Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser, Marburg, SS 2002 ff.
Reportage:
Stalinstadt
8.5.1955
Dort, wo ich noch vor vier Jahren durch die märkische Landschaft mit ihren verkrüppelten Kiefern wanderte, wo die Räder der Ackerwagen der Bauern tief in den feinen Sand versanken, wo nur das Krächzen der Krähen die Stille des Waldes störte, dort, wo die sanften Hügel der Diehloer Berge sich erheben und das Wasser des Oder-Spree-Kanals bei Fürstenberg sich mit der Oder vereint, dort steht heute unsere Stalin-Stadt, haben tausende von Kiefern den stählernen Leibern der Hochöfen des Eisenhüttenkombinates "J. W. Stalin" Platz machen müssen.
Wer heute seine Schritte durch die weiten Straßen vorbei an den hohen Palästen und grünen Rasenrabatten lenkt, sieht und spürt die Kraft der deutschen Arbeiterklasse, gelenkt und geführt von der stolzen Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, die beschlossen hatte, hier den größten Industriegiganten des ersten Fünfjahrplanes unserer Republik und eine neue Stadt zu bauen.
Heute vor zwei Jahren gab die Partei der Stadt und dem Werk den Namen des besten Freundes des deutschen Volkes: Josef Wissarionowitsch Stalin. Stalin heißt: Sozialismus. Frieden, Wohlstand und Glück. Hier hat es Gestalt angenommen. Menschen lieben und leben in den Mauern unserer herrlichen Stadt, denn der Zukunft gehört die Welt.
Das Werk wuchs von Tag zu Tag, und mit ihm unsere Stadt. Die schönste Stadt Deutschlands, in der heute schon vierzehntausend glückliche Menschen wohnen. (Hintergrundmusik klingt mit Crescendo aus).
Die Sonne dieses herrlichen Frühlingstages übergießt unsere Stadt mit warmem Licht. Ich möchte die Augen fast schließen, um nicht von den hellen Fassaden geblendet zu werden. In den Scheiben der Häuser spiegelt sich die Sonne wider. Der laue Wind bläht die Fahnen, die wir zu Ehren des zehnjährigen Befreiungstages vom Faschismus und zu Ehren des zweiten Jahrestages der Namensgebung unserer Stadt gehißt haben. Nicht nur der Fahnenschmuck unserer Stadt, sondern auch die sich noch im Rohbau befindlichen Wohnblocks sollen Dank sagen.
Wenn ich die breite Straße, die einst die Magistrale werden wird, entlangblicke, sehe ich schon heute deutlich vor mir die bei Nacht lichtüberflutete Straße, den imposanten Bau des Kulturpalastes. Hier wird das Leben der Stadt einmal am stärksten pulsieren. Zur Zeit ist mein Blick noch nicht aufgehalten von den zu bauenden Hochhäusern. Ich sehe das Kombinat in seiner gewaltigen Ausdehnung. Achtzehn Kilometer müßte ein Wanderer zurücklegen, wollte er um das Werk laufen, und sechs Kilometer, wollte er es durchqueren. Kilometer weit erspäht jedes Auge, das am Horizont sucht, die stählernen Leiber der Hochöfen, die von zerrissenen Rauchfetzen umhüllt sind. Jetzt, bei Dunkelheit, leuchten von den vielen Schornsteinen, die sich in den Himmel recken, rote Lichter, um auch bei Nacht jedermann zu zeigen: Schau. Hier steht das stolze Eisenhüttenkombinat "J. W. Stalin", erbaut aus eigener Kraft mit Hilfe unserer Freunde, der Sowjetunion und den polnischen Nachbarn.
Quelle:
Tondokument
des Deutschen Historischen Museums
HTML-Transkription: W. Näser, 30.11.2006