Formen schriftlicher Kommunikation, Sommersemester 2002 * Dr.  Wolfgang Näser * HS 207 Biegenstr., 18-20 Uhr

Text 1 (Kommentar): Inga Stracke über Imola 2002

Nach dem Großen Preis von Brasilien hätten die Reaktionen nicht unterschiedlicher sein können. Während der siegreiche Michael Schumacher ganz ruhig das Rennen analysierte ("Ich muss sagen, er war sehr vernünftig diesmal"), tobte Juan Pablo Montoya. Er sei sehr enttäuscht, vom Rennen, aber vor allem von Michael Schumacher, schnaubte der Kolumbianer in die Mikrofone. "Ich dachte, er ist fair, ist er aber nicht. Er hat mir mein Rennen zerstört."

Für Formel-1-Insider ist es kein Wunder, dass ausgerechnet die beiden aneinander geraten sind - und dies auch immer wieder passieren wird. "Wenn zwei Piloten auf einem solch hohen Niveau fahren, ist es unumgänglich, dass sie sich in die Quere kommen", lautet die einhellige Meinung im PS-Zirkus.

So ist klar, dass beide im Laufe der Saison noch weitere spannende Duelle zeigen werden. Doch das aufkeimende "Hassduell", das mancher Beobachter erkannt haben wollte, ist es nicht. Natürlich sind Schumacher und Montoya Rivalen, natürlich fahren sie harte Rennen aus. Aber Hass? Das hätten viele wohl gern.

Mich erinnern die derzeitigen Diskussionen an das vergangene Jahr. Damals gehörten die Schlagzeilen vor dem Großen Preis von San Marino dem angeblichen "Hassduell" zwischen Michael Schumacher und David Coulthard. Und was taten die beiden? Krieg auf der Piste? Ärger ohne Ende?

Die "Streithähne" trafen sich im Ferrari-Motorhome, redeten ein wenig und alles war wieder okay. Nur nicht für einige Berichterstatter, die mussten sich neue Skandalthemen suchen. Eines finde ich an den Debatten immer wieder ganz besonders interessant. Anscheinend finden diese Duelle immer nur zwischen den beiden Spitzengegnern statt. Dabei geht es im Mittelfeld oft viel härter zur Sache.

Der lachende Dritte in diesem Spiel könnte eventuell Ralf Schumacher sein. Der hält sich schön aus allem heraus. Wird er zum Thema Montoya versus Michael gefragt, gibt er sich diplomatisch. Schließlich wandelt er auf einem Grat und ist in einer Zwickmühle. Einerseits geht es um seinen Bruder, andererseits um seinen Teamkollegen bei BMW-Williams.

Manche Experten vermuten, dass Montoya die stürmischen Attacken auf und neben der Strecke inszeniert, um sein Ego zu stärken. Aber von fehlendem Selbstbewusstsein beim Millionärssohn aus Bogota kann man nun wirklich nicht sprechen. Ist Montoya einfach nur ein ungestümer, temperamentvoller Pilot? Kann er also gar nicht anders? Formel-1-Kenner mahnen zur Ruhe: "Lasst ihn sich nur die Hörner abstoßen."

Andererseits ist Montoya ja nicht der einzige Fahrer, der regelmäßig Ärger mit Michael Schumacher hat. Jacques Villeneuve kann auch ein Lied davon singen. Verglichen mit diesen hitzigen Duellen war der Wettkampf zwischen Michael Schumacher und Mika Häkkinen immer ein sehr fairer. Man hatte fast das Gefühl, die beiden mögen sich, respektiert haben sie sich sicherlich. Nie haben wir ein böses Wort vom Finnen gehört, nie hat er sich darüber beschwert, er werde schlechter behandelt als Schumacher.

Ältere Kollegen erinnern sich fast schon träumerisch an die heißen Duelle zwischen Ayrton Senna und Alain Prost. Doch diese glamourösen Zeiten sind definitiv vorbei. Die Piloten riskieren heutzutage weniger. Trotz allem noch immer vorhandenem Ballyhoo sind die Fahrer ruhiger geworden. Während früher die Boxenluder die Szenerie prägten, bringt heute mehr als die Hälfte der Fahrer die Ehefrau an die Strecke mit.

Am Ende der Rennsaison ist sowieso der meiste Ärger vergessen. Spätestens bei der Abschlussfeier oder in den Karaoke-Cabins von Suzuka stoßen die Kontrahenten miteinander an. Dann herrscht Frieden. Bis zum Start der neuen Saison. Dann geben wieder alle Vollgas.

Autorin: Inga Stracke. Quelle: Spiegel online, 15.4.2002. Textauszug mit Korrekturen.

Ballyhoo n. [engl.]: marktschreierische Propaganda, Reklamerummel.
Horn n.; ­[e]s, Hörner u. -e spitzer, harter Auswuchs am Kopf bestimmter Tiere; *jdm. Hörner aufsetzen (ugs.) den Ehemann betrügen; s. die Hörner ablaufen/abstoßen (ugs.) durch Erfahrungen besonnener werden
Insider m.[engl.]: jmd., der bestimmte Dinge, Verhältnisse als Eingeweihter genau kennt
Pilot m. hier: Führer eines landgebundenen Rennfahrzeugs
Piste f. hier: Rennstrecke, bes. für Rad- u. Autorennen.
versus [lat.] (bildungsspr.): gegen[über]; im Gegensatz zu; Abk.: vs.
Vollgas n. maximale Füllung des Zylinders mit Benzinluftgemisch. V. geben (das Fahrzeug aufs höchste beschleunigen); oft mit V. fahren
Szenerie f. Schauplatz eines Geschehens, einer Handlung; Rahmen, in dem sich etw. abspielt: die -n des Romans; sie waren überwältigt von dieser S.

Aufgaben:

  1. Suchen Sie die Ihnen unbekannten Wörter heraus und ordnen Sie sie nach Zugehörigkeits-Gruppen.
  2. Welche Redewendungen (Idiomatismen) enthält unser Text?
  3. Versuchen Sie, den Inhalt unseres Artikels in eigenen Worten wiederzugeben.
  4. Versuchen Sie einen Kommentar. Welche Meinung haben Sie zum Text? Interessiert er Sie?
  5. Schreiben Sie einen kurzen Aufsatz zum Thema "Sinn - oder nur Unsinn? - der Formel I"

Layout und Aufgaben: (c) W. Näser, MR, 15.4.2002

Zur Behandlung am 16.4.2002:

Wir lasen den Text gemeinsam und entdeckten zunächst vier Schreibfehler, die in obigem Auszug korrigiert sind. Sodann wandten wir uns den unbekannten Wörtern und Wendungen zu: hier finden sich relativ viele Idiomatismen (sich in die Quere kommen, zur Sache gehen, s. heraushalten aus, auf einem Grat wandeln, in einer Zwickmühle sein, s. die Hörner abstoßen, ein Lied singen von), was den Text gerade für Ausländer interessant macht. Andererseits entdecken wir bildliche Ausdrücke (aufkeimen, Streithähne, der lachende Dritte) und milieutypische Wörter, die, wie Boxenluder, nach kurzer Existenz schon wieder teils aus der Mode kommen. Die hierzulande aus Japan importierte Karaoke-Bewegung, konnten wir klären, ist eine schon ältere Errungenschaft; die später auch als "Minus One" bezeichnete Technik der Schallplattenaufnahme mit einer fehlenden (Instrumental-)Stimme wurde bereits vor dem 2. Weltkrieg praktiziert.

Hinsichtlich des Fremdworts Kontrahenten (letzter Absatz, zweite Zeile) gewannen wir eine wichtige Erkenntnis. K. sind, wie ein Teilnehmer richtig bemerkte, zunächst im juristischen Sinne 'zwei Parteien, die einen Vertrag aushandeln'. Das Wort kommt vom lateinischen Präfix cum- 'zusammen, mit' (> con-) und trahere 'ziehen'. Con-trahens bedeutet also streng genommen 'zusammenziehend' (auch: zusammen an demselben Strick ziehend?), während dasselbe Präfix mit dem Perfektstamm von trahere, nämlich tract-, das Ergebnis bezeichnet, den Kontrakt 'Vertrag' (s.a. Duden-Universalwörterbuch, 2. Aufl. Mannheim 1989, S. 877). Möglicherweise wurde das lateinische Wort (intuitiv) fehlgedeutet und entstand im Sinne des falsch heraussegmentierten contra- die Bedeutung 'Gegner', andererseits können gerade im jurist. Sinne ursprüngliche Vertrags-Partner zu Gegnern werden. Anders verliefen z.B. Entwicklung und Bedeutungswandel von lat. hostis 'Feind' > dt. gast, wogegen engl. hostile 'feindlich' an der ursprüngl. Bedeutung festhielt.

W. Näser 18.4.2002