Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002

Rede Martin Walsers am 8.5.2002 in Berlin

Was ich sagen möchte, habe ich überschrieben mit "Über ein Geschichtsgefühl". Eine Zugehörigkeit muß man erleben, nicht definieren. Auch die Zugehörigkeit zu einem Geschichtlichen hat man nicht zuerst als Erkenntnis parat, sondern als Empfindung, als Gefühl. So kommt es wenigstens bei mir zu einem Geschichts-Gefühl. Frage sich jeder selbst, ob er, wenn er versucht, das Wort Nation zu definieren, nach dem Definieren mehr weiß als er vorher durch Empfindung wußte. Ja, wußte - man kann nämlich durch Empfinden wissend werden. Als ich in der Zeit der deutschen Teilung davon gesprochen habe, daß ich diese Teilung in meinem Geschichtsgefühl nicht unterbringe, kam die Antwort des gerade Zeitgeist-diensthabenden Intellektuellen im SPIEGEL, den man nennen könnte den Focus des Zeitgeistes, da kam die Antwort "Denken konnte er ja nie". Ich bestehe trotzdem auf meinem Geschichtsgefühl.

Diese intellektuellen Intellektuellen, wie ich sie nennen möchte, machen zwischen Fühlen und Denken den Unterschied, den die Kirche zwischen Leib und Seele machte - das darf man inzwischen komisch finden. In der rationalen und als rational berühmten französischen Sprache hat Vauvenargues [1715-1747] formuliert: "les grandes pensées viennent du coeur", und Pascal [1623 - 1662] prägte "raison du coeur". Ich kann mir vorstellen, daß diese großbuchstabig-sentenziöse Form einen praktizierenden Intellektuellen nicht beeindruckt. Deshalb möchte ich, weil mir diese bei uns geübte Einteilung kritisierenswert erscheint, einen Helfer zitieren, der sich diesen Unterschied zwischen Denken und Fühlen in unserer Sprache vorgenommen hat, nämlich Nietzsche [1844-1900]. In seinem Buch Morgenröte sagt er, daß all unser sogenanntes Bewußtsein ein mehr oder weniger phantastischer Kommentar über einen ungewußten, vielleicht unwißbaren, aber gefühlten Text ist. Also bitte: das Bewußtsein nur ein Kommentar zu einem gefühlten Text. Und ein paar Jahre später in seinem Buch Die fröhliche Wissenschaft: "Es steht uns Philosophen nicht frei, zwischen Leib und Seele zu trennen, wie das Volk trennt. Es steht uns noch weniger frei, zwischen Seele und Geist zu trennen. Wir müssen beständig unsere Gedanken aus unserem Schmerz gebären und mütterlich ihnen alles mitgeben, was wir von Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen, Schicksal, Verhängnis in uns haben." So, darf ich es wohl sagen, entsteht unter anderem auch ein Geschichtsgefühl.

Wer als Intellektueller glaubt, er könne oder müsse gar über Nation gefühlsfrei denken, den darf man wohl mit allem Respekt einfältig nennen. Mein Geschichtsgefühl Deutschland betreffend ist der Bestand aller Erfahrungen, die ich mit Deutschland gemacht habe - mit dieser Nation. Nation wird es einmal nicht mehr geben. Der Zeitraum der Nationenbildung war das 19. Jahrhundert überall in Europa mit mehr oder weniger staatlichem Anteil und Glück; man lese nach, wie die jüdische Nation sich bildete mitten im Exil und bis zu Herzl ohne jede staatliche Hoffnung blieb und wie die polnische Nation sich bildete durch alle Teilungen hindurch und wie abenteuerlich die tschechische Nation sich bildete und wie verwegen die italienische und wie pathetisch die deutsche Nation sich gebärden mußte, um sich selber empfinden zu können.

Selbstbewußtsein ist das wichtigste Erlebnis bei der Bildung einer Nation. Erstaunlich bleibt, wie verschieden wir dann dieses nationale Selbstbewußtsein empfinden, bewerten, beurteilen. Als es noch diese beiden deutschen Staaten gab, sagte mir ein Kollege einmal, ihm sei es doch egal, wer den Paß ausstelle, den er an irgendeiner Grenze brauche. Er fand in sich keine Zugehörigkeit vor. Von den Karolingern bis zu den Hohenzollern: das sind nicht nur heraldische Daten, sondern historische Ströme, die ich erleben kann wie die Donau, den Rhein, die Elbe, die Nordsee oder die Alpen. Und lange vor unserer Staatlichkeit waren wir eine deutsche Nation, und bitte nicht nur eine Kulturnation, sondern eine politisch tendierende Schicksalsgenossenschaft, die sich ihrer Zusammengehörigkeit bewußt war, ohne daß sie dafür schon eine staatliche Fassung gefunden hatte.

Wie durch dieses ganze 19. Jahrhundert hindurch von 1823 bis 1888 der Kölner Dom komplettiert wurde, damit man sich auf eine große Tradition beziehen könne, so war auch die ebenso lang beschworene Einheit in einer ebenso vergangenheitsträchtigen Reichsgründung fast gleichzeitig gelungen. Es war der Versuch, einer schwärmerisch geliebten Vergangenheit in einer zeitgemäßen politischen Handlung zu entsprechen. Das mag dem und jenem zu vergangenheitssüchtig ausgefallen sein, es war ja auch der Versuch, das Mittelalter mit Dampfmaschine zu betreiben. Aber die Nation hatte jetzt eine Fassung und reagierte darauf mit Hochleistung.

Die verglichen mit England und Frankreich zu spät gekommene Nation holte auf mit einem Eifer, der rundum zum Erschrecken führte. Ein Bismarck konnte diese pubertierende Nation gerade noch am Schlimmsten hindern, seine Nachfolger ließen es zum Schlimmsten kommen. Golo Mann hat dann den Ersten Weltkrieg die Mutterkatastrophe des Jahrhunderts genannt. Ohne diesen Krieg kein Versailles, ohne Versailles kein Hitler, ohne Hitler kein Weltkrieg II, ohne Weltkrieg II nichts von dem, was jetzt unser Bewußtsein oder unser Gefühl bestimmt, wenn wir an Deutschland denken. Das wichtigste Glied in der historischen Kette bleibt: ohne Versailles kein Hitler. Daß Frankreich, das durch die deutschen Truppen verwüstete Frankreich, den Versailler Vertrag durchsetzte, muß man verstehen. Daß der Vertrag eine wirtschaftliche Katastrophe produzieren mußte, darf man auch verstehen. Ich zitiere einen, der dieses Geschehen als interessierter Beobachter von Amerika aus miterlebte. Der Ölmagnat Paul Getty [1892-1976] schreibt in seinen Memoiren über den Versailler Vertrag: "Dieser Vertrag war rachsüchtig, erlegte Deutschland unbezahlbare Reparationen auf, der dümmste Student der Wirtschaftswissenschaften sah sogleich, daß eine nur notdürftig funktionierende deutsche Wirtschaft auf diese Weise total zerrüttet werden mußte. Die als Strafe gedachten Artikel dieses Vertrags mußten in Deutschland eine heftige nationalistische Reaktion in Gang setzen. Ein vernünftigerer und gerechterer Friede an Stelle des Vertrages von Versailles hätte zwischen 1919 und 1932 in Deutschland ein demokratisches System befestigt." Versailles ist sicher nicht die einzige Ursache für 1933, aber daß Versailles auch eine Ursache für Hitlers Erfolg ist, darf man wohl sagen.

Bei uns wird heute jedes Buch akklamiert, das die Geschichte so darstellt, als sei sie immer schon auf Auschwitz zugelaufen - weil wir eben so sind. Erinnern Sie sich bitte, wer alles und wie laut und wo überall im Land Daniel Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker propagiert hat. Wenn man aber aus der sorgsamsten Rekonstruktion der Geschichte der deutsch-jüdischen Familie Klemperer, also aus 80 Jahren deutsch-jüdischer Geschichte, den Schluß zieht, das deutsch-jüdische Verhältnis hätte unter anderen Umständen nicht in Auschwitz geendet, dann wird einem vom liberalen Wochenblatt Verharmlosung von Auschwitz vorgeworfen. Schon das Bestehen auf Erklärbarkeit wird verdächtigt. In der Kirchensprache nennt man diese Haltung dogmatisch. Das sehe jeder, wie er muß - jeder kann, wenn er will, auf Nation jetzt für immer verzichten, ich kann das nicht. Wortführende Intellektuelle haben dann die deutsche Teilung gerechtfertigt mit dem Hinweis auf Auschwitz - als wäre die Nation ein Individuum, das man, weil es Verbrechen begangen hat, bestrafen könne.

Die Teilung hat aber doch weniger die bestraft, die diese Verbrechen bewirkt haben, sondern irgendwelche Deutsche, die damit nichts zu tun gehabt hatten. Und die andere Argumentation: deutsche Teilung nicht als Strafe für Auschwitz, sondern, daß sich Auschwitz nicht wiederhole - das kommt mir wahrhaft grotesk vor. Auschwitz ist entstanden aus historischen Bedingungen. Diese Bedingungen können sich niemals wiederholen. Wer die deutsche Teilung so oder so zu einem geschichtlich Vernünftigen machen wollte, der hat übersehen, daß diese Teilung keine Kriegsfolge war, in keiner Weise mit Auschwitz zu tun hatte, sondern ganz und gar eine Folge des Kalten Kriegs. Dieses Herbeschwören des Schlimmsten zu bestimmten Zwecken war immer absurd - egal, ob damit die deutsche Teilung oder eine Kriegshandlung auf dem Balkan gerechtfertigt werden sollte. Und die, die sich solcher Instrumentalisierung bedienten, hätten sich genieren müssen, weil sie diesen Namen für einen Zweck nutzten, der es in keiner Weise wert war, mit diesem Namen bedient zu werden.

Auschwitz war ein Verbrechen, das singulär wurde durch seine grausame Ausgedachtheit und seine alles Menschliche vernichtende Perfektioniertheit; aber wer nicht begreift, daß dieses Verbrechen nur möglich war unter den Bedingungen dieses Krieges, der wird nie begreifen, wie Auschwitz überhaupt möglich war, und dieser Krieg war der allerletzte Krieg, den diese Nation angezettelt hat. Aber die Anzettelung hat eben nicht im Januar 1933 begonnen, sondern viel früher, unter anderem eben durch die Mutterkatastrophe des 20. Jahrhunderts, den Ersten Weltkrieg. Und der Erste Weltkrieg hatte Ursachen, die man aufzählen kann. Man muß sie nicht billigen, aber man kann sie erkennen. Und wenn auch das Entsetzlichste, wozu es kommen kann, erkennbar wird als eine Folge, die aus erkennbaren Ursachen stammt, dann ist mehr getan, als wenn man einer Gesellschaft die Schuld als etwas Absolutes einbleut.

Aus dem, was diese Nation geleistet und aus dem, was sie sich geleistet hat, ergibt sich für mich die Folgerung "Sorge jeder für sein Gewissen und nicht für das Gewissen anderer". Die Gewissenspfleger der Nation haben es, wie Salomon Korn es schon vor meiner Rede in der Paulskirche formuliert hat, sie haben es zu einem Jargon der Betroffenheit gebracht. Der macht nach meiner Erfahrung aus den Nachwachsenden keine gewissensempfindlichen Zeitgenossen, sondern eher Praktiker des Lippengebets. Aber ich habe neulich in einer kritischen Anmerkung gegen mich gelesen, Lippengebet sei besser als keins. Wer so etwas ernsthaft formuliert, hat keine Kirchenerfahrung. Ich habe ca. 15 Jahre intensive Kirchen- und Gebetserfahrung. Auschwitz als Lippengebet - nein danke.

Daß wir geteilt bleiben sollten, war wahrscheinlich die seriöseste Drohung, der diese Nation je ausgesetzt war. Durch die Schande, die die Nation auf sich geladen hatte, wollten wir mit dem Nationalen überhaupt nichts mehr zu tun haben. Es war nicht nur Mode, sondern verständlich, daß, was Nation heißt, bei feineren Geistern ganz mies notiert war. Ich habe 32 Jahre gebraucht, bis ich zum ersten Mal gewagt habe, den Mund ein bißchen aufzumachen. Erst im Jahr 1977 habe ich in einer Rede gesagt, wir dürfen die BRD so wenig anerkennen wie die DDR. Nur wenn das unser Wunschdenken bleibe, habe dieses Wunschdenken eine Chance in der Wirklichkeit - und ich habe leichtfertig dazu gesagt, im Jahre 1999 oder 2099, und dann ist es passiert schon 1989. Und deshalb wiederhole ich, wenn davon gesprochen wird, daß das der glücklichste Moment in der deutschen Geschichte ist, dieser 9. November 1989, der Fall der Mauer.

Aber was mich zum ersten Mundaufmachen und dann wiederholt zu Wortmeldungen brachte, war nichts Politisches, sondern ein Gefühl, das sich gebildet haben muß in Kindheit und Jugend. Thüringen und Sachsen waren mir durch Lektüre und durch Hörensagen zu Seelenlandschaften geworden, Karl May und Nietzsche durften nicht im Ausland geboren worden sein. Dann haben natürlich Besuche und Briefe drastisch darauf hingewiesen, daß wir eins waren - die drüben und wir herüben. Und diese Gefühle ließen sich irgendwann nicht mehr verschweigen. Wozu gehört man einer bestimmten Generation an, wenn man die Erfahrung dieser Generation dann verschweigt? Das muß ja zum Geschichtsverlust führen, und den zu vermeiden sind Intellektuelle da.

Heute ist der 8. Mai, ein einfacheres Datum. Vom 8. Mai 1945 zum 3. Oktober 1990 oder doch, dem Geschichtsgefühl entsprechend, zum 9. November 1989, das ist, pathetisch gesagt, die Läuterungsstrecke der Nation. Und der 9. November müßte der Tag der Deutschen sein. An diesem Tag hat die Nation sich ihrem jeweiligen historischen Zustand entsprechend benommen. 9. November 1918: Philipp Scheidemann ruft in Berlin die Republik aus, 9. November 1923: Hitlers Marsch zur Feldherrnhalle in München; 9. November 1938: die Reichspogromnacht; 9. November 1989: die Mauer fällt. Gebaut wurde diese Mauer durch die Weltpolitik; überwunden wurde sie durch das Volk, das die manifest gewordene Illegitimität des DDR-Regimes mit den richtigen Handlungen beantwortet hat, und die Kraft dazu kam aus dem Geschichtsgefühl dieser Menschen.

Wenn aber sicher ist - und sicherer als das ist nichts -, wenn sicher ist, daß wir in europäischer Aufgehobenheit vor gar allem, was uns je passieren konnte, bewahrt sind, dann ist nicht einzusehen, warum wir jetzt keine Nation mehr sein sollten. Wir sind eine. Keine europäische Nation muß jetzt noch hysterische Souveränitätstänze aufführen, das Selbstbewußtsein, das nach wie vor unentbehrliche, muß jetzt nicht mehr mit Imperialismen jeder Art gefüttert werden, sondern kann sich bilden durch das Erlebnis der Zugehörigkeit zu einem noch größeren Ganzen, zu Europa. Europa ist überhaupt die Lösung der deutschen Frage, die es ernsthaft seit dem 9. November 1989 schon nicht mehr gibt. Und die Nation wird es geben, so lange es nationale Aufgaben gibt. Wir müssen da nicht lange suchen: die erste und für lange Zeit allererst nationale Aufgabe ist die Heilung aller Schäden, die entstanden sind durch das, was man im Zeitungsstil die deutsche Teilung nannte, was in Wirklichkeit die Teilung Deutschlands war, aber Deutschland war ein Unwort geworden. Die Politik kann diese nationale Aufgabe, die Heilung der Teilungsschäden, wahrscheinlich nicht auf parteibezogene Art lösen.

Wir dürfen uns an die Folgen der Teilung so wenig gewöhnen wie wir uns an die Teilung gewöhnen durften. Wenn Solidarität, dann zuerst mit denen, die immer noch die Folgen dieser Teilung zu tragen haben, und diese Solidarität muß reichen so weit, wie dort die Not reicht. Ich messe deutsche Politik zuerst und zuletzt an dem, was sie tut, diesen Landsleuten aus der Misere zu helfen, in die sie unverschuldet geraten sind und die sie immer noch zu ertragen haben. Das sagt mir mein Geschichts-Gefühl, das in diesem Fall auch ein Geschichts-Mitgefühl ist. Ich danke Ihnen. (Beifall)

Wird ergänzt. Transkription vom Videoband, Links, Foto: W. Näser 24.10.2003 * nur zu didaktischen Zwecken* Neusatz 22.7.2k5 / 21.6.2k7 * Stand: 5.2.2k14