Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser, Marburg, SS 2002 ff.

Becher, Johannes R. (1891-1958): Auferstanden aus Ruinen (1949)

Ich hab' den Rothenburger Altar voll unserer Gesichter gesehen.
Ich sah daraus das Bild unserer Zeit erstehn.
Ich sehe Galgen und Kreuze darin
Und Blöcke zum Köpfe-Rollen.
Es bricht aus dem Bilde das Blut heraus.
Es blutet an vielen Stellen.

So manches tiefe Tal durchschritt er, hin- und hergeworfen zwischen Lebensformen, hier Idealist, dort chaotisch ausschweifend und zutiefst deprimiert, drei Selbstmordversuche überlebte er, der "Mörder, Junkie und Minister": so porträtierten jedenfalls Ullrich Kasten und Jens-Fietje Dwars in 3-sat*) am 11.8.2002 den Dichter des "sozialistischen Expressionismus" -  das Folgende zeichnet dies nach. Bechers Lebensweg: ein deutsches Schicksal. Bizarr, doch konsequent spiegelt es den Lauf des Jahrhunderts: einen verschlungenen Gang von Widerstreit, Versuch und Irrtum, endloses Ringen um Reinigung, Erneuerung, neue und bessere Alternativen. Bechers Worte: Selbsttherapie und Erkenntnis, Kinder des Leids, Kampfs und Zweifels, aber auch peinlich-verkennender Anpassung und sträflicher Verblendung - Anlaß genug, aus heutiger Sicht den Stab zu brechen über ihn und zu behaupten, er sei am Ende einer Lebenslüge aufgesessen. Doch ist Bemerkenswertes oft ein Kind des Widersprüchlichen, und so schenkte uns Bechers durchgängiges Streben nach Sinngebung, nach Harmonie auch drei Strophen, die zur Hymne eines alternativen Deutschlands wurden, das infolge des unlösbaren Gegensatzes von Theorie und Praxis, von Idee und Realität nach vier langen Dekaden zum Scheitern verurteilt war. W.N.

1891 kommt Johannes R[obert] Becher am 22.5.1891 als Sohn eines Richters (+ 1941) und einer Apothekerstochter in München zur Welt. Der Sohn: ein ewiger Angeklagter. »Auch die besten Sachen nahmen zu Hause einen schlimmen Geschmack an. Alles, was ringsum geschah, schien den Speisen beigemischt. Angst, nach einer Note gefragt zu werden, war in die Spargelsuppe getan, mit lauerndem Blick war der Hasenbraten gespickt, und den Apfelbrei löffelte ich in der Furcht, gleich lügen zu müssen, ohne dabei erröten zu dürfen.« Wegen "absolut ungenügender Leistungen im Deutschen" muß er eine Klasse wiederholen, bekommt Arrest wegen »groben Unfugs« und »fortgesetzter Nachlässigkeit«.

1910 beschließt er gemeinsam mit seiner Freundin, "in den Tod zu gehen", um das Mädchen "vor einem unsittlichen Bündnis" mit einem anderen zu bewahren. Die Freundin stirbt, Becher überlebt. »Ich erinnere mich zu spät daran, daß man sich am besten in den Mund schießt.« So hatte es der von ihm verehrte Kleist beim Doppelselbstmord mit Henriette Vogel (1811) getan. Sein Onkel operiert den Schwerverletzten, der Vater muß ihn vor der Schulleitung "heraushauen"; sein über 16 Seiten umfassendes Plädoyer an die Lehrerratssitzung zum »Fall Becher« beklagt u. a. die "manische Dichterei" des Sohnes seit dem Herbst 1908, der sich in jugendlicher Hybris neben Goethe und Schiller gestellt hatte. Nach dem Abitur Offiziersanwärter, wird B. aufgrund seiner suizidalen Schußverletzung zum Kriegsdienst untauglich.

1911 beginnt er, (ohne Abschluß) Philologie, Philosophie und Medizin zu studieren, arbeitet 1913-15 mit an der expressionist. Zeitschrift Verfall und Triumph (vgl. dazu Bild re. der Dwars-Bibliographie, (c) Aufbau-Verlag), begibt sich wegen »voranschreitendem Morphinismus« in stationäre Behandlung. Die Jenaer Psychiatrie vermerkt: "seit 1915 Morphinist. Ursache: psychische Gründe. Stand damals vollkommen unter dem Einfluß der Weiber. Maßloser Geschlechtsverkehr. Hat nach eigenen Angaben täglich etwa 40 Spritzen einer zweiprozentigen Morphiumlösung gespritzt."

"Augen zu. Laßt Guillotinen spielen - Menschenknäuel übern Platz gefegt", schreibt er 1917 vor dem Sturz des Zaren. Er flieht vor dem Entzug, fälscht in München Rezepte, liest in Berlin den Abschiedsbrief seines jüngeren Bruders: der unter epileptischen Anfällen leidende »unendlich süße, zarte und schwärmerische Junge« hatte sich erschossen. Becher schneidet sich die Pulsadern auf, nimmt Überdosen, überlebt. Wochen später trifft ihn sein Mäzen Graf Kessler (Bild links). Becher erscheint ihm wie ein »Gast aus der Hölle« mit seinen »fürchterlichen Narben an den Handgelenken, dick gequollenen roten Striemen«.
Im Nov. 1918 holt ihn ein Pfleger nach Jena zurück - diesmal zu totalem Entzug, den er schreibend überwindet. In Jena scheitert seine Re-Immatrikulation als Medizinstudent (und damit die Wiedereingliederung in die "bürgerliche Gesellschaft"); er heiratet, widmet sich wieder dem Schreiben.

Im Januar 1919 schließt er sich der gerade gegründeten KPD an; schreibt auf Hiddensee ein Festspiel "Arbeiter, Bauern, Soldaten - der Aufbruch eines Volks zu Gott". "Wandelt euch, zerschlagt eure Götzen, brecht, Sklaven, auf aus der Wüste, aus trüber Verlassenheit eigenster Knechtschaft."

Nach einer religiösen Phase liest er die Schriften W. I. Lenins; getrieben von dem schlechten Gewissen, die (deutsche) Revolution verraten zu haben, kehrt er 1923 zur KPD zurück, wird Parteisoldat, gibt sich geläutert und diszipliniert. "Das Kaffeehaus ist vorbei, die lustige Künstlerei und Schwabingerei ist vorüber. Ich habe zu funktionieren."

1925 wird er am Reichsgericht Leipzig angeklagt, durch Aufhetzung zum Bürgerkrieg "literarischem Hochverrat" begangen zu haben; aufgrund einer internationalen Protestbewegung, bei der sich u.a. Bertolt Brecht, Max Brod und Carl Zuckmayer beteiligten, wird das Verfahren eingestellt.

1927, zum 10. Jahrestag der Oktober-Revolution, besucht er Moskau, wird Mitglied im "Internationalen Büro für revolutionäre Literatur" der Kommunistischen Internationale, ist 1928 in Berlin Mitbegründer und Vors. des radikalen "Bundes proletarischer-revolutionärer Schriftsteller"; Mitbegründer und Herausgeber der Zeitschrift »Die Linkskurve«. 1928 bis 1933 wohnt er in der frisch erbauten Künstlerkolonie in der Laubenheimer Straße 2. Heirat. 1930 wird sein Sohn Jan Thomas geboren. 1932 ist er Feuilleton-Redakteur der "Roten Fahne" und Reichstagskandidat der KPD. Er spricht zum 15. Jahrestag der Revolution in Moskau.

Wie er politisch steht, zeigt sein schon 1928 veröffentlichtes Gedicht "Arbeiterführer". In Brechtianischer Weise schildert es den Werdegang eines Arbeiters zum sozialdemokratischen Funktionär, seine Korrumpierung durch die "herrschende Klasse" und so, auf exemplarische Weise, den Verrat der Sozialdemokratie an der revolutionären Arbeiterbewegung.

1  Aus der Tiefe kommend,
Mit den Massen auf Du und Du,
Selber den Arbeiterkittel tragend,
Der Name hatte nichts zu bedeuten,
War nichts weiter als ein Pfiff,
Worauf man die Ohren spitzte -
Auch ihnen wurde es vielleicht manchmal im Magen wund
Vor der Sorge ums tägliche Brot,
Auch sie wußten vielleicht manchmal nicht,
Woher die Miete nehmen,
Auch ihnen schrie vielleicht ein krankes Kind,
Und eine Mutter lag da,
Löcheriges Gesicht,
Leblos - - -
Auch sie waren vielleicht Väter und Männer,
Krummgespannt vor Verzweiflung,
Aufrechtgeschüttelt wieder vor Empörung,
Wußten nicht, wo ein, wo aus ...

2  Aber sie kamen ins Rutschen eines Tags,
Ins Rutschen nach oben -
Glitten dahin,
Wie einer, der in den Abgrund saust -
Von Stufe zu Stufe,
Höher, immer höher - - -
Saßen zusammen mit Ministern an einem Tisch,
Die legten ihnen die Hand auf die Schulter,
Zwinkerten vertraulich,
Tranken ihnen zu -
Saßen zusammen mit Polizeipräsident,
Bankfachleuten, Industriedirektoren -
"Ganz verständige Menschen eigentlich, was -
Höchst vernünftige Leutchen -
Haben sie uns immer anders vorgestellt,
Damals, als wir noch - - -"
Hatten Audienzen bei Kaiser und Königen,
"Hurra!" riefen sie, katzbuckelten "Majestät",
Schwangen den Zylinderhut "Hoch!" in wippenden Rhythmen.

3  Da schämten sie sich ihrer Proletarierfaust,
Der schwieligen,
Stülpten sich Glacéhandschuhe über,
Der Frack saß tadellos,
Auf festem Grund standen sie jetzt,
Auf dem Parkettboden,
Und drehten sich
Und scharwenzelten mit vornehmen Damen,
Daß es gar lieblich zu schauen war.
Ihr Name prangte in den Zeitungen.
"Ach Sie sind es, Herr Meyer, der berühmte - "
Überall wurde Herr Meyer erkannt, der Abgeordnete.
Postkarten mit dem Bild des beliebten Abgeordneten
Gab es in jedem größeren Papiergeschäft zu kaufen -
Alle "Illustrierten" waren voll davon.

4  Sie lernten ihre Vergangenheit hassen.
Sie taten alles gründlich von sich ab,
was noch nach Proleten roch,
Sie zogen höchst eigenhändig
unter ihre Vergangenheit einen Strich,
Einen roten, blutigen Strich,
Als sie ihre Zustimmung zur Abwürgung des Streiks gaben,
Bald darauf einen anderen Streik selbst abwürgten
Und den Befehl zum Feuern auf die Streikenden unterzeichneten.

5  Burschen von schwerstem Kaliber wurden sie.
Mit allen Wassern gewaschen,
Mit allen Hunden gehetzt -
Aalglatte Redner,
Geriebene Versammlungsleiter -
Schmierten jeden Tag ein halbes Dutzend Artikel,
Auf Bestellung, glänzendes Honorar -
Eiserne Stirnen,
Schwammige Backen,
Wässerige Fischaugen,
Die ohne zu zucken sehen können,
Wie Tausende, aber Tausende hungernder Proletarier
Langsam in den Fabriken zu Tode gemetzelt werden - -

6  Sie fühlen sich keineswegs betroffen.
Sie sind durch nichts aus der Ruhe zu bringen.
"Immer kaltes Blut, Genosse!"
Steigen ins Auto,
Flitzen davon,
Haben genug mit Konferenzen zu tun ...
Strecken alle viere von sich
An der Riviera oder in Tirol:
Reichstagsferien.
Lesen wo in der Zeitung
Von einem Aufstand, von einem Sabotageakt
Oder sonst was Gesetzwidrigem - -

7  Da schießt ihnen das Blut in den Kopf,
Schaum zwischen den Lippen,
Ballen die Faust:
"An die Wand mit der Bande!
Schluß mit dem Gesindel!"
- - -
So sitzen sie, die Bonzen, im fetten Himmel:
Zynisch lächelnd,
Alles wissend,
Nicht von Gewissensbissen oder Konflikten
Angekränkelt -
Kerngesund.

1933 emigriert er, reist nach Paris und Moskau, verliert 1934 die dt.Staatsangehörigkeit. Als Beauftragter der Komintern richtet er im Juni 1935 einen Pariser Kongreß aus: im Haus der Mutualité diskutieren nahezu 100 Autoren aus 20 Ländern über Kunst und Kultur gegen den Vormarsch des Faschismus. In Deutschland flattern Fahnen, marschiert die HJ. "Nun gehen sie, gehen und marschieren, und wissen nicht, wohin, wofür, und was können wir nur tun, um sie vor dem Marsch in den Tod zu bewahren, was können wir nur tun? Kein Opfer wäre zu groß, um diesen Todesmarsch zu verhindern." Sein Stellvertreter in Moskau wird abgelöst; B.s Zukunft ist wieder ungewiß: "Werd' ich wo in einer Wüste eingescharrt von fremder Hand oder ruh' ich an der Küste eines Meeres in dem Sand?". In Moskau übernimmt B. die Redaktion der Zs. Internationale Literatur /Deutsche Blätter, doch in nun veränderter Atmosphäre: "Es war widersprüchlich. Einerseits: die Sowjetunion war die große Hoffnung im Kampf gegen die Nazis, die Bastion, die Basis des Kampfes, und außerdem der Versuch, eine neue sozialistische Gesellschaft zu errichten, und das war ja auch das Ziel von Becher; aber mit der Ermordung Kirows am 1. Dezember 1934 begann dann die große Säuberung. Massenverhaftungen und etwa dreieinhalb bis sieben Millionen innerhalb von zwei Jahren, das sind 3-, 4-, bis zu 10tausend Menschen pro Tag. [...] Die Parteilosen wurden auch betroffen, aber in erster Linie Parteimitglieder, treue, überzeugte Anhänger und Mitkämpfer für die Sowjetunion - die wurden plötzlich alle verhaftet." (Wolfgang Leonhard).

1936 werden im Moskauer Haus der Gewerkschaften die engsten Kampfgefährten Lenins ("eine Bande wildgewordener Hunde") beschuldigt, sich in Trotzkis Auftrag mit Hitler verbündet zu haben; unter Folter gestehen sie. Becher ist geschockt: "Als ich das erste Mal vom Prozeß und den Aussagen las, war ich beinahe 2 bis 3 Tage fassungslos vor Entsetzen. Wem kann man noch trauen? Jeder fürchtet jeden. Freunde und Mitarbeiter verschwinden im GULAG." B. zieht sich schreibend zurück. Er schließt Freundschaft mit dem Philosophen Georg Lukács (1885-1971; Bild links von 1952). Seinen Gedichtband "Der Glücksucher und die sieben Lasten" nennt Thomas Mann "das repräsentative Gedichtbuch unserer Zeit und unseres schweren Erlebens"; Boris Pasternak dankt B. für "eine Insel im heutigen Lügenmeer".

Währenddessen hat sich die Lage geändert: am 23.8.1939 unterzeichneten Ribbentrop und Molotow den sog. deutsch-sowjetischen Nichtangriffs-Vertrag, auch Hitler-Stalin-Pakt genannt; den in seiner Skrupellosigkeit oft mit Hitler verglichenen Sowjet-Diktator glorifiziert Becher in einer "Ode" mit den schwülstigen Zeilen

»An Stalin.
Du schützt mit deiner starken Hand
den Garten der Sowjetunion.
Und jedes Unkraut reißt du aus.
Du, Mutter Rußlands größter Sohn,
nimm diesen Strauß.
Nimm diesen Strauß mit Akelei
zum Zeichen für das Friedensband,
das fest sich spannt zur Reichskanzlei.«

und folgt mit dieser unnötigen wie fragwürdigen Ergebenheitsadresse ziemlich skrupellos der herrschenden Partei-Linie (Wolfgang Leonhard berichtete später, in der Nacht zum 24.8.39 seien aus sämtlichen Bibilotheken alle Nazi-feindlichen Bücher und Schriften entfernt worden; das Zweckbündnis der beiden Diktatoren, das u.a. nach Hitlers Polen-Überfall eine gemeinsame deutsch-sowjetische Truppenparade und die Aufteilung des Landes zur Folge hatte, wurde später in einer CBS-TV-Produktion "Hitler & Stalin: Legacy of Hate" dokumentiert).

Im Spätherbst 1941 stehen die Deutschen vor Moskau, Hitler ist seit vier Monaten wieder offizieller Feind, die deutschen Emigranten werden nach Taschkent (Usbekistan) evakuiert. In 14 Tagen entsteht das Drama "Winterschlacht"; B. verdeutlicht, "wie schwer es für den Einzelnen ist, Nein zu sagen zu Krieg und Kriegsverbrechen, wenn das Töten zur Normalität gehört."

Im Frühjahr 1942 kehren sie zurück, ins Moskauer Hotel Lux (wo auch Herbert Wehner wohnte), den "goldenen Käfig der Komintern". "Der Aufzug nächtlich. Aller Fragen bängste: klopft es vielleicht heut nacht an deiner Tür? Verschwinden, spurlos, ihr Verruchten Ängste. Gewitterangst? Die Angst vor dir und mir." Die Zs. Internationale Literatur erscheint wieder.

1943 gründet er mit anderen das "Nationalkomitee Freies Deutschland". Die Sorge um Stalingrad zerreißt ihn. Ein dritter Suizidversuch ist die Folge, die Partei verlangt Rechenschaft. In Stalingrad scheitert die 6. Armee. "Dieses Bild will nicht von mir lassen. Es war ein Sommertag des Jahres 1944, als fünfhunderttausend Deutsche den Marsch durch die Straßen Moskaus antraten. Verlorene Haufen von Menschen. Was mochte in diesen Männern vorgehen, die als Sieger in diese Stadt einziehen wollten."

Im Juni 1945 kehrt er ins zerstörte Berlin zurück, hofft auf einen Neubeginn, die Wiedergeburt Deutschlands, von der er im Exil geträumt und geschrieben hat. Am 2. Juli gründet sich im Funkhaus der Masurenallee der "Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands". Becher wird der erste Präsident. "Unserer Klassik ist niemals eine klassische Politik gefolgt - im Gegenteil; wir haben in unseren politischen Handlungen dem Vermächtnis unserer Besten stets zuwidergehandelt. Wir haben niemals den jenen hohen Kulturleistungen gemäßen politischen Ausdruck gefunden. Aus diesem unheilvollen Widerspruch zwischen Geist und Macht müssen wir heraus." JRB zieht in eine beschlagnahmte Nazi-Villa in Pankow - als nur scheinbar Privilegierter? "Derselbe Becher, den ich später dann sehr genau kennenlernen sollte, der dann unsinnige Gedichte geschrieben hat ("Dank euch, ihr Sowjetsoldaten"), hat stets in Haß gegenüber der stalinistischen Sowjetunion gelebt, er hat eine bewußte Verschleierungstaktik gespielt, er lebte immer in Angst", kommentiert Hans Mayer wenig glaubhaft. "Was ihn [=Becher] möglicherweise von anderen getrennt hat, ist, daß innerlich sehr viel Frust, sehr viel Widerstand, sehr viel Widerwille dagewesen sein muß. Er war zu sensibel, er war zu intelligent, um nicht so empfinden zu müssen, was die Sache nur noch schlimmer macht, denn er hat nicht dementsprechend gehandelt", urteilt Ralph Giordano.

Im Oktober 1945 reist Becher ins Riesengebirge, besucht im sowjetisch besetzten Agnetendorf den greisen Gerhart Hauptmann, will ihn als Ehrenpräsidenten des Kulturbundes gewinnen; ein Jahr später gibt er ihm das letzte Geleit. Am 5.10.1947 findet in den Berliner Kammerspielen der erste deutsche Schriftstellerkongreß statt. Unter den Teilnehmern sind Arnold Zweig, Friedrich Wolf, Anna Seghers und Wolfgang Harig. Heinrich Mann ist Ehrenpräsident, Ricarda Huch (+ 17.11.) Alterspräsidentin. Es fehlen: Thomas Mann, Hermann Hesse und Bertolt Brecht. Dennoch gilt es, die geistige Einheit der Nation zu demonstrieren: "Daß wir Deutsche jeder Art von Spekulation auf die Uneinigkeit der großen Nationen entsagen und eine selbständige deutsche Haltung anstreben, die in einer nationalen Einheit Deutschlands ihren Ausdruck findet." Am letzten Kongreßtag wird der Kulturbund in den Westsektoren verboten, der Traum der Einheit scheint zerstört. 1946 war B. nach München gereist, hatte nach fast 20 Jahren die Mutter wiedergesehen und auf der Rückfahrt noch mit Carlo Schmid und Theodor Heuss gesprochen. Seit 1946 ist er Mitglied des Parteivorstandes und Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED); 1948 Mitbegründer des Aufbau-Verlages, der Zeitschrift Sinn und Form und des "Deutschen P.E.N.-Zentrums Ost und West".

Arenshoop, ein Fischerdorf auf dem Darß, erwählt er als Sommerdomizil, will dort ein literarisches Forum schaffen nach westlichem Vorbild. "Ich hatte überhaupt in den Gesprächen, die ich dort in den Ferien hatte, das Gefühl, daß er sehr genau sah, wie viel Pseudo-Produktionen sich da aufgetan haben und wie er auch ein bißchen ohnmächtig als Leiter der Kulturpolitik doch nur sehr begrenzt sich durchsetzen konnte. Das war eigentlich das, was mich an ihm so angezogen hat: da war so viel ehrliches Erschrecken in ihm." (H.-G. Gadamer).

Weimar begeht im August 1949 Goethes 200. Geburtstag (Bild links: © Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland). "Die Urkunde des Goethepreises 1949: die Überreichung dieser Auszeichnung hat einen ganz besonderen Wert. Durch die Verleihung beider Geothepreise an Thomas Mann, den Preis in Frankfurt am Main und den Preis in Weimar, wurde auf die schönste Weise deutlich gemacht, daß deutsche Kultur unteilbar ist." (Wochenschau). "So tief ist unsere Substanz, so unabdingbar ist das Beste, das wir Deutsche unser Eigen nennen, verbunden mit dem Wesen Goethes, daß in diesem Eins-Sein und Aufeinander-Angewiesensein es undenkbar ist, daß ein einheitliches, friedliches Deutschland erstehen könnte, in dem nicht Goethe in allen deutschen Herzen beheimatet wird." (JRB). 2 Monate später, nach Gründung der DDR, textet B. ihre Hymne (s. unten); ab 1950 ist er Abgeordneter der Volkskammer und Gründungsmitglied der Deutschen Akademie der Künste.

In einer Zeit stärkster ideologischer Gegensätze rüstet sich auch Moskaus treuester Vasall, die junge "DDR": Wie einst die HJ, marschiert jetzt die FdJ *). John Becher, sein Sohn, schreibt: "Schau mit offenen Augen, und Du mußt wahrnehmen, daß die deutsche Jugend in Deiner demokratischen Republik vorbereitet und trainiert wird für ein noch größeres Blutbad. Blick auf die wieder marschierende Jugend. Hast du das nicht schon einmal gesehen?" Im Herbst 1950 kommt er aus England, Becher darf ihn in seinem Hause nicht empfangen. "Der fremde Sohn, undurchsichtig, ein Stich ins Unheimliche. Wer ist er nur?" - "Erkennst Du nicht, daß Deine Macht nur eine Illusion ist, Vater?"

Johns Offener Brief  kursiert im Westen, als der Vater im Frühjahr 1951 mit einem Staatsakt zum 60. Geburtstag geehrt wird (Bild re. zeigt ihn in diesem Jahr). "Die Krise war längst da, als ich, äußerlich betrachtet, den größten Erfolg hatte. Ich hatte eigentlich alles - nur die poetische Potenz hatte ich verloren." Becher, der im Elternhaus kaum Liebe empfing und deshalb als Vater versagte, kompensiert (wie viele andere) diesen Übelstand durch triebhafte Sinnlichkeit - so auch, als ihn Caroline de Louis, seine Sekretärin, im Saarower Refugium besucht. "Das mußte ich nun unbedingt sehen, und in diesem Traumhaus ist es dann zur Katastrophe gekommen, weil ich nicht damit gerechnet hab, daß er nun plötzlich handgreiflich wird. Also: ich habe ihn abgewiesen, und das war nun ganz schlimm. Seit diesem Tag in Saarow, in seinem Haus, hat er kein Wort mehr mit mir gesprochen, und dann, ein paar Tage später, hatte ich nun 'ne Kündigung im Haus." - "Er hatte mit allen Techtelmechtel. Er war ein sinnlicher Mensch und - seine Sorge mußte die sein: Wie bringe ich meine Sinnlichkeit durch den Kommunismus, ohne auf die Nase zu fallen. Ganz einfach: indem ich mir die Maske des Dogmatikers aufsetze; da kann mir wenig passieren. Und hinter der Maske des Dogmatikers konnte sich ... der Bock, wurde er genannt, austoben." (Joachim Seyppel). 1952 führt Becher eine Demonstration an für die ersatzlose Streichung des (1935 von den Nazis geschaffenen) Paragraphen 175 - ein ebenso humaner wie gesellschaftlich progressiver Akt.

1952: Das Nationale Aufbauwerk hat am 2. Januar begonnen; die DDR positioniert sich. "In Übereinstimmung mit den Vorschlägen aus der Arbeiterklasse, aus der werktätigen Bauernschaft, aus anderen Kreisen der Werktätigen hat das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands beschlossen, der Zweiten Parteikonferenz vorzuschlagen, daß in der Deutschen Demokratischen Republik der Sozialismus planmäßig aufgebaut wird." (Walter Ulbricht). Das bedeutet einen Aufbau nach Stalinschem Modell mit entsprechenden Einschnitten. Becher ist beunruhigt, schreibt 4 Jahre keine Lyrik mehr, doch als Partei-Agitator eine Biographie des SED-Generalsekretärs und überzeugten Stalinisten oder, wie man ihn damals nannte, "verehrten Genossen" Walter Ulbricht (re.). In einer musikalisch untermalten Filmszene spricht er zu einer Gruppe treu und ergeben blickender FDJler: "Setzen wir uns hier an dem Tisch 'n bißchen zusammen." - "Lieber Johannes R. Becher, könnten Sie uns nicht ein bißchen über die Jugend von Walter Ulbricht erzählen?" - "Ja, wahrscheinlich wißt ihr, daß ich ein Buch über Walter Ulbricht geschrieben habe. Wenn Walter Ulbricht sich an seine Kindheit erinnert, so spricht er von einer guten Kinderstube, in der er das Glück hatte aufzuwachsen. Er meint, daß er das Glück hatte, als Kind solcher Eltern geboren zu werden, die stolz darauf waren, daß sie aus der Arbeiterklasse stammten, und die schon von früh auf ihr Kind zum Klassenbewußtsein erzogen haben."

Im März 1953 erhält B. den "Stalinpreis für die Festigung des Friedens zwischen den Völkern"; kurz darauf stirbt "Väterchen" Stalin; der inzwischen fast 62jährige Becher schreibt dazu:

"Es wird ganz Deutschland einstmals Stalin danken;
in jeder Stadt steht Stalins Monument.
Dort wirst du, Stalin, steh'n, in voller Blüte
der Apfelbäume an dem Bodensee,
und durch den Schwarzwald wandert seine Güte
und winkt zu sich heran ein scheues Reh."

Mit diesem schwülstigen Kitsch glorifiziert der Nationalpreisträger, Ehrendoktor der Humboldt-Universität und Ehrensenator der Jenenser Friedrich-Schiller-Universität auf unverzeihliche Weise einen der größten Massenmörder der Geschichte und ein von diesem in der "DDR" etabliertes Unrechts-System, unter dem in - nach 1945 weiter benutzten - ehemaligen Hitler-KZs nicht weniger als 70.000 Menschen ihr Leben verloren.

Der in vielen Städten der "DDR" losbrechende Volksaufstand vom 17. Juni 1953 zeigt, was die "werktätigen Massen" vom praktizierten Sozialismus und den Arbeits-Normen des "ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden" halten. Als der Aufstand blutig gescheitert ist, ist Becher der erste Mann im Kulturbund, (als Nachfolger Arnold Zweigs) Präsident der Akademie der Künste und

ab 1954(-58) Erster Minister für Kultur. "Ich bin angelangt am Tor des himmlischen Friedens", notiert er. "Stehvermögen" (eine weitere Notiz) braucht er jetzt. "Er war [...] vom Standpunkt nicht nur meiner selbst, sondern der Schriftstellerkolleginnen und -kollegen, die ich damals kannte in der DDR, eine Person, der man einen gewissen Respekt entgegenbrachte, aber er wurde nicht geliebt. Er war ein Mann, der Zuneigung einfach nicht zuließ - es war nicht möglich. Und er wollte das, glaube ich, auch gar nicht, er wollte bewundert werden. Wir wußten, daß er eitel war - da kann man sagen: wer von uns ist nicht eitel -, aber er war es auf eine besondere Art und Weise." (Ralph Giordano). "Dreierlei Deutsche (notiert Becher): die einen tun so, als hätten sie den Krieg gewonnen, die anderen, als hätten sie die Revolution gemacht, und die dritten, als wäre überhaupt nichts geschehen."

Nikita Chruschtschow (Bild li.), der einst linientreue Stalinist und Verkünder der sowjetischen Doktrin zweier deutscher Staaten (1955), hält am 25. Februar 1956 auf dem XX. Parteitag der KPDSU seine Geheimrede über J.W. Stalin. "Das muß für Becher und alle, die wie er in der sowjetischen Emigration waren, ein furchtbarer Schlag gewesen sein", kommentiert Gustav Just, "denn: was stellte sich heraus? Daß alle diese, die er selbst im Verein mit anderen als Renegaten geschmäht hatte, daß die eigentlich recht hatten - Stalin hat nicht nur ein paar Fehler begangen, sondern scheußliche Verbrechen, und auf diesen Stalin hatte er Gedichte geschrieben." - "Ich habe große Schuld", erkennt Becher, "da hat es auch die Sprache mir verschlagen."

Mit Georg Lukácz, dem alten Freund und künftigen ungarischen Ministerkollegen, verbringt B. den Sommer 1956 im Harz. Doch der Ungarn-Aufstand (23.10.-4.11.56) wird blutig zerschlagen; Lukácz interniert. "Man muß wissen, daß etwa vom Frühjahr [...] bis zum Oktober in der DDR plötzlich eine unfaßbare Liberalität und Freiheit ausgebrochen war. Es haben nicht viele dies wirklich bemerkt, aber [...] unsere etwas diffuse Opposition, wir haben versucht, daraus etwas zu machen. Mit den ungarischen Oktober-Ereignissen ist das abgebrochen, die Partei hat sich dann wieder gefangen, ihre Diktatur restabilisiert, und unsere Leute wurden überall entweder verhaftet oder ausgetrieben; ich war der einzige, der überhaupt noch in den Westen den Absprung gefunden hat. Meine Freunde von Harig bis Janka mußten ja alle ins Gefängnis." (Gerhard Zwerenz) - "Er hat auf die Verhaftung Jankas, besonders aber auch schon auf die Verhaftung Harigs, sehr scharf reagiert, ist also offenbar im Politbüro vorstellig geworden, [...] konnte aber nichts erreichen und hat sich dann hineingeschickt, aber er hat in der Öffentlichkeit natürlich zu dem Prozeß gestanden." (Gustav Just).

"Gestern bei Becher. Hans hat einen Bluterguß im Auge - ein gefährliches Symptom. Er muß völlige Ruhe halten und alle Ämter und Funktionen aufgeben", schreibt Hanns Eisler am 2.9.1957. Im Konflikt zwischen Partei-Treue und Opposition bricht Becher zusammen und fügt sich; das Ende naht. "Hast du Angst? Angst muß der Mensch haben, wenn aus ihm etwas werden soll", hatte der verhaßte Vater gesagt. Ein letztes Mal verbringt er in seinem "Traum-Gehäuse". Den zweiten Teil des "Abschieds" kann er nicht vollenden. Die Narben der Schußwunde von 1910 verhindern eine Röntgendiagnose. Man entdeckt den Krebs zu spät.

Am 11. Oktober 1958 stirbt J.R. Becher, wird mit großem Pomp beerdigt - gegen seinen Willen: "Ich bitte von allen offiziellen Ehrungen anläßlich meines Todes Abstand zu nehmen. Laßt mich nicht in den Himmel ein. Ich litte dort in eurem Paradiese noch mehr an Qual als in der Hölle Pein. Ich wähl' die Hölle - und begehr nur diese."

Werke: 1911 erste literarische Veröffentlichungen; Die Gnade des Frühlings (Dichtung 1912); Verfall und Triumph"(1914); Lyrikband An Europa (1916); Gedichtsammlung An alle (1919); Epos Am Grabe Lenins (1923); Gedichtband gegen Hindenburg Der Leichnam auf dem Thron (1925 beschlagnahmt) und Roman "Levisite oder Der einzig gerechte Krieg" (1925; eine Warnung vor dem Gaskrieg); Lyrikband Maschinenrhythmen (1926); Der Bankier reitet über das Schlachtfeld (Erzählungen; 1926); Der große Plan. Epos des sozialistischen Aufbaus (UA 1932); Der Glückssucher und die sieben Lasten u. Abschied (1938/40; verfilmt 1968); Winterschlacht (1941); Die hohe Warte. Deutschland-Dichtung (1943);  Ausgewählte Gedichte aus der Zeit der Verbannung (1945); Volk im Dunkeln Wandeln (1946); Lyriksammlung Heimkehr (1946); Neue deutsche Volkslieder (1950); Auf andere Art so große Hoffnung,. Tagebuch (1950); Deutsche Sonette (1951); Verteidigung der Poesie. Vom Neuen in der Literatur (1952); Ulbricht-Biographie; Gedichtband Schritt der Jahrhundertmitte (1958).

Auszeichnungen: Ernst-Moritz-Arndt-Medaille (1949); Nationalpreis 1. Klasse (1949 und 1950); Dr.phil. h.c. der Humboldt-Universität Berlin (1951); Ehrensenator der Friedrich-Schiller Universität Jena; Leninpreis (1952); Stalinpreis (1953); Vaterländischer Verdienstorden in Silber (1954)


1. Auferstanden aus Ruinen
Und der Zukunft zugewandt,
Laß uns dir zum Guten dienen,
Deutschland, einig Vaterland.
Alte Not gilt es zu zwingen,
Und wir zwingen sie vereint,
Denn es muß uns doch gelingen,
Daß die Sonne schön wie nie
|: Über Deutschland scheint. :|
2. Glück und Frieden sei beschieden
Deutschland, unserm Vaterland.
Alle Welt sehnt sich nach Frieden,
Reicht den Völkern eure Hand.
Wenn wir brüderlich uns einen,
Schlagen wir des Volkes Feind!
Laßt das Licht des Friedens scheinen,
Daß nie eine Mutter mehr
|: Ihren Sohn beweint. :|
3. Laßt uns pflügen, laßt uns bauen,
Lernt und schafft wie nie zuvor,
Und der eignen Kraft vertrauend,
Steigt ein frei Geschlecht empor.
Deutsche Jugend, bestes Streben,
Unsres Volks in dir vereint,
Wirst du Deutschland neues Leben,
Und die Sonne schön wie nie
|: Über Deutschland scheint. :|

Versuch einer Interpretation (W. Näser)

Ein Text wie der vorliegende sollte unvoreingenommen betrachtet werden - nur so ist eine werkgerechte Würdigung möglich. Auch bietet sich ein Vergleich an zum - von Hoffmann von Fallersleben am 26.8.1841 auf der Insel Helgoland verfaßten "Lied der Deutschen", dessen dritte Strophe zur Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland wird und in dieser Funktion auch die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten am 3.10.1990 überdauert. Die Musik zu dieser Hymne stammt aus [Franz] Joseph Haydns (1732-1809) "Kaiserquartett" und wäre - in ihrer feierlichen Beschaulichkeit - auch der "Becher-Hymne" adäquat gewesen, hätte nicht der Schönberg-Schüler Hanns Eisler (1898-1962), dem Jascha Horenstein "numerous elements of an almost Schubert-like tenderness and beauty" attestiert (s. hier), eine variantenreichere und daher dem Text gemäßere Vertonung geschaffen und damit die Gliederung der Strophen (A-B-A bzw. 4-2-[2+1R]) musikalisch adäquat umgesetzt. Sie beginnen jeweils mit feierlich-getragenen vier Zeilen, jede der Stimmung gemäß durchkomponiert bis zum Höhepunkt. Danach folgt - als Mittelteil - eine jeweils kämpferisch-programmatische Aussage, marschmäßig gestaltet, wonach im Schlußteil das Anfangsmotiv wiederaufgenommen und die Strophe mit einem wiederum farblich abgesetzten Refrain beschlossen wird.

1. Schon die erste Zeile zeigt den Bezug zur historischen Aktualität: als Ergebnis des 2. Weltkriegs ist Deutschland ein Trümmerhaufen; nie zuvor hat Europa ein solches Ausmaß von Zerstörung erlebt. Rund 26 Millionen Menschen sind umgekommen; das Land, von dem all dies ausging, gleicht weitgehend einer Mondlandschaft, das in vielen Jahren von klugen Köpfen Geplante und von fleißigen Händen Erbaute wurde zu Staub, viele Kunstschätze wurden unwiederbringlich vernichtet. Nun gilt es, aufzubauen und in die Zukunft zu schauen; es hat jetzt wenig Sinn, mit dem Vergangenen und damit dem Schicksal zu hadern. Deutschland, das Land der Väter, soll in seiner Einheit (die es anzustreben gilt) nur noch Gutes erschaffen. Bezwingen können wir die Not nur mit vereinten Kräften; nur so schaffen wir es (unabdingbar), daß das Leben wieder lebenswert wird und die Sonne - so schön wie nie zuvor - über unserem Vaterland scheint. Das bedeutet: nicht nur neu beginnen, sondern es jetzt besser machen.

2. Soll dieser Neuanfang gelingen und nicht erneut zum Scheitern verurteilt sein, so muß er im Zeichen des Friedens stehen, den die Welt braucht wie nie zuvor. Deshalb müssen wir den Nachbarn die Hand reichen, zu ewiger Versöhnung und dauerhaftem Frieden; in diesem Geiste brüderlich vereint, werden wir all das überwinden, was unserem Volke schaden könnte - so auch alle Bestrebungen, die zu neuen Konflikten und mörderischen Kriegen verleiten. Nur im Lichte eines dauerhaften Friedens braucht keine Mutter mehr ihr Kind zu beweinen, das sie so mühevoll und unter großen Opfern herangezogen hat und das dann von verbrecherischen Elementen in sinnlosem Krieg geopfert wurde.

3. Dieser Strophe liegt die Emblematik der DDR-Fahne zugrunde. Ein mit schwarzrotgoldenen Bändern verzierter Ährenkranz (Symbol all dessen, was das fruchtbare Land den Menschen schenkt) umrahmt hier Hammer und Zirkel, die Symbole handwerklich-technischen Fleißes und Fortschritts (warum nicht auch ein Buch für die Bildung und Wissenschaft?) und zugleich eines polytechnischen Ideals, das, mit dem Ziele einer allseitig gebildeten Persönlichkeit, im Westen nur hier und da innerhalb der Landschulheim-Bewegung (=> Odenwaldschule, parallel zur gymnasialen Oberstufe eine Handwerksausbildung mit Gesellenbrief) realisiert wurde.
In diesem Sinne, sagt Becher, laßt uns pflügen (=> Ährenkranz) und bauen (=> Zirkel für Messen und Planen, Hammer für die praktische Arbeit), laßt uns (in gesunder Synergie von Geist und Körper) lernen und arbeiten wie nie zuvor und - im Vertrauen auf die eigene Kraft (= nicht [wiederum] in fremder Abhängigkeit) - eine neue, freie Gesellschaft errichten. Sind die besten Bestrebungen des Volkes (als Früchte seiner geistigen und politischen Geschichte) in ihr vereint (also pädagogisch angelegt), so kann die Jugend unserem Lande ein neues, besseres Leben bereiten und kann - hier schließt sich der Bogen - (als Resultat dieses fortschrittlichen Neuanfangs) endlich die Sonne (= Symbol des Friedens und Wohlstandes) wieder über unserem Lande scheinen.

Abgekoppelt vom Thema "Theorie und Praxis des Sozialismus" und weitgehend textimmanent gesehen, ist und bleibt die DDR-Hymne ein wichtiges Dokument, ein zeitloses Memorandum, eine denkwürdige Alternative politischen Handelns. Inwieweit - angesichts der gegenwärtigen Weltlage - der Gehalt dieser Strophen realisierbar ist oder bleibt, das ist eine ganz andere Frage, über die zu reflektieren sich lohnen, doch so manches Kopfzerbrechen bereiten würde.

Ergänzung:
Dr. Steffen Schmidt (Marie-Curie-Allee 97, D-10315 Berlin) sendet mir am 24.1.2005 folgenden Text:

"Am 5. August 1951 bekam der Dichter Johannes R. Becher (später Kulturminister der DDR) vom Zentralrat der DDR-Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend aus Anlaß der Weltfestspiele der Jugend, die im gleichen Jahr in Berlin (Ost) stattfanden, den Auftrag, einen neuen Text für Beethovens Chorfantasie zu verfassen. Künstlerisch gedeckt sah sich Becher durch eine überlieferte Ansicht Beethovens, der 1808 kurzfristig geschriebene Text sei eigentlich unzureichend, es würde ihm bei einer eventuellen Neufassung im Auftrage seine Notenverlegers einzig auf die herausgehobene Stellung des Wortes »Kraft« ankommen. Dem entsprechend folgt Becher dem alten Text teilweise wörtlich. Bechers Neufassung wurde erstmals am 12. August 1951 in der Wochenzeitung des Kulturbunds der DDR »Sonntag« gedruckt. In einer Schallplatteneinspielung existiert er meines Wissens nur aus dem Jahre 1960, aufgenommen für das DDR-Schallplattenlabel ETERNA mit dem Pianisten Günter Kootz, dem Gewandhausorchester und dem Rundfunkchor Leipzig unter Leitung von Franz Konwitschny." Neuauflagen: [1] Rundfunkchor Berlin (1990), [2] RIAS-Kammerchor

Im folgenden beide Texte (Kuffner, Becher) im Vergleich:
        Chorfantasie (1808)1)

Schmeichelnd hold und lieblich klingen
Unsers Lebens Harmonien,
Und dem Schönheitssinn entschwingen
Blumen sich, die ewig blühn.

Fried' und Freude gleiten freundlich
Wie der Wellen Wechselspiel;
Was sich drängte rauh und feindlich,
Ordnet sich zu Hochgefühl.

Wenn der Töne Zauber walten
Und des Wortes Weihe spricht,
Muß sich Herrliches gestalten,
Nacht und Stürme werden Licht.

Äuß're Ruhe, inn're Wonne
Herrschen für den Glücklichen.
Doch der Künste Frühlingssonne
Läßt aus beiden Licht entstehn.

Großes, das ins Herz gedrungen,
Blüht dann neu und schön empor,
Hat ein Geist sich aufgeschwungen,
Hallt ihm stets ein Geisterchor.

Nehmt denn hin, ihr schönen Seelen,
Froh die Gaben schöner Kunst.
Wenn sich Lieb' und Kraft vermählen,
Lohnt dem Menschen Göttergunst.

                Geist und Kraft (1951)2)

Seid gegrüßt! Laßt Euch empfangen
Von des Friedens Melodien!
Unser Herz ist noch voll Bangen,
Wolken dicht am Himmel stehn.

Aber neue Lieder tönen,
Und der Jugend Tanz und Spiel,
Zeugt vom Wahren und vom Schönen,
Ordnet sich zu hohem Ziel.

Wo sich Völker frei entfalten
Und des Friedens Stimme spricht,
Muß sich Herrliches gestalten,
Nacht und Träume3) werden Licht.

Leben wird zu Lust und Wonne,
Wird zu aller Wohlergehn,
Und der Künste Frühlingssonne
Läßt die Welt uns neu erstehn.

Großes, das uns je gelungen,
Blüht im neuen Glanz empor.
»Friede, Friede ist errungen!«
Jubelt laut der Menschheitschor.

Nehmt denn hin, ihr lieben Freunde,
Froh der Gaben schöner Kunst.
Wenn sich Geist und Kraft vereinen,
Winkt uns ewigen Friedens Gunst.

1) Chorfantasie c-Moll für Klavier, Chor und Orchester op. 80; Text von Christoph Kuffner (1780-1817), einem mit Beethoven befreundeten Dramatiker
2) Quelle: Johannes R. Becher: Gesammelte Werke, Band 6, S. 482, Berlin 1973;
3) im ursprünglichen Text stand hier noch Stürme 

Anmerkungen:

  1. Tilman Riemenschneider (ca. 1460-1531) schuf den berühmten hölzernen Heilig-Blut-Altar der Ev.-Luth. Kirche St. Jakob in Rothenburg ob der Tauber, in dessen Zentrum das (1501-1505 entstandene) Letzte Abendmahl steht. Als Würzburger Ratsherr und Bürgermeister war er im Bauernkrieg (1525) auf der Seite der Aufständischen und wurde deshalb schwer bestraft.
  2. *) Der Film hatte Erstsendung am 27.12.2000 und erhielt beim Grimme Preis 2001 den Sonderpreis des Ministeriums für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport des Landes NRW.
  3. Zahlreiche Doppelselbstmorde aus unglücklicher Liebe gab es bis heute in Literatur und Realität; u.a. bei Ludwig Anzengruber 1876; zu den juristischen Aspekten eines einseitig fehlgeschlagenen DS z.B.. BGHSt 19, 135, 140 (Urteil vom 14.08.63 - 2 StR 181/63); es verwundert sehr, daß es J.R. Bechers angeblich so strengem und "verhaßten" Vater gelang, seinem Sohn die angemessene strafrechtliche Verfolgung zu ersparen.
  4. "Und jedes Unkraut reißt du aus": damit billigt J.R. Becher auf zynische Weise die (übrigens von der Kommunistischen Partei der USA unterstützten) "Säuberungen" J.W. Stalins, denen, wie man später schätzte, noch vor Ausbruch des "Großen Vaterländischen Krieges" mehr als zehn Millionen Menschen zum Opfer fielen, darunter viele jüdische Intellektuelle, und die an den Grenzen der SU nicht halt machten (Trotzkis Sohn Leo Sedow starb am 16. 2. 1938 in einem Pariser Hospital als Opfer eines offensichtlichen Operationsmordes. Im August 1940 ermordete der stalinistische Agent Ramon Mercader den nach Mexiko geflohenen Leo Trotzki (= Leo Dawidowitsch Bronstein) hinterrücks mit einem Eispickel in Coyoacan; hierzu auch Shannon Jones). Der wie Becher ebenfalls zeitweilig in der Berliner Künstlerkolonie lebende Arthur Koestler hatte schon 1940 in seinem Roman "Sonnenfinsternis" Stalins Säuberungen und die Moskauer Prozesse angeprangert, was z.B. von der engl. Öffentlichkeit als "ziemlich weit hergeholt" abgelehnt wurde (Marko Martin)
  5. Hierzu auch: Beyrau, Dietrich: Schlachtfeld der Diktatoren. Osteuropa im Schatten von Hitler und Stalin. 2000 (=Kleine Reihe V&R 4021)
  6. Adenauer verbietet in Westdeutschland die FDJ am 26.6.51
  7. Auf der 2. Parteikonferenz (9. bis 12. Juli 1952) ruft Wilhelm Pieck (s.u.) auf zum "Kampf gegen den Pazifismus" und folgt hiermit der Weisung Stalins, der bei einem Gespräch mit SED-Führern im April 1952 entschieden hatte, die pazifistische Periode sei vorbei (IfGA, Zentrales Parteiarchiv, NL 36/696, S.26). In dieser schlimmsten Zeit des Kalten Krieges greifen die DDR und die sowjetische Besatzungsmacht zu harten Mitteln:
  8. Ziel des Umbaus ist, die sogenannte "antifaschistisch-demokratische" Ordnung in eine sozialistische überzuleiten. Im Zuge dessen
  9. Wenn Mayer den Dichter so genau kannte, muß er auch von dessen Stalin-Ode und dem mehr als törichten "Nachruf" (s.o.) gewußt haben; es ist schon ein starkes Stück, solche Verhaltensweisen als "bewußte Verschleierungstaktik" wegzuentschuldigen.
  10. Nach 1949 gibt es eine Kontroverse um das Deutschlandlied. Bundespräsident Heuß meint, es sei durch die Nazis diskreditiert, Adenauer hingegen will an ihm festhalten - und setzt sich durch. Am 2. Mai 1952 erklärt Heuß 'Einigkeit und Recht und Freiheit' zur westdeutschen Hymne.
  11. Zur Genese der Hymne:
    Wilhelm Pieck (Bild rechts; damals Berlin Viktoriastraße 12/13, schräg gegenüber von JRB.) schreibt am 10.10.49 an JRB (Viktoriastraße 21):
    Lieber Freund Becher

    Mir ist in dieser Nacht, wo ich vor neuralgischen Schmerzen nicht schlafen konnte, folgender Gedanke über eine Hymne der Republik gekommen:

    Die Hymne sollte drei Verse mit je einem Refrain enthalten.
    Der 1. Vers sollte die Demokratie in Verbindung mit der Kultur haben.
    Der 2. Vers die Arbeit in Verbindung mit dem Wohlstand des Volkes.
    Der 3. Vers die Freundschaft mit den Völkern in Verbindung mit dem Frieden.
    Der Refrain sollte die Einheit Deutschlands zum Inhalt haben.

    Überlege Dir einmal diesen Gedanken. Wenn Du einen besseren hast umso besser.
    Mit den besten Grüßen

    .
    .
    .

    Becher gibt seinen Text am 12.10.1949 an den Komponisten Ottmar Gerster, der am 23.10. die Fertigstellung einer Melodie vermeldet. Etwa zu dieser Zeit weilt Becher mit Hanns Eisler in Warschau. Eisler spielt ihm eine Melodie vor. Bechers Text und Eislers Melodie werden neben der Kombination Becher/Gerster am 05.11.1949 dem Politbüro vorgestellt. Politbüro und Ministerrat entscheiden sich für Eislers Vertonung. Am 06.11.1949 wird ein Vorabdruck der Hymne hergestellt und diese erstmalig in der Deutschen Staatsoper zum 32. Jahrestag der Oktoberrevolution gespielt (nach H. M. Schulze, Kunsthistoriker mit dem zeitgeschichtlichen Spezialgebiet "Die frühen Jahre der SBZ/DDR").

  12. Im Gegensatz zu anderen, die in dem derzeitigen "Krieg gegen den Terror" neue Chancen und Möglichkeiten mannhaft-soldatischer Profilierung suchen, betrachte ich jede Art von Krieg als sinnlos. Ich verweise u.a. auf Albert Schweitzers Konzept der "Ehrfurcht vor dem Leben", auf die literarischen Darstellungen von Remarque, Tucholsky, Eich, Kästner, Niemöller, Borchert, Zuckmayer, Buchheim und Topp sowie meine Ausführungen zum Uboot- und Kosovokrieg. Solange nicht versucht wird, unanbhängig von Religion und politischer Couleur des potentiellen Gegners Konflikte auf friedliche Weise zu lösen, wird sich eine Barbarei fortsetzen, die mit dem Fortschritt der Zivilisation (nicht = Kultur) immer "vornehmere" Gestalt angenommen hat.

Links: (Auswahl, beg. 16.8.2k2)

  1. Die DDR im WWW
  2. Alexander Drews: DDR-Wörter
  3. Glossar zur Ausstellung "Auftrag: Kunst 1949-1990" (Dt. Hist. Museum)
  4. Auswahlbibliographie DDR-Medien (Thomas Beutelschmidt)
  5. DDR-Alltag:
    * Barbara Juliane Hoffmann: Seminararbeit "Alltag der deutschen Teilung" (verlinkt mit Fußnoten)
    * 50 Jahre Deutschland-Alltag (Unterhaltung in der DDR)
  6. DDR-intern: Geschichte und Geschichten (Links)
  7. Die Nationale Volksarmee der DDR
  8. DDR-Literatur und -Kunst:
    * kleine Geschichte
    * EGOs Links und Surftipps
    * 70er und 80er Jahre (Besprechungen)
    * sozialistischer Realismus (Lektürevorschläge)
  9. Die DDR im Kalten Krieg 1949-53
  10. Stasi-Opfer / MfS-Unrecht

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