Textsorte Besinnungsaufsatz, Beispiel 6:

Was verstehen Sie unter Toleranz?
(geschrieben am 6.9.61)

VORBEMERKUNG. Gut drei Wochen nach dem Mauer-Bau in Berlin und 16 1/2 Jahre nach Kriegsende entstand auch dieses Beispiel eines damaligen "Besinnungsaufsatzes" in der Unterprima S unter dem Deutschlehrer und Direktor Ernst GEMEINHARDT. Was wir damals nicht ahnen konnten: Jahrzehnte später sollte dieses Thema erneut in den Fokus unserer Gesellschaft rücken, diesmal im Zeichen einer Entwicklung zu religiösem Fundamentalismus und damit Fanatismus von Menschen, die im Rahmen ihrer Zuwanderung zwar alle Vorteile des Landes beanspruchen, jedoch eine Integration in unsere Kultur und ihre Werte ablehnen und im täglichen Umgang sowohl mit den Kindern wie den Mitmenschen so etwas wie Aufgeschlossenheit und Toleranz in erschreckendem Maße vermissen lassen. Für uns damals war Toleranz kein leeres Wort und bekamen wir sie auch vorgelebt in Gestalt unseres Lehrers, der, selbst Konservativer, jede Meinung gelten ließ, sofern korrekt und höflich formuliert.

Es gibt einen weiteren Grund, diesen Text ins Netz zu stellen. Heute wird nämlich gern so getan, als sei erst 1979 mit dem vierteiligen US-amerikanischen "Holocaust"-Film, der die Deutschen "wie ein Schock getroffen" habe, quasi eine Erleuchtung über uns gekommen und somit ein Bewußtsein über die furchtbaren NS-Verbrechen entstanden; vorher habe man alles verdrängt. Meine schon 18 Jahre zuvor in diesem Aufsatz gemachten detaillierten Angaben zur Judenvernichtung in den Todeslagern sind der beste Gegenbeweis. Wie bekamen schon damals sehr wohl alle wichtigen Informationen und diskutierten diese Thematik nicht nur mit den Eltern, sondern auch im Schulunterricht. Dem vorausgegangen war eine schon kurz nach der Kapitulation einsetzende intensive Vergangenheitsbewältigung, die bis heute anhält und damit inzwischen nicht weniger als sechs Jahrzente lang betrieben wurde.    
W. Näser, Marburg, 28.1.2k7

Gliederung:
Einleitung: Die Ereignisse des 13. August
Hauptteil: A. Die Diktatur als Feind der Toleranz
                  B. Toleranz  I. in religiösen Dingen
                                    II. im geistigen Bereich
                                   III. Duldung anderer Rassen
                                   IV. Achtung anderer Vaterländer, Vermeidung übertriebenen Nationalstolzes
Schluß: Toleranz - Wegbereiter des Fortschritts

Die Ereignisse des 13. Augusts haben uns wieder einmal deutlich bewiesen, daß sich die östlichen Diktatoren einfach über die Meinung des einzelnen Staatsbürgers hinwegsetzen und keine freie Meinungsäußerung neben sich dulden. Es ist das Ziel der Kommunisten, nun auch noch die letzte Insel der Freiheit in der sogenannten "DDR", Berlin, auszurotten. Wieso konnte es dazu kommen? wird sich mancher fragen. Man kommt leicht zu einer Antwort, wenn man sich darüber klar wird, daß der Westen und der östliche Machtblock zwei grundverschiedene Welten sind, die - so scheint es jedenfalls - niemals zusammenkommen können, was nicht etwa an einer fehlenden Bereitschaft der Westmächte scheitert, sondern zum großen Teil an der fehlenden Toleranz der östlichen Diktatur. Aber was ist eigentlich Toleranz? Warum müssen in einer Diktatur so viele Menschen in geistiger Unfreiheit leben?

Wie konnte es nur zu den Ereignissen des 13. August kommen? Das fragt sich heute jeder Mensch in der freien Welt. Was hat sich bis jetzt in dem unfreien Teil Deutschlands ereignet, den die Machthaber "Deutsche Demokratische Republik" nennen? Ist das denn wirklich eine "demokratische Republik"? Nein! Denn systematisch wurde nach 1945 das weitergeführt und neu aufgebaut, was vorher unter der Schreckensherrschaft Hitlers praktiziert worden war und Deutschland, das blühende, vorwärtsstrebende Land, an den Rand des Abgrundes gebracht hatte. Sofort begann man in Pankow, die freie Meinungsäußerung zu unterdrücken; es begann mit der Vereinigung von KPD und SPD zur sogenannten "Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands". Aber nicht nur die politische Meinung wurde gezwungenermaßen "uniform", sondern auch das Leben der heranwachsenden Jugend. Die "Freie Deutsche Jugend" wurde gegründet. Es war das Ziel der kommunistischen Machthaber, dem Menschen von der Wiege bis zur Bahre den Willen und die Meinung des "allgewaltigen" Staatsapparates aufzuzwingen. Über Presse, Rundfunk, Film, Fernsehen, Literatur und das ganze künstlerische Leben wurde eine strenge Zensur verhängt. Wie sehr erinnert uns dies doch an einen Staat, in dem Bücher aller freiheitliebenden Autoren auf einem Scheiterhaufen verbrannt wurden unter dem Motto "Wider den undeutschen Geist", an einen Staat, in dem eine Ausstellung "entarteter Kunst" stattfand, in dem man sich, wenn man ausländische Rundfunkprogramme abgehört hatte, vor der Gestapo, jenem teuflischen Werkzeug Himmlers, verantworten mußte, an einen Staat, in dem es weder Versammlungs- noch Meinungsfreiheit gab, Rechte, die jedem Bürger der Bundesrepublik heute im Grundgesetz garantiert werden, an einen Staat, in dem sechs Millionen Juden wegen ihrer Abstammung und ihres Glaubens sterben mußten!

Wie oft hören wir noch aus dem Munde unserer Eltern die Berichte der grausigen Ereignisse, wie die jüdischen Gotteshäuser angezündet wurden, wie Juden zu Tausenden verschleppt wurden und ihre ganze Habe verloren. Viele dieser Juden mußten für ihren Glauben sterben! Es wurden also - mittem im zwanzigsten Jahrhundert - im Staate Hitlers Methoden des Mittelalters und der Glaubenskriege angewendet, des Zeitalters der Hexenverbrennungen, Ketzergerichte und der Inquisition, eines Zeitalters, in dem Tausende von Menschen in der furchtbaren "Pariser Bluthochzeit" ihr Leben lassen mußten! Auch in Lessings "Nathan" finden wir Intoleranz: Weil Nathan eine Christin erzogen hat, soll er auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Wie furchtbar müssen doch die Zeiten gewesen sein, in denen die Menschen daran gehindert wurden, ihren Glauben frei auszuüben, in denen die Intoleranz, die Unduldsamkeit des anderen Glaubens, so weit ging, daß Menschen ihren Glauben mit dem Tode bezahlen mußten!

Wir leben heute in einer Demokratie; jeder darf ungehindert und frei seinen Glauben ausüben, ganz gleich, ob er evangelisch oder katholisch, ob er Jude, Mohammedaner, Buddhist, Freimaurer oder "Zeuge Jehovas" ist. Doch immer noch kommt es vereinzelt vor, daß auch bei uns Menschen wegen ihres Glaubens verhöhnt werden. So sollte sich jeder einzelne das zur Aufgabe machen, was Lessing so meisterhaft in seiner Ringparabel ausdrückt: "Es eifre jeder seiner unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe nach!"

Aber auch im geistigen Bereich sollte man unbedingt tolerant sein. Es fängt schon damit an, daß man den anderen seine Meinung äußern lassen sollte, was aber häufig nicht beachtet wird, wenn sich Diskussionsredner gegenseitig anschreien, mit den Fäusten auf den Tisch schlagen und sich die übelsten Beleidigungen und die finstersten Drohungen an den Kopf schleudern. Auch innerhalb der Familie sollte man Toleranz wahren; Kinder haben durchaus nicht immer unrecht. Zweifellos ist eines der größten Probleme die Toleranz auf künstlerischem und wissenschaftlichem Gebiet, wo viele Menschen über Probleme urteilen zu können glauben, mit denen sie nicht im geringsten vertraut sind. Dies ist nicht nur bei vielen einfachen Menschen der Fall, sondern oft bei geistig hochstehenden Persönlichkeiten. Bevor man abfällig über etwas urteilt, sollte man sich lieber damit auseinandersetzen und es zu begreifen versuchen. Sich mit der Meinung des anderen auseinandersetzen und diese achten: das versteht man unter wirklicher Toleranz. Was ich oben gesagt habe über geistig hochstehende Persönlichkeiten, gilt besonders für die Politik. Man ist schnell bereit, den Kommunismus zu verdammen, und dabei läßt man es dann auch, während sich der Ostblock mit unaufhaltsamer Gewalt immer näher schiebt. Die einzige Möglichkeit, dem Kommunismus wirkungsvollen Widerstand zu leisten, besteht für uns nur noch darin, sich mit dieser Lehre auseinanderzusetzen und auf geistigem Gebiet, nicht mit den Waffen, den Kommunisten entgegenzutreten. Deshalb war es meiner Meinung nach auch völlig falsch, die KPD zu verbieten; verbotene Früchte schmecken ja bekanntlich gut; nach dem Verbot der KPD konnte man deutlich sehen, daß die kommnunistische Hetz- und Wühlarbeit ganz erheblich verstärkt wurde. Auch hier wäre ein  gewisses Maß an Toleranz vorteilhafter gewesen.

Wenn man heute aufmerksam die Berichte und Kommentare der Zeitungen, des Rundfunks und des Fernsehens verfolgt, sollte man es kaum für möglich halten, daß es in einem so freiheitlichen Staat wie den U.S.A. noch Rassenverfolgungen gibt. Haben denn die Amerikaner in den Südstaaten nicht von den furchtbaren Ereignissen in dem Deutschland Adolf Hitlers gehört, wo zur "Endlösung der Judenfrage" eine gewaltige Maschinerie der Vernichtung in Bewegung gesetzt wurde? Viele Menschen mußten damals wegen ihrer Abstammung einen grausamen, viehischen Tod erleiden. Nachdem man ihnen ihre ganze Habe und ihr Vermögen entrissen hatte, wurden Millionen von Juden wie Schlachtvieh in langen Güterzügen nach den Lagern des Grauens transportiert. Auf der Laderampe aus den Güterwagen mit Knüppeln und Gewehrkolbenhieben herausgetrieben, wurden sie, wenn sie nicht ohnehin schon auf dem Transport qualvoll gestorben waren, in die Lager getrieben. Nackt ausgezogen trieb man Männer, Frauen und Kinder ohne Rücksicht auf das Alter zusammen in die als Waschräume getarnten Vergasungsräume. Zusammengepfercht in den mit Fliesen belegten großen Räumen, warteten die verängstigten Menschen nun, bis sie das aus einem versteckten Schacht an der Decke ausströmende Gas einem qualvollen Tode entgegenführte. Um alle die Grausemkeiten zu berichten, die sich in den Konzentrationslagern zugetragen haben, könnte man Bände füllen.

Hatte man sich dessen in Amerika nicht vergegenwärtigt, als man fortfuhr, die Neger in den Südstaaten grauenvoll zu quälen? Wer hat nicht schon von der furchtbaren "Lynchjustiz" gehört, die in den Südstaaten ihr Unwesen treibt? Wie oft wurden schon Neger aus irgendeinem fadenscheinigen Grunde geteert und gefedert, d.h. in ein Faß glühenden Teers getaucht und anschließend in Federn gewälzt, um dann gehängt zu werden? Weiße, die Neger irgendwie, sei es auch nur durch beschwichtigende Worte, geschützt hatten, wurden boykottiert, ihnen schrieb man "Nigger - lover" auf die Treppe. Auch heute noch dürfen in vielen Städten der Südstaaten Weiße und Neger nicht zusammen in die Schule gehen. Auch in Amerika sollte man sich endlich auf Toleranz besinnen, damit es nicht einmal zu einer furchtbaren Rache der Neger kommt; denn diese könnte ja durchaus möglich sein, wenn die schwarze Bevölkerung mit gleicher Münze zurückzahlt. Das, was man Deutschland vorwirft und was dort schon bereinigt worden ist, sollte man auch in Amerika unterlassen.

Aber nicht nur Rassenhaß, sondern vor allen Dingen übertriebener Nationalstolz hat dem deutschen Volke großes Verderben bereitet, als es im Zweiten Weltkrieg den Kopf für die wahnwitzigen Ideen des "Führers" hinhalten mußte. "Achte jedes Vaterland, aber das deinige liebe!" Über diesen Satz setzte sich Hitler hinweg, als er, geschickt mit dem Versailler Vertrag jonglierend, dem deutschen Volke einredete, Frankreich sei "der Erbfeind" und werde es immer bleiben, als er vom "asiatischen Untermenschen" (wie er sich damit verrechnete, können wir ja heute sehen) und höhnisch vom "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" sprach. Schon immer hat übertriebener Nationalstolz Kriege herbeigeführt und Völker ins Elend gestürzt.

Gerade jetzt, wo sich das kommunistische Bollwerk immer stärker nach vorn schiebt und mit seinem "Sendungsbewußtsein" alle Länder der freien Welt zu verschlingen droht, gerade jetzt sollten wir uns bewußt werden, daß wir nur auf der Basis eines geeinten Europas, ja eines geeinten Westens überhaupt dem Osten noch etwas entgegensetzen können. Gerade jetzt müssen sich die Völker bemühen, gegenseitiges Verständnis und gegenseitige Achtung aufzubringen und somit der Hetze, den Provokationen und den Vertragsbrüchen des Ostblocks einen wirksamen Riegel vorzuschieben. Als ein sehr wirksames Hilfsmittel hierzu erweisen sich die Jugendbewegungen und vor allen Dingen die Europabewegung. Wenn sich schon die Jugend der Völker kennen und gegenseitig verstehen lernt, wird es in späteren Generationen nicht mehr zu Kriegen kommen. So wird in den Jugendheimen im In- und Ausland viel diskutiert; man unterhält sich über die Probleme des anderen, man sieht Filme über andere Länder und kann sich auch durch Bücher über die Sorgen und Nöte unserer Nachbarvölker unterrichten. So lernt die Jugend unbeschwert und frei, was sich später einmal zu großem Nutzen auswirken kann, sie strebt den Idealen nach, die jeder vernünftige Mensch zu den seinen machen sollte: einem vereinten, glücklichen Europa, einem gemeinsamen Weg zum Fortschritt, einer Überwindung der rassischen und politischen Schranken. So ist es nicht gegenseitige Bekämpfung, sondern Toleranz, gegenseitiges Verstehen und Lieben, die uns unsere Zukunft sichert, uns auf dem Wege des Erfolgs weiterführt und zur friedlichen Zusammenarbeit aller Völker beiträgt.


"Bemühen um selbständige Antwort wird anerkannt", urteilte Gemeinhardt und honorierte meinen Aufsatz mit einem "Gut".

Text und HTML: (c) W. Näser 1/2k7 * Stand: 28.1.2007