Diskussions-Text:
Anmerkungen zur Vergangenheitsbewältigung, zum Antisemitismus,
zum Krieg und zur Gegenwart
Wolfgang Näser (Marburg)
VORBEMERKUNG. Folgender Text repräsentiert die
Fakten- und Argumentationslage von 2005. Die damals gesetzten Links
wurden durch heute (2020) gültige ersetzt; einige (z.B. im Falle
Douvette / Katzav ) können nicht mehr im Netz aufgefunden
und gesetzt werden; ich versichere hier jedoch, daß die dazu gegebenen
Fakten damals (2005) dort belegbar waren. Inzwischen hat sich (letztens auch
durch die
Migrationspolitik und
Covid
19 / Corona) vieles an der Weltlage geändert; dies kann und soll
hier nicht angesprochen werden. Inwieweit meine "Thesen" auch dazu in Beziehung
gesetzt werden können, bleibt dem geneigten Leser überlassen. W.
Näser, im Oktober 2020
Folgende - teils bewußt provokante -
Ausführungen und Thesen entstehen als Versuch einer Antwort auf bisher
ungelöste Fragen, die uns nie wieder loslassen, wenn wir uns erst einmal
der furchtbaren Tatsachen und Folgen von Antisemitismus, Gewalt
und Krieg bewußt geworden sind. Diese Last der Vergangenheit
kann tiefste Depression und Trauer hervorrufen, verlangt aber auch nach
Konsequenzen, die eine Wiederholung des furchtbaren Geschehens für alle
Zeiten unmöglich machen. Politisch opportune Lippenbekenntnisse sind
unangebracht, Handeln tut not: ein Handeln der Mitmenschlichkeit, der
Solidarität, der Toleranz. Zugleich müssen wir uns klar werden
über Probleme der Gegenwart, die - wie die
Vergangenheitsbewältigung - nur von wachen, aufgeklärten,
mündigen Bürgern zu lösen sind.
  - 
    Vergangenheitsbewältigung: Bewältigen bedeutet
    verarbeiten, das Geschehene analysieren, sich aller Aspekte bewußt
    werden und aus der Vergangenheit lernen. Das, was geschehen ist, darf
    sich nicht wiederholen, unter keinen Umständen. Das ist nicht mehr und
    nicht weniger als das, was wir tun können, denn das, was geschehen ist,
    können wir nicht ungeschehen machen, wir können die unschuldig
    zu Tode Gekommenen nicht aufwecken, Zerstörtes nicht zu neuem Glanz
    wiedererstehen lassen. Vergangenheitsbewältigung: das bedeutet auch
    nie wieder Krieg.
    Vergangenheitsbewältigung kann und darf nicht bedeuten, 
    a) mit immer neuen Kriegs- und Gewaltfilmen, die "Kasse machen", alte
    Wunden neu aufzurühren, ständig einseitig alte Stereotypen (Deutsche
    = "Hunnen"; alle Deutschen = Nazis) wiederaufleben zu lassen und so die Basis
    für neue Ressentiments und Feindbilder zu schaffen. "Die Sieger müssen
    sich von vornherein darüber klar werden, daß die Wiederholung
    des Kardinalfehlers von 1918, nämlich die Behandlung der neuen Männer
    und Kräfte als schuldige Feinde, nach 1945 nie wieder gutzumachen
    wäre", schrieb der prominente Sozialdemokrat Kurt Schumacher in seinen
    "Richtlinien für die Arbeit in der SPD". Dieses Zitat birgt auch eine
    allgemein-menschlich gern übersehene Erkenntnis. Erfahrene Pädagogen
    wissen, daß ein durchaus besserungswilliges und lernbegieriges Kind
    dann "ausrastet", wenn ihm seine Fehler immer und immer wieder von neuem
    vorgehalten werden.
    b) bei jedem Jahresgedenken fein dosiert neue, bisher unbekannte
    Grausamkeiten und Abscheulichkeiten aufzutischen und die schon über
    Gebühr schockierten Menschen in eine Depression zu stürzen, aus
    der heraus sie unfähig werden, mit all dem fertig zu werden und gemeinsam
    in eine bessere Zukunft zu gehen.
    c) mittels einer primitiven Holzhammer-Demagogie alles über einen
    Kamm zu scheren und im Sinne
    Daniel
    J. Goldhagens so gut wie alle in den 30er Jahren lebenden Deutschen als
    "willige Helfer" des Despoten Hitler abzuurteilen. Was die Wirkung einer
    politischen Lenkung und eines übertriebenen, durchaus kriegswilligen
    "Patriotismus" angeht, so hat Goldhagen in seinem eigenen Land allerbesten
    Anschauungsunterricht.
   - 
    Wiedergutmachung ist ein sehr unscharfer Begriff. Was sollen wir "wieder
    gut machen"? Etwa geschehene Grausamkeiten? Die bleiben verbrecherisch und
    scheußlich, lassen sich nicht beschönigen. Kompensation
    oder Entschädigung sind bessere Begriffe, obwohl auch sie nur
    einen Teil des Nötigen und Möglichen bezeichnen. Den aufgrund
    ideologischer Irrwege verursachten gewaltsamen Tod eines geliebten
    Menschen kann niemand "wieder gutmachen" oder dafür Kompensation leisten.
    Womit auch? Kein Zauberer dieser Welt kann diesen Menschen zu neuem Leben
    erwecken. Insofern muß in der Justiz eines jeden Landes das
    Menschenleben höchstes Gut sein und bleiben. Es kann nicht
    sein, daß man unbedarfte Jugendliche für mehrere Jahre in ein
    Gefängnis steckt, weil sie irgendwelche Symbole an eine Wand gekritzelt
    haben, andererseits eine Frau mit ein paar Jahren davon kommen läßt,
    weil sie ihren Mann im Affekt umgebracht oder ihr neugeborenes Kind in einer
    Mülltonne "entsorgt" hat. Es kann nicht angehen, daß ein Domkantor
    für sieben Jahre in das Gefängnis wandert, weil er angeblich seine
    Singknaben belästigt hat, und andererseits mit Hilfe
    "wissenschaftlicher" Gutachten ein Sexual-Mörder nach wenigen
    Jahren frei kommt und dann weitere Morde begehen kann.
   - 
    "Sei unerschrocken, es gilt die Wahrheit!" (Bertolt
    Brecht, 1940)
    Objektivität ist das Hauptgebot jeder Art von
    Vergangenheitsbewältigung. Wer mit der Vergangenheit umgeht, diese
    analysiert und zum Gegenstand von Forschung und Lehre macht, muß alle
    Fakten schonungslos auf den Tisch legen, das heißt alles, was von "Freund"
    und "Feind" getan wurde. Aus wie auch immer gearteten Gründen
    einer "politischen Korrektheit" oder Opportunität dürfen keine
    Tatsachen unterdrückt oder verfälscht werden. Eine objektive und
    daher ehrliche Geschichtsschreibung verlangt nicht nach periodischer Umschreibung
    von Geschichtsbüchern, denn was wahr ist, muß wahr
    bleiben.
   - 
    Antisemitismus: ein seit dem Mittelalter zu beobachtendes Phänomen,
    teils religiös motiviert (Kreuzigung Jesu; bestimmte Riten wie
    das Schächten usw.), teils aus Neid: das "auserwählte Volk"
    hat in der gesamten Zivilisationsgeschichte ungewöhnlich kluge,
    intelligente, künstlerisch begabte Menschen hervorgebracht: Maler,
    Architekten, Literaten, Komponisten, ausübende Künstler, Finanzgenies
    usw. Noch im Ersten Weltkrieg standen Juden in hohem Ansehen, die als Offiziere
    im kaiserlichen Heer dienten und hohe Auszeichnungen errangen. Komponisten
    wie Felix-Mendelssohn-Bartholdy erlangten Weltruhm, desgleichen Physiker
    wie Albert Einstein. Als im Deutschland
    der Zwanziger Jahre die Not einkehrte, als über 6 Millionen arbeitslos
    wurden und viele Menschen keinen Ausweg sahen, suchte man, wie immer in solchen
    politischen Lagen, nach einem Sündenbock: die Politiker fokussierten
    sich auf die Juden, die angebliche Wurzel allen Übels. Und so kam es
    schließlich in den europaweit antisemitischen 30er Jahren zur sogenannten
    Reichskristallnacht und zur Anfang 1942 beschlossenen
    Massenvernichtung der Juden, Ende der siebziger Jahre als
    Holocaust bezeichnet.
   - 
    Mitschuld und Mitverantwortung: die furchtbare
    "fabrikmäßige" Massenvernichtung der Juden und anderer Menschengruppen
    (Zigeuner, Homosexuelle) in den Konzentrationslagern wurde zur
    größten historischen Schuld Deutschlands, hätte jedoch wenigstens
    teilweise verhindert werden können. Zwar gab es ab 1935 die sog.
    Nürnberger
    Rassengesetze, 1938 die Reichs-Pogromnacht und von da an vermehrte Verfolgung
    von Juden, doch setzten die Massenvernichtung in den auf polnischem Gebiet
    liegenden Lagern wie
    Auschwitz-Birkenau,
    Treblinka,
    Sobibor,
    Belzec,
    Majdanek und die "Vernichtung durch Arbeit" in Lagern
    wie dem
    KLPlaszow
    usw. erst nach der im Januar 1942 durchgeführten
    Wannsee-Konferenz
    ein. Damals verfügten die alliierten Mächte Großbritannien
    und USA schon über (in gewaltigen Stückzahlen produzierte) 4-motorige
    Fernbomber wie die
    B-24,
    die
    B-17,
    die Avro
    Lancaster usw. mit Reichweiten von bis zu 4.000 Kilometern; mittlere
    Bomber wie der
    B-25
    Mitchell konnten von Land oder gar von Flugzeugträgern aus operieren
    (Jagd- und Zerstörerschutz waren kein Problem). 1943, als manche Lager
    erst den Betrieb aufnahmen, waren die Maschinen schon mit Rundsicht-Radar
    ausgerüstet, konnten von England bis Berlin durchfliegen und die
    Reichshauptstadt gezielt bombardieren; die Superfortress Boeing B-29
    hätte mit ihrer Reichweite von rund 5.300 km ab 1944 den Aktionsradius
    beträchtlich erweitert. US-Bomber zerstörten die
    schlesischen Hydrierwerke (Arbeitslager Blechhammer),
    ließen jedoch die zu den Todes- und Arbeitslagern führenden
    Bahnschienen intakt; ebensowenig bombardierten sie die im Bau befindlichen
    oder gerade fertigen Lager. Sicher hätten solche Einsätze viele
    Menschenleben gefordert, doch Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen
    potentieller KZ-Insassen wären vor dem Tode bewahrt worden. So
    unterließen es die Alliierten bewußt, die Infrastruktur
    des Holocausts zu zerstören *) und so dem Grauen zumindest partiell
    ein Ende zu setzen. Es erschien ihnen wohl unwichtig, ihre gewaltige,
    hochtechnisierte, geradezu redundant verfügbare Kriegsmacht zur Rettung
    der europäischen Juden einzusetzen (zum US-amerikanischen Antisemitismus
    in der Roosevelt-Aera siehe
    hier).
    "Die Juden waren zweitrangig", sagt der französische
    Historiker David Douvette in der taz vom 9.2.05. " Die Alliierten
    haben zu wenig gegen den Völkermord der Nazis getan. Heute verweigert
    sich Europa dieser Geschichte." [...] Die ganze Geschichte des Horrors ist
    längst noch nicht geschrieben. [...] Im Dezember 1941 hat die polnische
    Exilregierung in London einen Plan über Massaker an Zivilbevölkerungen
    vorgelegt. Mit Detailzeichnungen, Plänen, Fotos, Zeugenaussagen.
    Darüber hinaus gab es andere Berichte. Alle wussten es. - Warum wurden
    die KZ nicht bombardiert? - Offiziell, um keine Leute umzubringen. Aber Dresden
    und Hiroshima wurden auch bombardiert, obwohl dabei hunderttausende getötet
    wurden. [...] Hinzu kommt der jahrhundertealte christliche Antisemitismus.
    Juden waren nicht wichtig. [...] Keine Armee hat ein Konzentrationslager
    befreit. In Auschwitz hat die SS am 17. Januar 1945 alle, die noch gehen
    konnten, auf die Todesmärsche getrieben. Sieben- bis achttausend Frauen,
    Kinder, Kranke und Alte ließ sie zurück, weil die Zeit fehlte,
    sie umzubringen. Die Sowjets, die nicht einmal einen Kilometer vom KZ entfernt
    waren, sind erst am 27. Januar in das Lager gegangen. Zehn Tage später
    - inzwischen waren viele gestorben."
    Moshe
    Katzav, Präsident Israels, wird folgendermaßen zitiert:
    : "Der Holocaust ist nicht bloß eine Tragödie für das
    jüdische Volk, er ist das Versagen der Menschheit insgesamt. Die Alliierten
    haben [...] nicht genug getan, um den Holocaust, die Vernichtung des
    jüdischen Volkes, zu stoppen. Die Alliierten wussten von der Vernichtung
    der Juden Europas, aber die Alliierten haben keine Initiative ergriffen,
    um die Vernichtung des europäischen Judentums zu verhindern."
    (http://www.diepresse.com/textversion_article.aspx?id=462642)
    Anm.: Zu David Douvette gibt es kein Google- und taz-Suchergebnis;
    Inzwischen wurden beide auf Katzav bezogene Links (Katzav / diepresse.com)
    getilgt und deren Inhalte damit unzugänglich. Ich versichere
    jedoch, daß sie beim Entstehen meiner Ausführungen existierten
    und voll funktionsfähig waren.
    Eine zweite Mitschuld tragen die Alliierten im Zusammenhang mit
    dem
    20.
    Juli 1944. Wie bekannt (aber neuerdings totgeschwiegen), fanden schon
    1942 und später Geheimverhandlungen mit Vertretern der Alliierten statt;
    die Repräsentanten des deutschen Widerstandes (Militärs und Zivilisten)
    baten um eine ehrenvolle
    Kapitulation,
    um nach der angestrebten Beseitigung Hitlers ein neues, demokratisches
    Deutschland (keine Militärdiktatur, wie neuerdings behauptet!)
    aufbauen zu können. Im Rahmen eines solchen Vorganges wären - unter
    Kontrolle der Siegermächte - natürlich alle mit KZs und
    Judenvernichtung zusammenhängenden Aktionen zum Erliegen gekommen. Doch
    die Alliierten zeigten sich uninteressiert, bezeichneten (wie Marion
    Gräfin Dönhoff belegen konnte) die Widerständler sogar
    als Verräter. Das von
    Stauffenberg verübte Attentat scheiterte und es kamen
    im letzten Dreivierteljahr des Zweiten Weltkrieges mehr Menschen um als in
    den vier Jahren zuvor. Und so kam es auch zu den verzweifelten Taten am
    Kriegsende, als ganz Deutschland ein in der Geschichte beispielloses Inferno
    an Verzweiflung, Haß und Gewalt erlebte, wo sich die Menschen ihrer
    Humanität entäußerten und viele Juden und andere Verfolgte
    in Evakuierungsmärschen und anderswo zu Tode kamen. Der "versehentliche"
    Angriff auf die
    "Cap
    Arcona" mit 7.000 KZ-Häftlingen an Bord am 3.5.1945, nach der Ablehnung
    der am nächsten Tage (!) von Montgomery gefeierten Kapitulation, und
    das Schießen auf im Wasser treibende Schiffbrüchige sind nur ein
    Beispiel dessen, was hätte verhindert werden können. 
    Es ist schwer, eine solche Mitverantwortung zu behandeln und zu
    "bewältigen", aber auch das tut not, wenn wir unter all diese Grausamkeiten
    und unmenschlichen Verirrungen keinen Schlußstrich ziehen und das
    Vergangene für immer unvergessen lassen wollen.
   - 
    Sensibilisierung ist eigentlich die wichtigste "Frucht" des Gedenkens
    (und damit Nachdenkens). Wer einmal das furchtbare Grauen der Ghettos von
    Warschau
    oder
    Theresienstadt
    gesehen hat, die Leichenberge in Auschwitz oder
    Bergen-Belsen,
    die bis aufs Skelett abgemagerten, aber noch lebenden Insassen, der muß,
    wenn noch zu menschlichen Regungen fähig, zwangsläufig ein
    besonderes Sensorium entwickeln für Grausamkeiten solcher und anderer
    Art. Das "Nie wieder" im Foyer des
    Internationalen
    Suchdienstes in Bad Arolsen gilt für alle Zeiten. Das Verbrechen
    der Vergangenheit ist geschehen, eine Wiederkehr darf es nicht geben, an
    keinem Ort der Welt. Und deshalb darf es uns, gleich woher wir kommen, nicht
    egal sein, wenn, auch im Namen der Demokratie, es neue Folter, gibt, wenn
    unschuldige Menschen gequält werden wie in
    Abu
    Ghraib,
    Guantánamo Bay und anderswo, wenn im Zuge des rendition
    program
    ("outsourcing
    torture") von der
    CIA
    mit kleinen Jets Menschen entführt werden, um von ihnen an geheimer,
    unerreichbarer Stelle mittels Folter Aussagen zu erzwingen. Ebensowenig darf
    uns gleichgültig sein, wenn im eigenen Lande das
    Unrechtsbewußtsein
    schwindet und die
    Hemmschwelle
    zur Gewalt sinkt, wenn von haltlosen Jugendlichen Ausländer und
    Obdachlose "just for fun" angegriffen, gequält und getötet
    werden.
   - 
    Relativieren: der
    Holocaust,
    heißt es, sei einmalig. Und daher sei es nicht gestattet,
    Verbrechen gegen die Menschlichkeit miteinander zu
    vergleichen, weltweite Unmenschlichkeit in einen Bezug zu setzen. Da bin
    ich ganz anderer Meinung. Es gibt keine Menschen erster und zweiter Klasse.
    Wenn in
    Kambodscha
    (dem damaligen Kampuchea) Millionen von Menschen unter
    Pol Pot
    hingeschlachtet wurden, wenn unter dem "Väterchen"
    Josef
    Stalin rund 20 Millionen Menschen schon vor Beginn des 2. Weltkrieges
    umkamen, wenn in
    Lateinamerika
    planvoll indigene
    Ureinwohner ausgerottet wurden, wenn in
    Víetnam
    durch (das jüngst in
    Falludscha
    wieder eingesetzte)
    Napalm
    und Agent
    Orange nicht nur Menschen, sondern auch riesige Landschaften vernichtet
    wurden, wenn im Kosovo und zwei
    Irak-Kriegen
    durch
    abgereicherte
    Uran-Munition und
    Splitterbomben
    hunderttausende von Menschen geschädigt wurden oder umkamen, wenn im
    armen
    Tschetschenien
    nicht nur die Hauptstadt
    Grosny,
    sondern auch viele andere Orte verwüstet und -zigtausende Menschen in
    einem vermeintlichen
    Anti-Terror-Krieg
    getötet oder verletzt wurden, dann darf auch das uns nicht
    gleichgültig werden lassen, weil es eben gegen dieses "Nie wieder" in
    eklatantester Weise verstößt. Auch wenn man das uns nachgeborenen
    Deutschen per Dogma absprechen und verbieten will, sind wir, die wir uns
    fast zwei Generationen lang mit unserer (auch als
    kollektiv
    verstandenen) Schuld auseinandergesetzt haben und teilweise fast daran zerbrochen
    sind, sehr wohl in der Lage, aus einem für alle Normen und Grenzen der
    Menschlichkeit
    geschärften Bewußtsein heraus sensitiv-vergleichend alles
    Unmenschliche
    zu erkennen, gleich wo es wieder geschieht, und die Humanität
    anzumahnen. Und deshalb dürfen, ja müssen wir relativieren.
    Sehen wir also nicht weg (auch wenn das unbequem ist), erkennen und handeln
    wir.
   - 
    Rechtzeitiges Erkennen und Handeln gilt auch den
    Neonazis,
    deren Zahl aufgrund der sich in Deutschland verschlechternden Lebensbedingungen
    (siehe unten) bedrohlich zunimmt. Es handelt sich hier um relativ wenige
    Ältere, die als "ewig Gestrige" die Irrtümer Hitlers und seiner
    Schreckensherrschaft nicht begriffen haben oder wider besseres Wissen ableugnen,
    zum anderen um junge Menschen, die sich bei totaler Unwissenheit oder Halbbildung
    als Glatzköpfe in symbolgespickte Klamotten stopfen, um Randale zu machen,
    oder um solche, die die nationalsozialistischen Schriften
    tatsächlich gelesen haben und glauben, daß nur "an diesem
    Geiste die Welt genesen" könne. Noch schlimmer, wenn solche Wirrköpfe
    Landtagsmandate erringen und mit allen Privilegien von Parlamentariern die
    Demokratie und ihr Land in Mißkredit bringen. 
    Nun gibt es zwei Möglichkeiten: 
    1. alle als rechtsradikal einstufbaren Tätigkeiten und Ereignisse
    verbieten. Das ist auf den ersten Blick hin ebenso einfach wie
    wirkungsvoll. Doch verlagert man dadurch alle entsprechenden Aktivitäten
    in den Untergrund, was die Beobachtbarkeit empfindlich einschränkt
    und der Sache eine "abenteuerliche" Qualität verleiht (viele wollen
    ja gerade den "Kick"). Außerdem entspricht eine solche Verbotspraxis
    genau dem, was man eigentlich nicht wiederholen bzw. kopieren will: einer
    Diktatur, wo ja auch alles Mißliebige gnadenlos verboten
    wurde.
    2. unter der Prämisse, daß nicht alle Fehlgeleiteten automatisch
    auch Verbrecher sind, sich mit den betreffenden Personen sachlich,
    d.h. im Gespräch, auseinandersetzen. Das ist schwierig, das ist
    auch unangenehm und das kostet viel Kraft. Eine solche Auseinandersetzung
    muß objektiv und vorurteilsfrei an alle Argumente herangehen, diese
    analysieren und gerecht bewerten. In nicht wenigen Fällen wird
    es gelingen, durch besonnenes und verständnisvolles Vorgehen viele
    allzuschnell als "unbelehrbar" eingestufte Menschen in ihrem eigenen Interesse
    auf einen der Allgemeinheit dienenden, guten Weg zu bringen. Demokratie
    und Freiheit können immer nur dann siegen, wenn sie ihren ureigenen
    Prinzipien folgen, aber niemals durch Verbote und Gewalt.
   - 
    Nach vorn blicken, sich die Hand reichen und es besser machen.
    Ständiges Gejammer und Herumrühren in längst verheilten
    Wunden helfen wenig, weil, wie schon angedeutet, alte Ressentiments dadurch
    wiederauferstehen und neue entstehen können. Wie die Niederländer
    sagen: Gedaan is gedaan. Gottseidank gibt es heute Aktionen,
    versöhnende Gesten und Vorbilder, die leider zu wenig bekannt sind:
    wie z.B. die sowohl aus Israelis wie Palästinensern bestehende
    Fußball-Jugendmannschaft oder die leidgeprüfte Stadt
    Coventry,
    die mit einer großherzigen Spende zum Wiederaufbau der Dresdener
    Frauenkirche
    beitrug. Positive Vergangenheitsbewältigung ist Arbeit für den
    Frieden.
   - 
    Nur
    mündige Bürger können Demokratie und
    Freiheit verwirklichen und schützen. Mündig ist der, der von den
    Dingen weiß und den nötigen Horizont und "Durchblick" besitzt,
    um vergleichen und handelnd aus dem Vergleich schlußfolgern zu
    können. Politisch mündige Bürger sind jedoch unbequem:
    sie könnten Fakten und Trends entdecken, Entwicklungen auf die Spur
    kommen, denen eine Existenz als "Hintergrundprogramme" zugedacht war. Wer
    die nötigen historisch-politischen Kenntnisse besitzt und damit die
    Basis für ein unvoreingenommenes kritisches Bewußtsein,
    wird schnell erkennen, daß es gerade jetzt dringend Not tut, auch die
    nicht minder problematische Gegenwart zu "bewältigen": ein Heer
    von Arbeitslosen, unterdurchschnittliche Schulbildung,
    Egoismus, Gedankenlosigkeit und Kinderfeindlichkeit,
    massenhafte Überschuldung staatlicher und privater Haushalte,
    Ausbeutung, Sozialabbau und Altersdiskriminierung,
    allgemeiner Werteverlust (außer an der Börse), bedrohlich
    wachsende Verrohung und Gewaltkriminalität, jede dritte
    Ehe geschieden, wachsende Orientierungs- und
    Perspektivlosigkeit und daraus resultierend stark zunehmender
    Radikalismus. Diese Tendenzen erinnern mindestens teilweise an die
    Zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts und wohin damals der politische
    Steuerkurs führte. Es müßten alle verfügbaren Warnlampen
    aufleuchten. Statt dessen wird die Masse mit medialem Entertainment,
    Trends und Fun narkotisiert und im Rahmen von
    Gewissensberuhigungsaktionen mit einer Vergangenheitsbewältigung
    befaßt, die einen Bezug zur aktuellen Realität ausschließt.
    Zu einer derart entmündigten Gesellschaft paßt denn auch, daß,
    ohne das Volk rechtzeitig genug inhaltlich zu informieren und eine nationenweite
    Diskussion zu ermöglichen, die
    Europa-Verfassung befürwortet wird von zwar
    hochbezahlten, doch in dieser Materie weitgehend inkompetenten Parlamentariern,
    während zum Beispiel in
    Frankreich jede/r Stimmberechtigte den Verfassungstext
    zugeschickt erhält und sich noch rechtzeitig vor dem Referendum
    Ende Mai (2005) ein Bild von der Sache machen kann. Wenn ein Staatswesen
    in wichtigen Angelegenheiten wie der
    Rechtschreib-Reform, der
    Teilnahme an Kriegen und anderen kostspieligen
    Militäreinsätzen und einer in die nationalen Belange
    eingreifenden Verfassung Volksabstimmungen verhindert, so könnte
    die Frage entstehen, ob hier eine Angst vor dem eigenen Volk vorliegt
    und damit eine Unfähigkeit zur Verwirklichung echter Demokratie. 
    "Mehr Demokratie wagen" war die Losung des ersten sozialdemokratischen
    Bundeskanzlers
    Willy
    Brandt. Demokratie ist ein Wagnis; kein Wagnis ist ohne Risiko. Doch
    dieses Wagnis lohnt sich. Denn ein entmündigtes Volk ist weder fähig,
    die Vergangenheit und die Gegenwart zu bewältigen noch konstruktiv zu
    einer tragfähigen, sicheren Zukunft beizutragen.
   - 
    Zum Schluß: Wer es wagt, zumindest einige kritische Worte zu
    einem heiklen Thema zu schreiben, läuft - wie sollte es anders sein
    - Gefahr, mißverstanden und in eine "Schublade" gesteckt zu werden.
    Um es zu verdeutlichen: ich möchte aufgrund obiger Aussagen und Argumente
    nicht mit revisionistischen Broschüren bedacht werden. Mich interessiert
    nicht, was Herr Putin zu amerikanischen Machtansprüchen sagt, wie ein
    gewisser Dr. Achmadinedschad zum Holocaust steht und welche
    pseudowissenschaftlich verharmlosenden Berechnungen zu den in ihrer
    Scheußlichkeit einmaligen KZ-Morden angestellt wurden. Was in der
    Vergangenheit geschah, sollte nie vergessen werden. Aber es sollte auch nicht
    zu fadenscheinigen Zwecken instrumentalisiert werden. Aus dem Vergangenen
    müssen wir derart lernen, daß es nie wieder geschieht,
    in welcher Gestalt, zu welchem Zweck und aus welchem Grunde auch immer.
    W. Näser, 5. Juli 2007
 
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*) In
"Morgenthau-Legende - zur Geschichte eines umstrittenen
Plans", Hamburg 1995, beschreibt Prof.
Bernd
Greiner, Mitarbeiter des
Hamburger Instituts für Sozialforschung, die
Versuche US-amerikanischer Organisationen, in den Jahren 1942 bis 1945 die
Regierung der USA dazu zu bewegen, das massenhafte Morden an den
europäischen Juden durch diplomatische, finanzielle und militärische
Mittel aufzuhalten oder zu begrenzen. Die akute Gefährdung ungarischer
Juden habe engagierte Bürger veranlaßt, sich mit konkreten
Vorschlägen an des US-Kriegsministerium zu wenden:
  [S.143] "sie [...] schlugen Luftangriffe auf die Eisenbahnlinien von
  Budapest nach Polen vor. Auch müßte es möglich sein, die
  Gaskammern und Krematorien gezielt anzugreifen - den Angaben von Vrba und
  Wetzler [zwei aus Auschwitz entkommene Ex-Häftlinge, H.P.] zufolge lagen
  sie hinreichend weit von den Häftlingsbaracken entfernt.
  John
  Pehle (Leiter des
  War
  Refugee Board, H.P.] zweifelte zwar an der technischen
  Durchführbarkeit, reichte aber am 21. Juni 1944 den Vorschlag
  mit der Bitte um Prüfung an
  John
  McCloy weiter."
Das War Department habe Ende Juni abgelehnt: die Flugzeuge würden für
kriegsentscheidende Einsätze andernorts gebraucht; man dürfe nicht
zur falschen Zeit und am falschen Ort das Leben amerikanischer Soldaten aufs
Spiel setzen; die vorgeschlagenen Angriffe hätten kaum Aussicht
auf Erfolg und die Deutschen könnten möglicherweise eine noch blutigere
Rache üben. Am 24. März 1945 habe Kriegsminister
Henry
Stimson schließlich auf das nahe Kriegsende vertröstet;
Stellvertreter John McCloy habe mit den Worten "Kill it!" seinen
persönlichen Sekretär angewiesen, ihn mit derartigen Anfragen nicht
weiter zu belästigen. 
Bomber des 8. und 15. US-Luftwaffengeschwaders, so Greiner,
  "flogen von Süditalien und England aus regelmäßig
  Einsätze gegen Ölraffinierien in Oberschlesien. Allein am 7. Juli
  1944 überquerten 452 Bomber zwei von fünf Eisenbahnlinien, auf
  denen die Deportationszüge rollten. Bis zum 20. November wurden weitere
  Großangriffe mit Verbänden zwischen 102 und 357 Maschinen geflogen.
  Die Ziele: acht große Anlagen zur Herstellung von synthetischem
  Benzin, darunter
  Blechhammer,
  80 Kilometer westlich von Auschwitz - zehnmal bombardiert; Oderberg, 75 Kilometer
  von Auschwitz - im August mehrmals bombardiert; Trzebinia, 22 Kilometer
  nordöstlich von Auschwitz; und schließlich die
  IG Auschwitz auf dem Gelände des Vernichtungslagers
  - angegriffen von 127 Flying Fortresses am 20. August, die ihre Bomben
  sieben Kilometer östlich der Krematorien zielgenau ausklinkten
  <sic!>; von 96 Liberators am 13. September sowie am 18. und 26. Dezember.
  Am 13. September wurden zwei Bomben zu früh abgeworfen, töteten
  einige Soldaten und Gefangene und beschädigten die Schienenstrecke zu
  den Gaskammern."
John Pehle habe im November 1944 letztmalig das War Department gebeten, die
Vernichtungsanlagen in Auschwitz anzugreifen, doch wiederum vergeblich. McCloy
habe nicht einmal den Rat der in Italien oder England stationierten
Luftwaffenkommandeure eingeholt noch eine Expertise anfertigen lassen. 
Die vorstehenden Angaben und Zitate (Hervorhebungen und Links
von mir) verdanke ich Hermann
Ploppa (abgekürzt H.P.) -
auch den Hinweis darauf, daß John McCloy nicht nur ein Jahr in Italien
als Wirtschaftsberater Mussolinis tätig war, sondern auch 1936 "das
exklusive Vergnügen" hatte, "bei den Olympischen Spielen in Berlin auf
der Ehrentribüne neben den Großen des Nazistaates Platz nehmen
zu dürfen."
wird ergänzt. Seite begonnen am 11.5.2k5 * (c) Dr. W. Näser,
Marburg * Stand: 6.10.2020 (vorher 6.9.2009)
externe Meinungsäußerungen sind
willkommen.