Dokumentieren und Erschließen der Umwelt mit auditiven Mitteln
Von Wolfgang Näser (1983; aus: Materialien und Texte zu einer auditiven Mediothek)
Mit der Erfindung von Phonograph und Grammophon wurde vor über hundert Jahren ein Meilenstein der Menschheitsgeschichte gesetzt und unser Weltbild entscheidend bereichert. Die Stimme ist wohl wichtigster Träger menschlicher Kommunikation - der Blinde ist ihr nicht entzogen -, und der Apparat, das künstliche Mittel zur beliebigen Aufnahme und Reproduktion des Stimmklangs, gibt dem Menschen quasi ein zusätzliches Organ, einen zusätzlichen Sinn, ohne daß er sich dessen bewußt wird, ganz abgesehen von dem noch größeren Wunder der in den 70er und beginnenden 80er Jahren vollzogenen Realisierung der elektronischen Spracherzeugung und der elektronischen Umsetzung von maschinell Gelesenem in maschinell Gesprochenes.
Es hat nur wenige Jahre gebraucht, bis weitblickende Anwender das Medium Phonograph in Forschung und Dokumentation einbezogen. Die akustische Umwelt wurde erfaßt, aufgenommen, unentrinnbar festgehalten mit allem verfügbarem Aufwand. Mit Stimmklang, Rhythmus, Intonation, Sprechtempo wurde individuelle Persönlichkeit fixiert, der Nachwelt überliefert, wurde menschliche Dynamik selbst nach dem Tode reproduzierbar, Sprache voll Leben, Atem, Gefühl. Staunend erkennen wir, daß bereits um 1930 mit Kondensatormikrofon und Wachsmatrize die menschliche Stimme in allen individuellen, persönlichkeitsprägenden Merkmalen fixiert werden konnte - Mittel zu adäquater Wiedergabe fand man erst rund zehn Jahre später. Wiederum zehn Jahre darauf, etwa um 1950, wurde die Tonaufnahme und damit die auditive Dokumentation erst zaghaft, dann immer rascher, schneller übergeführt in nichtprofessionelle, private Bereiche. Nur weitere 10 Jahre später war das Tonbandgerät volkstümlich geworden, und eine weitere Dekade später spielten schon kleine Kinder mit dem Cassettenrecorder - nur 35 Jahre waren vergangen seit dem AEG-"Magnetophon K3", dem ersten wirklich serienreifen Tonbandgerät der Welt. Und heute, 1983, können wir im Warenhaus für nur eine Mark eine Cassette mit 60 Minuten Speicherkapazität erwerben und mit einem Kondensatormikrofon für 30 Mark und einem Recorder für 70 Mark menschliche Sprache in all ihren individuellen Zügen festhalten. Jedermann steht es frei, seine akustische Umwelt beliebig festzuhalten und in ihrer Dynamik zu reproduzieren.
Die sprach- und literaturwissenschaftliche Forschung und Lehre muß all jenen dankbar sein, die in den vergangenen rund 60 Jahren dazu beigetragen haben, die Tonaufnahme und -wiedergabe zu einem wohl kaum noch zu überbietenden State-of-the-Art zu bringen. Diese elektroakustische Entwicklungsarbeit ist mindestens ebenso hoch zu veranschlagen wie z.B. eine Forschungstätigkeit in sprachwissenschaftlich relevanten Teildisziplinen wie z.B. der Lexikographie. Wir müssen anerkennen, daß die elektroakustische Aufnahme und Wiedergabe unser Weltbild gewandelt hat, uns die akustische Umwelt neu, anders, bereicherter zu erschließen gelehrt hat - denken wir nur an den HiFi-geschulten Audiophilen, der mit 'neuen' Ohren ins Konzert geht. Denken wir an den blinden Telefonisten, der trotz reduzierter Übertragungsbandbreite tausende von Individuen auseinanderhält, eben weil er akustisch geschult ist mit Hilfe weiterentwickelter Audio-Technik. Denken wir nur an das Sprachlabor, an die Gehörlosen-Schulung mit Spezialgeräten, die winzige Hör-Reste zu aktivieren vermögen, und vieles andere mehr. Wenn von Transparenz und Aufgeklärtheit des heutigen Weltbildes die Rede ist, dann hat die Technik hierzu ganz wesentlich beigetragen. Denn erst Hörfunk und Fernsehen haben weiteste Bevölkerungskreise in kürzester Zeit Zugang finden lassen zu Entwicklungen und Ereignissen in allen fünf Kontinenten. Neben der Braille-Schrift hat die Tonaufnahme und -wiedergabe dem Blinden Zugang verschafft zu einer Art akustischen Enzyklopädie der Welt.
Mit ihrer Funktions- und Typenvielfalt erfassen und dokumentieren die Tonaufnahme- und -wiedergabegeräte heute die menschliche Sprache in allen ihren Varietäten. Was für den Fotografen (ausgenommen die beginnende Videografie) immer getrennt sein wird, nämlich Aufnahme (mit Kamera) und Wiedergabe (auf getrenntem Medium), das vereinen Tonbandgerät bzw. Cassettenrecorder in idealer Weise. In der Hand eines kreativen Sprachforschers bzw. -lehrers kann schon der billigste, einfachste Recorder ungemein wertvolle Dienste leisten.
Eine der wichtigsten erzieherischen Aufgaben sollte heute darin bestehen, den Menschen von früher Kindheit an vertraut zu machen in schöpferischem Umgang mit Geräten zur Aufnahme und Wiedergabe, etwa in dem Sinne, die akustische Umwelt mit geschärftem Sinn wahrzunehmen und in ihren wesentlichen Zügen und Phänomenen zu begreifen: das gilt z.B. auch für komplizierte akustische Strukturen, wie sie in schwierigen Laut- und Wortkombinationen der eigenen oder einer fremden Sprache vorkommen. Das akustisch Einzigartige, Unwiederbringliche, so der Dialog mit einer nur kurz erlebten Persönlichkeit, ein einzigartiger wissenschaftlicher Gastvortrag, die erste Lautäußerung eines Neugeborenen (um nur wahllos einige Beispiele zu nennen), dies alles verpufft nicht mehr wie einst im Raum, sondern wird beliebig reproduzierbar, wird in der Wiederholung von Mal zu Mal eindringlicher, schöner, bereichernder genießbar. Rein profitorientierte Entwicklungen wie etwa der sog. WALKMAN sollten uns von dieser idealistischen Würdigung und weiteren Zielsetzung nicht abbringen, einer Sichtweise, die das Ganze im Auge hat und schrulligen Weggenossen nur kurzlebigen Wert bescheinigt. Andererseits darf eine WALKMAN-Philosophie nicht dazu führen, daß durch die billige Möglichkeit stumpfsinnigen Mediengenusses Wert und Möglichkeiten der Tonaufnahme/-wiedergabe zu bloß marktpolitisch relevanten Größen reduziert werden - daß man Mittel und Wege zwar hat, im Überfluß, aber keinen sinnvollen Gebrauch (mehr) von ihnen macht. Wenn dies so werden sollte, ist die Schuld primär bei den Erziehern, in der Schule zu suchen, und hier schließt sich eine Art Kreis: Forschung und Lehre, primär die Lehre, kommen nicht (mehr) vorbei an verantwortungsvoller Hinlenkung zu schöpferischem Umgang mit auditiven Medien, zu aktiver Erschließung der akustischen Umwelt, zu kreativem Umgang mit Mikrofon und Recorder. Das heißt: weg von akustischer Berieselung, hin zum technisch geschärften Umwelt-Sinn. Die Medien, alle erdenklichen Apparate, sind da, doch fehlt es an Verständnis im Umgang mit ihnen. Warum eigentlich (noch)?
Wenden wir uns noch einmal speziell dem Sprach-Forscher zu, dem nicht unwesentlich die Zeilen des Verfassers zugeeignet sind. Mehr und besser denn je, ja in Vollendung kann er heute das tun, was bereits Martin LUTHER 1530 im Sendbrief vom Dolmetschen so formulierte: "denn man mus nicht die buchstaben in der Lateinischen sprachen fragen / wie man sol Deutsch reden / (...) man mus die mutter ihm hause / die Kinder auff der gassen / den gemeinen man auff dem markt drumb fragen / vnd den selbigen auff das maul sehen / wie sie reden" - oder, wie kürzlich in einer medienkundlichen Sendung sehr klug über das FEATURE formuliert wurde:
"Es klingt sehr, sehr simpel. ich lasse sehr, sehr viel Band laufen. Band ist billig. Band kann man wieder bespielen, im Gegensatz zu Film-Material - damit muß man haushalten, da muß man vorher 'n bißchen planen, wo man welche Dinge aufnimmt: Band kostet nichts, Band kostet nur Arbeit hinterher, nämlich wenn man das Ganze dann abhört, wenn man dann eben selektiert und auswählt und das alles ... Mein Rezept, wenn man überhaupt von einem Rezept sprechen kann, ist eigentlich immer das gewesen, gerade (...) bei längeren Sendungen, so viel wie möglich mit eingeschaltetem Mikrofon durch die Gegend zu laufen - irgendwann kommen Passagen, die mit Sicherheit nicht so gekommen wären, wenn man darauf gewartet hätte: man kann beispielsweise spontane Äußerungen nicht wiederholen. Wenn ich mein Gerät nicht laufen habe und jemand sagt zu mir etwas, was mir ungeheuer interessant und wichtig vorkommt, dann kann ich nicht hinterher sagen "Junge, jetzt sei bitte nochmal so spontan, wie du eben grad warst, dann nehmen wir das Ganze auf" ... Ich muß also das Ganze schon laufen haben und dann eben warten, daß spontane Äußerungen kommen." (aus: "Was ist ein Hörfunk-Feature?", NWDR 1, 11.3.1980, Schulfunk, Archiv des Verf.s C 115, 1a.4 Ende)
Der moderne Dialektologe, Sozio- oder Psycholinguist wird daher - ebenso wie der Erforscher mündlicher Erzähltradition - nicht mehr ohne das Tonbandgerät auskommen. Ähnlich wie der Rundfunk-Journalist in Zusammenarbeit mit seiner Fachredaktion und dem Tontechniker, so kann auch der geschickte Anwender einer auditiven Mediothek (Audiothek), wenn auch mit wesentlich einfacheren Mitteln, eigene Programme im Sinne von Lehr- und Forschungseinheiten zusammenstellen und diese kraft eigener fachlich-wissenschaftlicher Kompetenz optimal gestalten. Im Rahmen geisteswissenschaftlicher Lehre und Forschung sollte eine sinnvolle Kombination von Philologie, angewandter Linguistik und technischem Einfühlungsvermögen angestrebt werden, ein Berufs- und Tätigkeitsbild, das wohl nur auf der Basis polytechnischer Ausbildung zu realisieren ist. Die Schulen und Universitäten der Zukunft benötigen dringend medientechnisch und -wissenschaftlich geschulte Philologen, Linguisten und Literaturwissenschaftler, die es verstehen, technisches Gerät in ihren Händen zu einem Mittel künstlerischer und didaktischer Kreativität werden zu lassen.
(c) alle Rechte W. Näser 1983 / 020796