Dr. Wolfgang Näser: Wörter und Wendungen in aktuellen deutschen
Zeitungstexten * SS 1998
Text 7
Wenn Gerhard andere Saiten aufzieht
Panische Zeiten, kein Rückenwind: Warum Udo Lindenberg
und andere Links-Rocker nicht für die SPD
schrödern
Von Martin SCHOLZ
[FRANKFURTER RUNDSCHAU, 30.4./1.5.98, S.3]
Der Text wurde leicht gekürzt (Absatz 2 weggelassen); aus didaktischen
Gründen (bessere Durchsichtigkeit von Inhalt und sprachlicher
Struktur) wurden alle Einzelsätze numeriert. * = neuer
Absatz
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Wir wissen nicht, wie die Plattensammlung von Gerhard Schröder aussieht.
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Wir wissen aber, daß sein Lieblingslied "In The Ghetto" heißt,
weil das, wie er findet, "der beste Song von Elvis" sei.
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Der King kommt immer gut.
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Auch das wissen wir spätestens, seit Bill Clinton 1992 in einer TV-Show
den Elvis spielte.
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Der damals abgeschlagene Präsidentschaftskandidat aus Arkansas habe
seinen Widersacher George Bush nicht zuletzt deshalb überholt, weil
er "Heartbreak Hotel" ins Saxophon und der Nation damit den Geist der Freiheit
ins Gesicht blies - glaubt zumindest der Politologe und Schriftsteller Greil
Marcus, der sicher ist, daß die Mechanismen der Pop-Musik auch in der
Politik gelten. [...]
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* Über Gerhard Schröders Generalmanager läßt sich zur
Zeit nur sagen, daß sie sich - höflich ausgedrückt - nicht
so recht im Pop zu Hause fühlen.
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Ausgerechnet die nicht mehr ganz taufrische Chanteuse Anne Haigis hat NRW-Spin
Doctor Franz Müntefehring als Headliner ausgesucht.
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Ihre schrecklich gut gemeinten Lied-Zeilen "Laßt uns die neue Zeit
besingen, niemand hält uns jetzt noch auf" sollen künftig die Genossen
mobilisieren.
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Das hat noch nicht mal bei Schröder so richtig funktioniert: Er wird
die neue Wahlkampf-Hymne wohl noch einige Male vor dem Einschlafen hören
müssen, damit er sie künftig etwas textsicherer intoniert als auf
dem SPD-Parteitag in Leipzig.
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Ob er darüber hinaus auch den Refrain von den deutschen Rock-Klassikern
"Rudi Ratlos" oder "Odyssee (und keiner weiß, wohin die Reise geht)"
mitsingen könnte, bleibt abzuwarten.
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Sicher ist nur, daß sich Udo Lindenberg, der Autor dieser Hits,
unlängst als Freund des Mannes mit der Drei-Wetter-Taft-Frisur geoutet
hat.
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* Den Sonderzug ins Kanzleramt will der nölende Altrocker für seinen
Spezi nun aber doch nicht zum Rollen bringen.
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Nachdem er bereits zugesagt hatte, am 1. Mai auf einer SPD-Wahlkampfveranstaltung
mit dem Ex-Juso aufzutreten, machte er jetzt unerwartet einen Rückzieher.
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Fast scheint es, als hätte die Plaudertasche Angst vor der eigenen Courage
gehabt.
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Befragt nach den Gründen für seine überraschende Absage,
ließ der einstige "Panik-Rocker" über einen Sprecher verlautbaren,
er habe sich das Ganze halt noch mal überlegt und wolle es lieber nicht
machen.
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* Auch der Rest der deutschen Links-Rocker kann sich für den "Rot-Kohl"
aus Hannover nicht erwärmen.
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Das Gros der üblichen Verdächtigen, die sich in den 80ern vor den
Karren von Grünen, SPD und Bürgerrechtsbewegungen spannen ließen,
gibt sich eher sprachlos.
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Konstantin Wecker ließ über seinen Manager ausrichten, daß
er nicht daran denke, für die SPD zu werben.
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Wenn überhaupt, würde er nur seinen Freund Rudolf Scharping
unterstützen, nicht aber die Partei.
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Tote-Hosen-Sänger Campino, der in einer TV-Talk-Runde am Abend der
Niedersachsenwahl vergeblich versucht hatte, den strahlenden Schröder
zu provozieren, schweigt fürs erste.
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Seine Pressesprecherin sagte, Campino wolle nicht mal mit einem Statement
Werbung für diesen SPD-Kandidaten machen.
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Wolfgang Niedecken hatte Schröder im
Rolling-Stone-Magazin mal "CDU-Qualitäten" bescheinigt.
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"Ich würde keinesfalls für ihn in den Wahlkampf ziehen. Der ist
mir irgendwie unangenehm und kommt mir fast geklont vor - ein nach
Marktforschungsbegriffen zusammengestellter Kandidat", sagte der BAP-Sänger
der FR.
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* Richtig sauer ist HipHopper Thomas D. von den Fantastischen Vier über
die geschickte Vereinnahmung seines Single-Hits "Rückenwind" durch die
SPD-Wahlkampfstrategen.
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Seit der Niedersachsen-Wahl würden sämtliche Kommentatoren nur
noch vom Rückenwind des Kandidaten schwärmen.
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Und bis vor kurzem mußte seine Plattenfirma ständig Gerüchte
dementieren, die besagten, der Song wäre von der SPD als neue
Wahlkampf-Hymne eingekauft worden.
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* Das zumindest hat sich inzwischen erledigt.
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Statt HipHop müssen die Wähler bis zum Herbst Anne Haigis hören
- wofür man fast Schmerzensgeld verlangen sollte.
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Dennoch wurde zuletzt immer wieder versucht, den Mann mit dem antrainierten
Stahllächeln zu einem "Rock'n'Roll-Politiker" zu erhöhen.
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Der Spiegel jedenfalls hatte ihn schon so geortet.
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"Schlägt das Imperium der Mick-Jagger-Fans zurück?", orakelte das
Magazin mit Blick auf ein mögliches Regierungs-Tandem Schröder/Fischer
und faßte damit die diffusen Sehnsüchte nach Veränderung
zusammen, die sich offenbar schon dann abzeichnet, wenn der Kandidat alt
genug ist, um von den Rolling Stones sozialisiert worden zu sein.
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Der Gedanke verdient in Schröders Fall nur insofern eine genauere
Betrachtung, weil der machtbewußte Mitte-Mann und Mick Jagger beide
gute Kontakte zur Wirtschaft pflegen.
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Die Stones ließen sich vor drei Jahren von demselben Automobilhersteller
als singende Werbeträger einkaufen, bei dem Schröder im Aufsichtsrat
sitzt.
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* Die Fotos von Bob Dylan mit Clinton, Frank Zappa mit Vaclav Havel oder
Oasis mit Tony Blair hatten neben einem hohen Unterhaltungswert auch eine
zwar naive, aber sehr starke Botschaft.
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Den politikverdrossenen Wählern schienen diese Treffen neben dem
Generationswechsel auch eine neue gesellschaftliche Dynamik anzukündigen.
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Und obwohl sich die anfängliche Euphorie für eine scheinbar andere,
unverkrampftere Poltitik merklich abgekühlt hat, ist die Faszination
für diesen unkonventionellen Politiker-Typus geblieben.
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Selbst Hobby-Gitarrist Tony Blair, der erst kürzlich von vielen Bands,
die ihm noch vor einem Jahr zugeprostet hatten, wegen der Kürzung der
Sozial- und Kulturetats beschimpft worden war, erhält wieder
Rückendeckung.
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Das Wirtschaftsmagazin Economist nahm den nörgelnden Musikern
den Wind aus den Segeln: "In der Argumentation, wonach ein
großzügiger Sozialstaat auch großartige Rockmusik hervorbringe,
liegt ein Denkfehler."
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Das könne man - wie gemein - am besten in Deutschland beobachten.
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* Und genau in jenem Land, in dem man noch heute an die kulturelle
Entwicklungsmission von Rockbeauftragten glaubt, wirkt der Austausch von
Pop und Politik schon immer sehr bemüht.
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Keine Großdemo ohne Solidaritätskonzert, die Lieder so kratzig
wie die Rollkragenpullis der Chansonniers - das ist inzwischen Geschichte.
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Aber vielen der einstigen Vorsänger für die Friedens- und
Öko-Bewegung, für die Juso-Rock-Happenings und die Grüne Raupe
kräuseln sich heute die Fußnägel, wenn sie an die von ihnen
beschallten Wahlkampffeste der frühen 80er denken.
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Schon damals mußten Musiker wie Lindenberg, BAP oder Wecker als Beleg
für ein vermeintlich jugendliches Image einer Partei herhalten.
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Niemand wäre damals allerdings auf die Idee gekommen, Willy Brandt
hätte die "Dröhnland Symphonie" gekannt, nur weil er Lindenberg
auf der Bühne die Hand geschüttelt hat.
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* Heute aber geht es um mehr als nur Gesten, es geht um jene Form von
Glaubwürdigkeit, die sich nur mit dem schönen neudeutschen Terminus
"Pop-Credibility" beschreiben läßt.
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Natürlich ist nicht wahlentscheidend, was Schröder in seinem
Plattenschrank hat.
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Aber, das haben die Urnengänge in den USA und Großbritannien gezeigt,
es kann auch nicht schaden, die eigenen Musik-Vorlieben publik zu machen,
wenn es denn der Stärkung des Persönlichkeitsprofils dient.
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Nur hat der Niedersachse im Gegensatz zu dem von ihm so verehrten Clinton
bislang weder als Liebhaber noch als Kenner einer relevanten populären
Kultur geglänzt.
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Und es erheben sich große Zweifel, daß ihm das glaubhaft gelingen
mag.
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* Aber seine Spin Doctors bemühen sich weiter.
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Für den abgesprungenen Lindenberg haben sie ruckzuck Ersatz gefunden.
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Dank der SPD dürfen nun die verschollenen Ex-DDR-Bands Zitty und die
Puhdys, in den 80ern Sinnstifter für friedensbewegte Müslis in
Ost und West, am 1. Mai noch einmal auf die Bühne.
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Auch das würden die Sozialdemokraten vermutlich mit der "Kraft des Neuen"
bewerben, wenn sie diesen Slogan noch benutzen dürften.
Aufgaben:
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vgl. Texte 1-5;
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In dem außerordentlich lebendigen und anregenden Text finden sich viele
interessante, für Thematik und
Textsorte wichtige
Wörter und Wendungen; sie sollten genau nachgeschlagen
und in einer entsprechenden Liste dokumentiert werden (Neuwörter
werden in die Gesamtliste aufgenommen).
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Ferner lohnt sich auch in diesem Fall eine Diskussion über den
Inhalt. Wie z.B. wird Gerhard Schröder hier charakterisiert bzw.
genannt? Haben Sie sich schon mit dem Thema Wahlkampf / bundesdeutscher
Regierungswechsel beschäftigt, was haben Sie darüber [und wo?]
erfahren? Was meinen Sie dazu? Welche persönliche Prognose
würden Sie stellen? Inwiefern - wenn ja - wird der Wahl-Ausgang die
deutsche bzw. europäische Zukunft beeinflussen?
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Wie beurteilen Sie den Stil (bzw. die journalistische "Machart") des Artikels?
HTML-Transkript, Bearbeitung und Aufgaben: W. NÄSER
02.06.1998