Dr. Wolfgang Näser: UE "Wörter und Wendungen in der aktuellen deutschen Mediensprache" (m. Besuch einer Tageszeitung)
SS 2003 * Mi 16-18, HG 110

TV-Text 1: Christian Sievers interviewt Guido Knopp (ZDF-Morgenmagazin 27.5.2k3, 8:55)  => Druckversion

CS: Guido Knopp, den Leiter der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte, kennen Sie natürlich, er ist Autor dieses Buches hier, dem ich gerade auch diesen Witz entnommen habe, und er hat den Anstoß zu dem Filmprojekt gegeben und ist jetzt bei uns zugeschaltet aus Mainz - schön, daß Sie da sind. Morgen, Herr Knopp.

GK: Schönen guten Morgen nach Berlin.

CS: Herr Knopp, was war denn das aus dem historischen Rückblick jetzt gesehen am 17. Juni: eine politische Revolution oder eine auch vom Westen beeinflußte Revolte ohne eigene Führung, ohne eigene Strategie?

GK: Also es begann natürlich als Revolte, als Protest gegen wahnwitzige, überhöhte Arbeitsnormen, genauso wie die französische Revolution als Protest gegen überhöhte Brotpreise begann, es wurde dann ein Aufbegehren gegen die Regierung, die Forderungen nach freien Wahlen, und am Ende war es eine Revolution in über 700 Orten, in der ganzen DDR, von über einer Million Menschen - das sind die neuesten Zahlen, die zusammengetragen worden sind - über eine Million Menschen, eine tatsächliche reale Revolution aus dem Volk heraus selbst, nicht vom Westen gesteuert; der RIAS1) hat bekanntgegeben, daß gestreikt werden soll, aber es war eine Revolution und der beste Beleg dafür, daß Lenin sich irrte, der ja mal gesagt hat: "Wenn die Deutschen auf dem Bahnhof Revolution machen wollen, kaufen sie sich vorher eine Bahnsteigkarte." - Das haben die Männer und Frauen des 17. Juni nicht getan.

CS: Eine reale Revolution, sagen Sie - hatten denn die Revolutionäre auch eine reale Chance?

GK: Sie hätten eine Chance gehabt, wenn die sowjetischen Panzer nicht gerollt wären. Der entscheidende Punkt dafür, daß dieser Aufstand niedergeschlagen werden konnte, war die Existenz der sowjetischen Militärmacht - nicht nur in Ostberlin, auch in anderen Städten in der DDR. Wenn die Panzer nicht gerollt wären, hätte die DDR-Regierung keine Chance gehabt, sie hatte zu diesem Zeitpunkt ja noch keine wirkliche Militärmacht, die NVA war noch nicht gegründet, die Kasernierte Volkspolizei noch nicht so stark und nicht so zuverlässig. Die Tatsache, daß die Panzer damals rollten, hat die Revolution zunichte gemacht - im Gegensatz zu '89, wo die Panzer ja in den Kasernen blieben.

CS: Ha'm Sie denn, Herr Knopp, bei Ihren Recherchen auch Menschen getroffen, die gesagt haben: also ich muß sagen, das war richtig, was die DDR damals gemacht hat?

GK: Natürlich gibt es solche Menschen, und es gibt auch solche Menschen, die es heute noch bedauern, daß Ulbricht damals erst wirklich fest in den Sattel wieder gehoben worden ist, denn es gab ja vorher eine gewisse Chance auf ein gemäßigteres Regime, das aber durch den 17. Juni natürlich im Keim erstickt worden ist. Tatsächlich aber ist die Bedeutung dieses Tages für uns alle doch die, daß jetzt diese Männer und Frauen, die diesen Aufstand getragen haben, endlich ein Gesicht bekommen. Sie wurden ja lange in der Anonymität gehalten. In der DDR wurde das Thema unterdrückt, in der Bundesrepublik ritualisiert, und daß diese Männer und Frauen - wir haben über 120 interviewt - ja endlich mit Namen bekannt gemacht werden, nicht nur in Berlin, auch in anderen Städten, das ist, denke ich, etwas, was ihnen auch einen Ehrenplatz in der Geschichte, in unserer Geschichte, einräumen soll.

CS: Reden wir noch mal'n bißchen über das Doku-Drama (läuft am 3. Juni, 20 Uhr 15 im ZDF) so kurz vor Ende unserer Sendung hier - was auffällt wieder: ein Star-Angebot von Schauspielern ha'm Sie gewinnen können, in vergleichsweise kleinen Rollen. Wie gelingt das, solche Leute für so eine vergleichsweise kleine Rolle zu bekommen?

GK: Das ist die Leistung unseres Produzenten Ulrich Lenze2) - grandioser Mann - und unseres wunderbaren Regisseurs und Buchautors Blumenberg, die das mit vereinten Kräften schaffen. Es ist für diese Leute, für das Staraufgebot Jürgen Vogel, Jan-Josef Liefers, Christian Riedel, Florian Martens und viele andere die erste Garde, auch, so ha'm wir den Eindruck gehabt, eine Ehre gewesen, an diesem Doku-Drama mitzuwirken, weil es doch ein Wendepunkt der deutschen Geschichte gewesen ist und weil sie auch diese Bauarbeiter zum Teil ja auch spielen wollten, die wirklich als ganz normale Menschen aufgestanden sind und gesagt haben: "Wir halten's nicht mehr aus, wir machen Revolution."

CS: Guido Knopp, Leiter der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte - wir sind gespannt, der Film läuft, ich sag's nochmal, am 3. Juni um 20 Uhr 15 im ZDF. Herzlichen Dank nach Mainz.

Links:

  1. Chronologie zur Geschichte der DDR
  2. Sozialistische Einheitspartei Deutschlands
  3. Stichwort: Politbüro (mit Biografien der Mitglieder)
  4. Johannes R. Becher (W. Näser 2002)
  5. zur sowjetischen Besatzung in Thüringen (mdr)
  6. "Aktivist" und "Normbrecher" Adolf Hennecke

1) Abkürzung für "Rundfunk im Amerikanischen Sektor"
2) Ulrich Lenze ist Autor und Produzent zahlreicher Filme, so auch der Dokudramen „Todesspiel“ (zur Entfuehrung Schleyers) und „Deutschlandspiel“ (ueber die Wiedervereinigung).

Wird ergänzt.
Transkription und Gestaltung: Dr. Wolfgang Näser 27.5.2003 * Für den Inhalt der politischen Links lehne ich jegliche Verantwortung ab. WN