Dr. Wolfgang Näser: Wörter und Wendungen in aktuellen deutschen Zeitungstexten * SS 1998
Text 1:
von Christoph Dieckmann (Aus der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 23.04.1998);
vgl. Sie [nachträglich] auch den WELT-Artikel vom
18.12.98; Text zitiert nur zu
didaktischen Zwecken; wichtige Wörter unterstrichen
Das Bier kam nicht allein. Ein trauriger Mensch schleppte sich und seine Plastetüte an unsern Tisch in der Bahnhofskneipe von Eichwalde bei Berlin. Er bestellte das Nötige, sann hinaus in den Regen und sprach von vergangenem Osterglück. Frau und zwei Kinder, sagte der Mann. Eiersuchen, schön im Jrünen.
Abjehakt. Vorbei. Die Scheidung war der zweite Absturz meines Lebens. - Und der erste?
Ich hätte, sagte er, der erste deutsche Kosmonaut sein können. Ich war im Jagdfliegergeschwader von Sigmund Jähn. Dann das. Mit der MiG 21. Aus zwölftausend Metern.
Wie kommt man da heil runter? - Heil? Jetzt muß ich Brille tragen.
Beim Thema Absturz kamen wir unweigerlich auf Eichwaldes Altstar zu sprechen. Ich habe den Schnitzler länger nicht gesehen, sagte der Kosmonaut. Ob der Karl-Eduard sich offen zeigen könne? Aber klar, jetzt wieder. Die Leute klopfen ihm auf die Schulter: Sie haben ja so recht gehabt mit Ihren Warnungen vor dem Kapitalismus, Herr von Schnitzler. - Als der markante Name nun zum dritten Mal gefallen war, erhob sich am Nachbartisch ein trunkener Karsamstagsgesang: Spaniens Himmel breitet seine Sterne / über unsern Schützengräben aus ...
Die Heimat ist weit ... Jeden Montagabend lud das Fernsehen der DDR zum ideologischen Wechselbad. Um halb acht die "Aktuelle Kamera" mit Honecker und Produktionsberichten. Dann der alte Ufa-Film. Hans Moser moserte, Theo Lingen näselte baronös, Marika Rökk gurrte in adligen Armen. Adlig ging es weiter. Karl-Eduard von Schnitzlers "Schwarzer Kanal" präsentierte Ausschnitte klassenfeindlichen Fernsehens, die anschließend seiner Entlarvung verfielen. Ja, es war erschreckend, wie der Westen log, verfälschte und verschwieg. Schnitzler schüttelte das hart bebrillte Silberhaupt, sog verächtlich Luft und schnaufte souverän. B-R-D, skandierte er mit Ekel und hackte auf der Sessellehne mit flacher Hand den Takt. Im-pe-ri-a-lis-mus / Menschenverachtung des / Klassenkampf im / Feindbild, Freundbild, Hygiene im Äther. Was aus dem Westen kommt, meine Hörer, das ist vom Feind.
In diesem Sinne, liebe Genossinnen und Genossen
Es steht zu befürchten, daß nicht alle Bürger der DDR sämtlichen 1519 Ausgaben des "Schwarzen Kanals" zu folgen vermochten. Oder warum sonst hätten sie im Herbst 1989 bei den Montagsdemonstrationen geschrien: Schnitzler in den Tagebau, Schnitzler in die Muppet-Schau! Dieser konterrevolutionäre Traum blieb unerfüllt, doch am 30. Oktober 1989 mußte der Chefkommentator vom Schirm. Er schied mit viereinhalb Minuten Kampfansprache. Er habe nichts zu bereuen. Er bleibe Waffe im Klassenkampf. Und in diesem Sinne, liebe Genossinnen und Genossen, auf Wiederschau'n!
In diesem Sinne sehen wir ihn wieder: einen Greis. Achtzig wird er am 28. April. Weich reicht er die Hand und führt auf die begrünte Veranda. Ächzend sinkt er in den Sessel. Der Rücken, nur der Rücken! Das Rückgrat sei intakt.
Wie telephonisch angeraten, haben wir Schnitzlers Autobiographie "Meine Schlösser" studiert. Und westliche Quellen, eigenmächtigerweise. Können Sie alles vergessen, sagt der alte Mann. Das ist kein Journalismus, das ist moralischer Mord an einem Klassenfeind. Da dem deutschen Kapitalismus nichts Schlimmeres passieren konnte als die DDR, mußte ihr schärfster Vorkämpfer in den Dreck gezogen werden. Völlig klar. Amüsiert mich. Bestätigt meine Haltung.
Ebendies ist leider das Problem. Jedwedes Ding und Wesen dieser Welt bestätigt Karl-Eduard von Schnitzlers Haltung. Unser Gespräch wird ein zweieinhalbstündiger "Schwarzer Kanal" - ohne Westfernsehen, dafür interaktiv: Endlich hört die Macht mal zu. Daß sie nicht mehr amtiert, ficht ihr Dogma nicht an. Sehr bald muß Schnitzler des Besuchers bürgerliche Klischees monieren, unser kapitalistisch manipuliertes Bild von Geschichte. Alles, sagt er, was Sie bisher vorgetragen haben, hat eine Tendenz: Antikommunismus.
Er kollert und entkollert sich. Er ist recht freundlich und auch im hohen Alter ein Virtuose historischer Details. Nur gelöst erzählen kann er kaum. Er muß an die Front, und sei es mit dem Lattenschwert. Der Adenauer, sagt er schon nach zehn Minuten, war persönlich ein ganz lieber Onkel. Kohl geht mit seinen Kindern und Enkeln sicher auch sehr freundlich um. Hitler war ja auch tierlieb.
Mit Adenauer kennt sich Schnitzler aus. Als Kind hat er auf seinem Schoß gesessen. Man kann den Bankiers- und Adelssproß Karl-Eduard von Schnitzler nicht begreifen ohne seinen Lebensstolz: den Klassenverrat. In einer Verbrecherfamilie sei er aufgewachsen, angefangen vom Vater, dem höchsten Vertreter des Kaiserreichs in China (Tagebucheintragung während des Boxeraufstandes: "Es wurde munter hin und her geköpft ...") bis hin zur familiären Beteiligung an den Kriegsverbrechen der IG Farben. Unermüdlich predigt Schnitzler Lenin: Faschismus ist die scheußlichste Erscheinungsform des Imperialismus, dieser die höchste Form des Kapitalismus.
Schnitzlers erste Jahrzehnte: ein Abenteuerbuch. Sozialistische Arbeiterjugend, Medizinstudium (abgebrochen), Front, Strafbataillon, in der Normandie von der alliierten Invasion überrascht. Über BBC Reden an Wehrmachtssoldaten. 1946 Mitbegründer des Nordwestdeutschen Rundfunks. Dann der Weg nach Osten. Als er 1949 Wilhelm Piecks Wahl zum DDR-Präsidenten übertrug, sagt Schnitzler, habe er endlich sein Vaterland gefunden.
Er lebte und lebt in einer manichäischen Welt. Da die Geschichte Klassenkampf ist, sind all ihre Rätsel Klassenfragen. So war Hitler kein Dämon, sondern der Sendling des Großkapitals. So war Stalin, obzwar ambivalent, kein Russen-Hitler, sondern sein Gegenteil. Der Gulag? Schlimm, ganz schlimm, eine schwere Verletzung Leninscher Prinzipien, aber keineswegs systemimmanent. Ändert nichts am antiimperialistischen Charakter der Sowjetunion.
Herr von Schnitzler, Sie schauen von oben, ich von unten. Kann es dem Muschik nicht egal sein, für welches Ideal man ihn ermordet?
Hören Sie doch mit diesem Unsinn auf! ruft der alte Mann erregt. Und was hat Ihr Christentum ... - Denken Sie, ich rechtfertige Verbrechen im Namen Jesu Christi?
So? So? Das sagen Sie? Die Sowjetunion stand im Überlebenskampf. Danken Sie Stalin auf Knien für den Nichtangriffspakt mit Hitler. Das brachte ihm Zeit und das Baltikum und damit die Kilometer, die Hitler dann bis Moskau fehlten. Sonst ständen Sie heute vielleicht als faschistischer Soldat am Ussuri.
Und warum hat dieser Stalin, der Zeit brauchte, noch 1938 seine Armeeführung abgeschlachtet? Diese unfaßbaren Verbrechen ...
Erstens, sagt Schnitzler, seien sie faßbar. Zweitens müßten wir nur das wichtigste Buch über die letzten sechzig Jahre lesen: Kurt Gossweiler, "Wider den Revisionismus". Revisionismus sei auch der Grund für die schwere Niederlage des Sozialismus 1989. Sie habe nicht in Berlin begonnen, sondern in Warschau und Budapest und, lange zuvor, nach Stalins Tod, in der Sowjetunion. Mit Chruschtschow sei an die Stelle des Klassenkampfes peu à peu die Versöhnung mit dem Westen getreten. Wandel durch Annäherung, das sei Brzezinski, kopiert durch Egon Bahr: Umarmung, dann Erwürgung des Sozialismus. Völlige Mißdeutung des Leninschen Begriffs der friedlichen Koexistenz, der här-te-sten Klas-sen-kampf-gebiete - in Politik, Ökonomie, Kultur, ja, auch im Fußball, nur nicht auf dem Schlachtfeld.
Noch vieles, vieles haben wir gelernt in dieser Privatausgabe "Schwarzer Kanal": daß soziale Markwirtschaft nur ein Tarnbegriff ist für hundsgewöhnlichen Sozialismus, äh, zurück, marsch, marsch, Kapitalismus. Daß man ihn nicht zivilisieren kann (Aha, Sie finden es zivil, daß der Kapitalismus in Afrika und Jugoslawien Krieg führt?!). Daß Frau Dönhoff, pardon, Gräfin Dönhoff irrt. Daß die Diktatur der Banken und Konzerne nicht zu ändern ist durch freie Wahlen und Demokratie (Hörn'se uff mit dem Schwindel). Daß kein kapitalistischer Staat ein Rechtsstaat ist und das Internet der größte Feind der Solidarität. Daß der Kapitalismus nicht durch Verelendung zusammenbrechen wird. Er muß gestürzt werden.
Wie? - Revolution. Jetzt haben Sie Ihr Schlagwort.
Was Schnitzler bedauert? Er sei nicht scharf genug gewesen. Habe den Kapitalismus nicht radikal genug entlarvt. Nach innen zuviel Erfolgsglocke geläutet. Zuwenig Wahrheit riskiert. Castro sage rigoros, was sei, und habe deshalb die Unterstützung seines Volkes. Der größte Fehler Stalins: die Psychologie für eine Afterwissenschaft des Kapitalismus zu halten. Die DDR habe psychologisch schwer gesündigt. Nie agiert, immer nur reagiert auf den Westen und seine Manipulationsmaschinerie.
Wo Karl-Eduard von Schnitzler recht hat, hat er recht. Daß die DDR ein Ikarus gewesen sei, der bewiesen habe, daß der Sozialismus fliegen könne, ist ein tiefreligiöser Satz. Muß man erwidern, daß der SED-Parteijournalismus à la "Schwarzer Kanal" Sargnägel für die DDR fabrizierte, Flakfeuer auf den Ikarus, der übrigens nie flog, sondern redlich die Erde befuhr? Ikarus hießen die schweren ungarischen Busse mit Heckmotor. Man sollte verstehen, daß es Schnitzlers Glück und Lebenssinn bedeutet, so zu reden, wie er spricht. Was bliebe ihm sonst? Das Haus muß er mit seiner Frau verlassen. Die Miete wird zu hoch, die neue Wohnung klein.
Ich fürchte, sagt Schnitzler zum Abschied, daß Sie mit so vielen kapitalistischen Vorurteilen an Ihren Artikel gehen, daß ein nicht ganz wahrheitsgemäßer Spiegel herauskommt. Wieviel wollen Sie denn schreiben?
So eine halbe Seite ungefähr. - Das ist viel. - Da kommt allerdings ein Photo dazu. - Welches nehmen Sie?
Das würde ich jetzt gern noch machen. Vielleicht da am Fenster, neben dem Hibiskus? - Oh, sagt der alte Mann, der ist ja aufgeblüht.
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Glossar dazu (W. Näser, neu gesetzt 21.11.2k6):
Konzeption und Erghänzungen (c) W. NÄSER 4.98 ; überarbeitet 11.2k6; Zitate nur zu didaktischen Zwecken