anmerkungen. Hier meine in 12 Sub-Einheiten geteilte Tondokumentation:

  1. Begrüßung durch Pfarrer Kling-Böhm
  2. Einleitende Bemerkungen des Autors
  3. Lesung:  Teil 1 / Teil 2 / Teil 3 / Teil 4 / Teil 5 / Teil 6 / Teil 7 / Teil 8 / Teil 9 / Teil 10

III. Impressionen

a) zum Strukturwandel in ländlichen Regionen

Ich fahre [...] gerne durch die Dörfer im Marburger Umland. Dabei habe ich in den letzten Jahren eine, wie ich finde, dramatische Entwicklung beobachten können. Höfe, die während meiner Anfangszeit noch betrieben wurden, sind stillgelegt, Bäckereien, Metzgereien, kleine Lebensmittelläden, Tankstellen geschlossen. Man sieht niemanden mehr auf den Straßen. Ohne Navigationssystem ist man aufgeschmissen. Manchmal habe ich Mühe, überhaupt noch einen Briefkasten zu finden. Es gibt offenbar für die Menschen keinen Grund mehr, nach draußen zu gehen. Die gesamte Infrastruktur scheint zusammengebrochen. Auf der Landstraße behindern einen weniger Traktoren oder LKWs, sondern meist alte Leute, die mit dem Auto unterwegs sind, vermutlich zum Einkaufen oder zum Arzt nach Sterzhausen oder Gladenbach, nach Marburg scheinen sie sich nicht reinzutrauen. Vor einem Bauernhof in Dilschhausen lag immer ein Schäferhund und hat mir nachgeschaut, wenn ich vorbeigefahren bin, jetzt liegt nur noch die Kette dort und wo der Misthaufen war, steht ein Zuber mit Blumen, der Deutz steht abgemeldet neben der Scheune und rostet vor sich hin. Abends zuckt in den Wohnzimmern blaues Licht von modernen Flachbildschirmen, die einzigen Lebenszeichen. Kommt man in den Lahn-Dill-Kreis, ist es nicht viel anders. Lediglich sind die Dörfer größer und hässlicher und man ist noch einigermaßen versorgt, von REWE und OBI auf der grünen Wiese. Ich habe einmal versucht, meine Trauer darüber in eine Kurzgeschichte zu packen, aber es sind lediglich nachstehende Verse geworden:

Das Vermächtnis (Januar 2007)

Sonntagnachmittag, in einem Dorf,
Ich fahre langsam durch die Straßen.
Es ist nun menschenleer, dort an dem Platz,
Wo einmal Menschen sonntags saßen.

So mancher Hof, jetzt zugebaut,
So mancher Baum ist jetzt gefällt.
Egal wohin das Auge schaut,
Sieht 's eine andere, fremde Welt.

Das Backhaus noch, die Kirche - ja.
Doch an dem Brunnen vor dem Tor,
Ist jene Linde nimmer da.
Steht eine Sparkasse davor.

Asphalt verdrängte Gras und Moos.
Das Haus gegenüber - putzversiegelt.
Die Fenster, sie sind jetzt so groß,
Dass sich die Sparkasse dort spiegelt.

Einst floss ein Bach - Vergangenheit.
Jetzt pellt man Fachwerk wieder frei,
Als ob damit die alte Zeit
Zurückzubringen sei.

Will man zurück? Sucht man die Spur
Die man zuvor zertreten hat?
Schafft man jetzt eine „Re-Kultur"?
Ist man das satte Leben satt?

Mittwochnachmittag, dasselbe Dorf,
Und wieder ist es menschenleer.
Das Leben ist jetzt in der Stadt.
Wer ein Auto hat, fährt hinterher.


Wird ergänzt. Stand: 18.4.2008 Redaktion, Layout und HTML: W. Näser
Bildnachweis: Foto W. Näser