Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser, Marburg, SS 2002 ff.

Weizenbaum, Joseph (* 1923): Texte (1976-1999)
"Wenn Du das, wofür Du arbeitest, mit den eigenen Händen auch tun würdest, dann magst Du deine Arbeit weiterführen.
Wenn Du es nicht tun würdest, wenn du als Raketenbauer keine Menschen mit der bloßen Hand umbringen magst, dann mußt Du mit deiner Arbeit aufhören."

Weizenbaum, "eine der großen Leitfiguren der Technik-Kritik", wird am 8. Januar 1923 als Kind jüdischer Eltern in Berlin geboren. Aufgrund der NS-Rassengesetze emigriert er 1935 in die USA, studiert ab 1941 Mathematik an der Wayne University in Detroit; im Krieg Meteorologe in der Air Force. Bachelor of Science 1948, Master of Science 1950; nach Computer-Projektarbeit 1955-1963 Systems Engineer im Computer-Entwicklungslabor der General Electric Co.; ab 1963 Associate Prof. am Massachusetts Institute of Technology (MIT), 1970-1988 dort Professor für Computer Science, danach Professor Emeritus und Senior Lecturer des Instituts. JW war Fellow of the Center for Advanced Studies in the Behavioural Sciences in Stanford, Kalifornien (1972-73), Vinton Hayes Research Scholar an der Harvard University (1973-74) und Gastprofessor an mehreren Universitäten, unter anderem der Technischen Universität Berlin, der Harvard Graduate School of Education und den Universitäten Hamburg und Bremen. JW war Schirmherr der Linux-Infotage 2001, nahm teil an der Bildungsmesse in Köln 19.-23.2.2002) und ist Ehrengast beim 22. Oberhofer Kolloquium "Wege zum Wissen - die menschengerechte Information"(26.-28.9.2002). Seit 1996 lebt Weizenbaum wieder in Berlin und erzählt in der von Peter Haas und Silvia Holzinger (Il Mare Film) 2006 gedrehten 80-Minuten-Dokumentation Weizenbaum. Rebel at Work verschmitzt aus seinem Leben. Im Abspann resümiert er:

"Ladies and Gentlemen, this is your captain speaking. I have some good news and I have some bad news. The good news is that we have a very strong tailwind and we're doing one thousand fourhundred miles per hour over land. The bad news is that all of our navigation instruments are out, and we don't know where we are and we don't know where we're going. And that's our situation. Our science and technology is the tailwind the like of which we never had before. We're going so god damn fast...

..also ich sollte vielleicht auf Deutsch reden: Wir haben einen Rückenwind, der so stark ist wie noch nie in der Geschichte der Menschheit, und wir fliegen so schnell wie noch nie vorher, aber wir haben keine Navigationsinstrumente, wir wissen weder wo wir sind oder wo wir hingehen. Und das ist unsere Situation."

Seit der Entwicklung seines Dialog-Programms ELIZA (1965) befaßt sich JW mit ethischen Fragen des Computers und der modernen Technik, wandelt sich vom überzeugten Informatiker zum vehementen Kritiker einer totalen Computerisierung der Gesellschaft. "Ohne Frage hat die Einführung des Computers [...] lediglich die früheren Zwänge verstärkt und erweitert, die den Menschen zu einer immer rationalistischeren Auffassung seiner Gesellschaft und zu einem immer mechanistischeren Bild von sich selbst getrieben haben." (1978, S.25) Kritisch äußert er sich auch gegen den Vietnam-Krieg und das Raketen-Abwehrprogramm SDI. Auf der Tagung Memoria Futura - Cultural Heritage und Informationstechnologie: eine neue Perspektive? der GMD referiert JW im Dez. 1999 über Das Menschenbild - die dringendste Aufgabe des neuen Jahrhunderts. "Ich glaube, es muß Widerstand geleistet werden, obwohl dieser Widerstand hoffnungslos erscheint." Beim Kongreß "Gutenbergs Folgen" bezeichnet er Ende November 2000 in Mainz das Internet als "riesigen Misthaufen". Computer und Internet, so JW im "Publik-Forum", hätten die Menschheit nicht vorangebracht; ihr Einsatz habe die Menschen weder schlauer gemacht noch die Demokratie gefestigt. Die Gesellschaft mache sich von Systemen abhängig, die sie kaum noch beherrschen könne. Bei einem Volk, das nicht politisch gebildet und erzogen sei, hälfen die Computer auch nicht weiter; allerdings helfe das Netz denjenigen, die das Volk manipulieren wollten. Wir, die Zauberlehrlinge, sollten auf der Hut sein. Der Computer sei entwickelt worden, um "den Massenmord effizienter zu machen"; diese Möglichkeiten steckten noch immer in ihm. Wie dieses Mittel verwendet werde, hänge allein vom jeweiligen Zeitgeist ab.

Werke: u.a. ELIZA - A Computer Program for the Study of Natural Language Communication Between Man and Machine. In: Comm. ACM, (1), S.36-45 (1965); Contextual Understanding by Computers. In: Comm. ACM, (10), S.474-480 (1967); Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. (dt. Ffm 1978); Kurs auf den Eisberg. Die Verantwortung des einzelnen und die Diktatur der Technik. (Zürich 1984); Sind Computer die besseren Menschen? (1990); Wer erfindet die Computermythen? Der Fortschritt in den großen Irrtum (Freiburg i.Br. 1993)

Ehrungen: DSc. honorary degree der State University of New York, DLit. h.c. des Daniel Webster College of New Hampshire, Ehrendoktor der Universität Bremen. Norbert Wiener Award for Professional and Social Responsibility; Namour Preis der International Federation of Information Societies; Humboldt-Preis (m. einjährigem Aufenthalt an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg von 1994-95); Preis des Forum InformatikerInnen fuer Frieden und gesellschaftliche Verantworung (FIfF) (1998)

Text 1 ist der Schluß von Weizenbaums aufsehenerregendem Buch Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, 1976 im Original erschienen und ein Jahr später bei Suhrkamp (Ffm) in der Übersetzung von Udo Rennert (Seitenzahlen in []). Diese Gedanken entstammen noch der Welt der sog. Mainframes, der Großrechner; der PC war noch nicht erfunden.

Anders ist es mit den (in Thesenform aufbereiteten) Texten 2-5: einer völlig veränderten Computerwelt zugehörig, entstammen sie dem Internet - jenem von Weizenbaum mehrmals mit ungnädigstem Verdikt belegten weltweiten Informations-Reservoir, ohne das ich diese Seite und andere meines Projekts "Deutsch im 20. Jahrhundert" nicht hätte anlegen können. Weizenbaums Worte, nun in allerhöchstem Maße provokativ, fordern Diskussion. Deshalb stehen sie auch hier, im Internet, der, wie ich meine, größten Enzyklopädie des beginnenden 21. Jahrhunderts. W.N.


1. Aus: Gegen den Imperialismus der instrumentellen Vernunft (1976)

[356] Naturwissenschaftler und Techniker tragen aufgrund ihrer Macht eine besonders schwere Verantwortung, vor der sie sich nicht hinter einer Fassade von Schlagwörtern wie dem der technischen Zwangsläufigkeit drücken können. [360] [...] sie müssen sich Gedanken darüber machen, was sie wirklich tun. Sie müssen lernen, ihrer eigenen inneren Stimme zuzuhören. Sie müssen lernen, "nein" zu sagen. [362] Es ist ein weitverbreiteter aber schmerzlich irriger Glaube, daß Zivilcourage nur im Zusammenhang mit welterschütternden Ereignissen bewiesen werden kann. Im Gegenteil, die größte Anstrengung kostet sie oft in jenen kleinen Situationen, in denen die Herausforderung darin besteht, die Ängste zu überwinden, die uns überkommen, wenn wir über unser berufliches Weiterkommen beunruhigt sind, über unser Verhältnis zu jenen, die in unseren Augen Macht über uns haben, über alles, was den ruhigen Verlauf unseres irdischen Lebens stören könnte. [...]

[364] Gerade weil sich ein so großer Teil des Curriculums in der Computerwissenschaft mit der Entwicklung von Rechenfähigkeiten befaßt, liegt es für den Dozenten nahe, gegenüber den Studenten nur noch als Trainer aufzutreten. Wenn er das jedoch täte, würde er fraglos sich selbst und seinen Beruf reduzieren. Er würde sich gleichzeitig vom übrigen intellektuellen und moralischen Leben der Universität loslösen. Die Universität sollte gegenüber jedem, der in ihr zu tun hat, wie auch gegenüber der ganzen Welt die Vision davon aufrechterhalten, was ein Mann oder eine Frau möglicherweise werden können. Sie tut das, indem sie den Gedanken der Frauen immer neues Leben einhaucht, die aufgrund ihrer eigenen Leistungen an dem Haus mitgebaut haben, in dem wir leben. Und sie tut das, recht oder schlecht, durch das Beispiel, das der einzelne an der Universität den anderen gibt. Der Dozent für Computerwissenschaft lädt letzten Endes - nicht mehr und nicht weniger als jedes andere Mitglied der Fakultät - seine Studenten immer wieder dazu ein, das zu werden, was er ist. Sieht er sich selbst als bloßen Trainer, der lediglich "Methoden" anwendet, um Ziele zu erreichen, die andere für ihn festgelegt haben, dann erweist er seinen Studenten in doppeltem Sinne einen schlechten Dienst. Erstens lädt er sie dazu ein, weniger zu werden als eine völlig autonome Person. Er fordert sie auf, sich zum bloßen ausführenden Organ der Befehle anderer zu machen, letzten Endes nicht besser als die Maschinen, die ihnen eines Tages ihre Funktion vielleicht abnehmen werden. Zum zweiten beraubt er sie der Einsicht in die Ideen, die alleine überhaupt der Computerwissenschaft einen Platz im Lehrangebot der Universität errungen haben. Und damit macht er sie blind für das Beispiel, das die Computerwissenschaftler ihnen als schöpferische menschliche Wesen bieten könnten, also für die beste Chance, selbst wirklich gute Computerwissenschaftler zu werden. [365] Schließlich unterliegt derjenige, der in Computerwissenschaft unterrichtet, selbst der Versuchung, arrogant zu werden, da sein Wissen irgendwie "handfester" ist als das seiner geisteswissenschaftlichen Kollegen. Aber die Handfestigkeit des Wissens, das ihm zur Verfügung steht, bringt keinerlei Vorteile mit sich. Sein Wissen ist lediglich eindeutiger und drückt deshalb genau wie seine Computersprachen weniger Realität aus. [...]

Der Lehrer der Computerwissenschaft muß den Mut aufbringen, der Versuchung zur Arroganz zu widerstehen und, wiederum in der Hauptsache durch sein Beispiel, die Gültigkeit und Berechtigung des weniger handfesten Wissens zu lehren. Warum Mut in diesem Zusammenhang? Aus zwei Gründen. Der erste und weniger wichtige ist der: je mehr es dem Lehrer der Computerwissenschaft gelingt, in dieser Weise zu lehren, um so mehr riskiert er die Zensur seiner Kollegen, die - weniger mutig als er - den simplizistischen Weltsichten erlegen sind, die einer Garantie imperialer Rechte für die Naturwissenschaften immanent sind. Der zweite Grund ist der, daß, wenn er diese Dinge durch sein eigenes Beispiel lehren soll, er den Mut haben [366] muß, die Produkte seiner Subjektivität anzuerkennen, um Jerome Bruners Worte zu benutzen. [...]

Wenn der Lehrer, wenn irgend jemand für andere das Beispiel einer ganzen Person sein soll, dann muß er sich zuerst bemühen, selbst eine ganze Person zu sein. Ohne den Mut, den Welten in uns und außerhalb von uns gegenüberzutreten, ist eine solche Ganzheitlichkeit unmöglich zu erreichen. Die instrumentelle Vernunft allein kann nicht dazu führen. Und es gibt genau einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Menschen und einer Maschine: um ein Ganzes zu werden, muß der Mensch auf immer ein Erforscher seiner äußeren und inneren Realitäten sein. Sein Leben ist voller Risiken, die er jedoch mutig auf sich nimmt, weil er wie der Forscher lernt, seinen eigenen Fähigkeiten zu vertrauen, durchzukommen und auszuhalten. Was für eine Bedeutung könnte es haben, von Risiko, Mut, Ausdauer und Durchhaltevermögen zu sprechen, wenn von Maschinen die Rede ist?


2.    Zu viel Technik-Euphorie
2.1. Betrachtungen 1996 (Gestaltung und Hervorhebungen von mir)

  1. Ich glaube die meisten Leute heute - in unserer Welt jedenfalls - leiden an einer Euphorie, wenn es um Computer und Communications geht. Da wird viel mehr über Möglichkeiten, Träume, Phantasien gesprochen als über die Realität. [...]
  2. Heute ist es möglich, den ganzen Zustand, "the whole state", den ganzen Zustand aller Größen in der Welt, wie wir sagen "in Echtzeit" zu wissen und in seinen Computer einzuführen. Und eine Konsequenz davon ist, daß die Börse, diese Weltbörse zu einem Casino geworden ist, in dem nicht investiert, sondern gewettet wird. Und was die Folgen davon sind, wissen wir noch nicht, aber es ist durchaus möglich, daß Milliarden von Dollars mit riesiger Geschwindigkeit rumfliegen und in einem gewissen Sinn vielleicht verloren gehen [...].
  3. Wir können sehr viel, unter anderem wegen der Ehe zwischen Computer und Kommunikation. Wir können astronomische Zahlenmengen heute von einer Seite zur anderen schicken. Das hat unter anderem auch damit zu tun, daß wir in einer Welt leben, in der alles digitalisiert ist. Wir können auf dem Weg - also wenn wir Zahlen von einer Seite zur anderen schicken - wir können sie auch manipulieren. Bilder, die wir heute empfangen, sind auch Zahlen. Tatsache ist, daß wir diese langen Reihen von Zahlen auch in kürzester Zeit und mit riesiger Geschwindigkeit verändern können.
  4. Und da kommt jetzt eine Frage: Können wir den Zahlen, die bei uns ankommen, können wir den Zahlen vertrauen? Ich meine so ganz einfach zum Beispiel jetzt beim Fernsehen. Die Antwort ist: nein. Aus technischen Gründen können wir nicht mehr erkennen, ob ein Bild, das wir über Fernsehen empfangen, ob das tatsächlich ein reales Bild ist oder ob es "verarbeitet" wurde. Die wichtigste Frage ist aber, ob wir den Menschen vertrauen können. Das ist überhaupt keine technische Frage. Wenn wir Zweifel haben, daß das Bild, das wir im Fernsehen sehen oder die Zahlen, die bei uns ankommen, manipuliert und verfälscht wurde, dann doch, weil wir den Menschen nicht vertrauen und nicht, weil die Maschinerie das kann.
  5. Wir sehen heute, jedenfalls in Amerika, große Bemühungen im Verteidigungsministerium, Informationskriege führen zu lernen - wie man das macht, was dabei ist und so weiter. Vorher konnten wir Lügen verbreiten, aber es war nicht sehr raffiniert im Vergleich zu dem, was wir heute können. [...]
  6. Immer dann, wenn neue Technologien beginnen sich durchzusetzen, müssen sie um Vertrauen werben. Bei ihren Anwendern. Die immer öfter bereit sind, sich auf Gedeih und Verderb ihren Gerätschaften auszuliefern. Und immer öfter darauf vergessen, wie abhängig man von undurchschaubarer Technologie werden kann, und was das für den Menschen bedeutet. [...] Wenn dann darauf hingewiesen wird, wieviel mehr und wieviel schneller man damit Fehler machen kann, heißt es oft: die Technologie ist neutral, es kommt nur darauf an, was man damit macht.
  7. Die meisten Systeme, die wir heute schon benutzen, die die Arbeit der Welt tun, [...] sind heute undurchschaubar. [...] Wir können sie nicht mehr durchschauen. Ein Beispiel: wir stellen heute Sicherheitssysteme her, zum Beispiel im Flugverkehr. Das bedeutet, daß die Spielräume, die Flugzeuge haben - also wie nah sie aneinander vorbeifliegen können, in welcher Zeit sie landen können - mit den modernen Methoden, wie wir sie haben, also computerunterstützt oder sogar computerbeherrscht", können wir diesen Spielraum immer enger machen, so daß mehr Flugzeuge landen und näher aneinander vorbeifliegen können. Aber: es gibt natürlich auch eine Kehrseite, das haben wir gerade vor kurzem in Indien gesehen. Zwei Flugzeuge sind zusammengestoßen, eines davon hatte über dreihundert Menschen an Bord. Da hat ein technisches System, das funktionieren sollte, eben nicht funktioniert.
  8. [...] Ich glaube [...], daß das Fernsehen weltweit eine einzige riesige Katastrophe ist. 90 Prozent Quatsch und Blödsinn und Wahnsinn - vielleicht auch 95 Prozent - aber in diesem "Scheißhaufen", wenn ich dieses Wort benutzen darf - in diesem Scheißhaufen gibt es auch Perlen, die gibt es. Ich denke an einen Film, den ich gesehen habe, der hieß "3 Tage im April". Man könnte sagen, dieser Film war den Fernseher wert. Aber es ist nur eine ganz kleine Perle in diesem großen Haufen. [...]
  9. Und wenn man sich den heutigen Verkehr am Internet ansieht, was da heute hin- und hergeschoben wird, dann sieht es ganz genauso aus wie beim Fernsehen. Also Triviales, Spiele ... ja, es wird viel über Pornografie gesprochen, tatsächlich gibt es im Internet sehr wenig Pornografie, aber naja, darüber kann man Geschichten schreiben, deswegen ist es so bekannt.
  10. Aber fragen wir einfach: "Was haben wir bisher gemacht mit dem Genie des Menschen, mit seinen genialen Entwicklungen, der Raketen und Satelliten da oben hinstellen kann?" Dieser Raum hier, in dem wir gerade sind, ist jetzt, in diesem Moment, voll mit Milliarden Signalen, und wenn wir ein Instrument haben, das sich aus diesem Wirrwarr ein Signal heraussuchen kann, dann können wir es verwandeln - zu einem Bild, zu einem Gespräch und so weiter. Ich weiß nicht, wieviele Handys hier sind, aber wenn jetzt jemand anruft, dann kommt dieses Signal noch dazu. Daß wir die Milliarden Signale, die hier in diesem Raum rumfliegen, daß wir die aussortieren können und das sie "coherent" bleiben, daß ein Bild ein Bild bleibt und ein Wort ein Wort, also da kann man stolz sein, ein Mensch zu sein, daß wir so etwas herstellen können.
  11. Und dann kommt die Frage: "Was machen wir damit?" Und bisher, wenn wir unsere heutige Welt ansehen, dann muß man äußerst pessimistisch sein, man muß glauben, daß wir die dieselbe Schweinerei machen, die wir bisher mit allen anderen Instrumenten gemacht haben. [...]
    (gekürzt aus: http://matrix.orf.at/bkframe/961117_1.htm)

2.2. Antworten 1999 (die mit * markierten Fragen habe ich umformuliert)

  1. Was leisten Computer heute? Wir könnten sehr gut auf Computer verzichten. Bislang sind wir ja ganz gut auch ohne sie ausgekommen. Es ist im Grunde wie mit den Autos. Wir könnten ebenso einen Pferdewagen benutzen. Trotzdem ist die Technik in einem gewissen Sinne großartig. Sie erleichtert einem viele Dinge. Technik kann aber auch sehr, sehr mühsam sein - wenn sie nicht perfekt funktioniert.
  2. Werden wir klüger durch das Netz? Für den, der weiß, was er sucht, ist das Internet eine wunderbare Quelle. Für den, der einfach nur rumsurft, gilt das natürlich nicht. Der Zugang zu viel Wissen, bedeutet eben nicht, daß man das Wissen nutzen kann. Das Internet ist ein Schrotthaufen, in dem Gold und Perlen versteckt sind.
  3. * Wie definieren Sie "Informationsgesellschaft"? Es gibt im tieferen Sinne keine Informationen im Internet, es gibt nur Signale. Nur der Mensch kann aus den Signalen Informationen machen. Indem er sie durch eigenständiges Denken und Verantwortung interpretiert. Es gibt so etwas wie Medienkompetenz, das ist die Fähigkeit, zu kritischem Denken und die hängt im wesentlichen von der Sprache ab.
  4. * Gibt es eine Gleichheit im Internet? Das Internet ist elitär und wird es bleiben. Die Idee der Mitgliedschaft in der Informationsgesellschaft stimmt schon deshalb nicht, weil der größte Teil der Erdbevölkerung kein Englisch spricht, und diese Sprache gehört nun mal einfach dazu. Außerdem kann in der Informationsgesellschaft nur der Mitglied sein, der eine Kreditkarte hat. Jedenfalls in Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
  5. * Fördern Chatrooms die Kommunikation? Ich war einmal in einem solchen "chatroom". Die zehn Minuten waren so ungeheuer trivial, daß ich gleich wieder ausgestiegen bin. Ehrlich gesagt gehe ich lieber zu meinem Stammtisch. Das habe ich mir die Leute, mit denen ich m ich umgebe, selbst ausgewählt.
  6. * Wie ließe sich das Internet gegen Mißbrauch schützen? Wenn man es wirklich will, ist es nicht besonders schwierig, die Schuldigen zu erwischen. Das beste Beispiel dafür ist China. Die kontrollieren das Internet mittlerweile sehr genau, aus Angst vor Regimekritikern.
  7. Warum sollen Kinder lieber draußen spielen als vor dem Computer sitzen? Weil das Kind in einer Symbolwelt spielt. Das ist nicht die Welt, in der es tatsächlich lebt. Fernsehen und Computer bieten die Illusion, das Gewünschte sofort zu bieten. Menschliche Reife hingegen liegt in der Fähigkeit, Befriedigung hinauszuzögern, nicht immer gleich das Ziel zu erreichen. Wenn der Mensch diese Fähigkeit verliert, ist das eine Katastrophe.
  8. * Hat das Computerzeitalter Denken und Sprache beeinflußt? Auf jeden Fall. Die Sprache ist das Instrument, das bestimt, welche Aspekte der Welt wir überhaupt sehen. Der Computer und die Netzwerke werden wie jede übergreifende Idee zu neuen Metaphern.
  9. * Welchen Einfluß hat(te) diese Entwicklung auf den Begriff der Zeit? Die Möglichkeit, Nachrichten, die uns überwältigen, zu interpretieren, sind wegen des neuen Charakters der Zeit sehr reduziert. Und obwohl man heute Mikro- und Nanosekunden messen kann, was vor 50 Jahren noch unvorstellbar war, kann man beispielsweise erst jetzt, 50 Jahre danach, über die NS-Zeit reden.
    (redigiert aus: http://www2.tagesspiegel.de/archiv/1999/02/28/in-ge-4112.html)

3. Über die Märchen und Mythen der Computerei (Berlin, August 1998; Gestaltung und Hervorhebungen von mir)

[...]  Ich freue mich, weil ich hoffe, daß meine Stimme nun endlich, vielleicht zum ersten Mal, nicht nur gehört, sondern sogar verstanden wird.

  1. Meine Versuche, die vielen Computer-Mythen zu entlarven, die fast jeder glaubt, die aber doch bloß Märchen sind. Sie verstopfen den Geist. Wie der große amerikanische Philosoph William Rogers sagte: "Es sind nicht die Sachen, die wir nicht wissen, die uns in die Irre führen. Es sind die vielen Sachen, die wir wissen, die aber nicht wahr sind."
  2. Ich habe mal geschrieben, daß eine Zeit kommen würde, in der man Informatikern und anderen Computer-Leuten mit demselben Mißtrauen begegnen wird wie schon Nuklearphysikern und Ingenieuren von Atomkraftwerken.
  3. [...] Tatsächlich [...] ist die Software, mit der wir arbeiten, in langen, evolutionären Verfahren entstanden. Sehr viele haben praktisch anonym dran mitgewirkt. Es ist Unsinn, Autoren zu vermuten, wo keine Spuren von ihnen existieren. Schon der Besitzer eines neuen PCs, ausgerüstet etwa mit Windows 98, erkennt bald, daß niemand dieses Betriebssystem (oder irgendein anderes) wirklich durchschaut. Auch nicht das Textverarbeitungsprogrammm oder irgendeine andere Anwendung auf seiner Festplatte.
  4. Nehmen wir das Gerücht: "Der Computer macht nur, was wir ihm sagen." Wer ist "wir"? Wer sagt einem Computer, was er zu tun hat? Der naive Nutzer lernt schnell, daß nicht er es ist, dessen Anweisungen der Computer befolgt. Er arbeitet mit Programmen, deren Befehle er nicht versteht, und muß immer wieder zur Kenntnis nehmen, daß der Computer anders reagiert, als er soll.
  5. Na ja, und dann soll der Computer Zeit sparen helfen. Selbst Leute, die es besser wissen, erzählen dieses Märchen in vollem Ernst weiter. Dann schreiben sie einen Brief am Computer und nehmen die Zeit, die sie mit endlosen "Verbesserungen" verschwenden, überhaupt nicht wahr.
  6. Die reichste Quelle für Nonsens aber, den fast jeder glaubt, ist das Internet. Das gesamte Wissen der Menschheit wäre im Internet gespeichert. Jeder könnte es finden und nutzen. In der dunklen Zeit vor dem Computer wurden einem teure Enzyklopädien mit diesen Worten angedreht, die dann im Bücherregal verstaubten. Mit den Internet-Anschlüssen zu Hause wird es ähnlich enden. Weil es mühsam ist, eine gute Frage zu stellen, um das zu finden, was man sucht. Fragen sind Experimente. Sie müssen entworfen werden - wie Experimente in den Naturwissenschaften. Man muß schon viel wissen, um eine gute Frage zu stellen! Und Wissen kann nicht wie von einer Speisekarte bestellt werden.
  7. [...] Vielleicht sind wir sogar schon auf dem Weg, den Unsinn zu stoppen, Schulen mit Computern vollzustopfen. Dieser Gedanke allein macht mir schon Mut.
    (Gekürzt aus: http://www.frank-flegel.de/laber/pages98/weizen.htm)

4. Thesen zu Mensch und Maschine (1998)

  1. Wesentlich ist, daß der Mensch in einer menschlichen Gesellschaft sozialisiert ist. Wenn ein Computer überhaupt sozialisiert ist, dann doch ganz anders. Er hat keinen menschlichen Körper. Ein wichtiger Teil unserer Sozialisation ist die Wahrnehmung des eigenen Körpers und der Körper anderer Menschen.
  2. Ich glaube nicht, daß ein Gerät funktionieren kann wie ein menschliches Gehirn. Die Erfahrungen, die ein menschliches Gehirn sammelt, sind einzigartig. Zur Sozialisation gehören etwa die biologischen Bedürfnisse eines Menschen. Nehmen wir als Beispiel den Durst. Dieses Bedürfnis teilen wir Menschen mit vielen Tieren. Nun hat eine Maschine sicher auch Bedürfnisse, allerdings keine menschlichen. Eine Maschine hat keinen Durst.
  3. Wir können Maschinen herstellen, die Emotionen und ein Körpergefühl haben. Aber das sind keinen menschlichen Emotionen und das ist kein menschliches Körpergefühl. Obwohl diese Empfindungen menschlichen ziemlich ähnlich sein können.
  4. [...]die Zielrichtung der Forschung in der Künstlichen Intelligenz hat sich in den letzten fünf bis zehn Jahren radikal geändert. Vorher war die KI nur die Lösung kleiner Spielzeugprobleme. Jetzt ist man weiter. Mich stört der Größenwahn zu glauben, man könne so etwas wie einen künstlichen Menschen
  5. herstellen. [...] Solche Visionen, etwa wie Hans Moravec sie in seinem Buch "Mind Children" beschreibt, setzen das Ende der Menschheit voraus. In diesen Ansätzen zeigt sich eine Verachtung des menschlichen Wesens.

(Redigiert aus: http://www.gmd.de/pointer/2-98/weizenbaum.html)

5. "Es ist Zeit, Alarm zu schlagen" (1998)

"Ideen haben eine Macht. Auch Ideen, die nicht realisierbar sind, haben eine Macht. Das sollten Sie hier in Deutschland besonders deutlich wissen. Es gab einst falsche Ideen, die in Deutschland ernst genommen wurden. Die Konsequenz dieser Ideen waren 40 Millionen Leichen. Das hatte mit dem Menschenbild zu tun. Der Eifer, mit dem die Ideen von Moravec begrüßt werden, erschreckt mich – und es gibt viele die glauben, daß wir die umsetzen können. Das verrät etwas. Ebenso die Aussage von Minsky, daß Gott ein mittelmäßiger Ingenieur war, mit vielen Schwächen, wie Schlafen und Tod. Nun seien wir in der Lage, in die Evolution einzugreifen. Ein Roboter hätte diese Schwächen nicht. Das zeigt eine Verachtung des biologischen Lebens und des menschlichen Körpers. ... Es ist Zeit, Alarm zu schlagen. Ich erinnere mich an Treffen vor 25 Jahren, wo wir über heute nachgedacht haben. 25 Jahre sind keine lange Zeit. Sie werden 2025 noch erleben. Wir müssen jetzt anfangen zu fragen: 'Wollen wir diese Entwicklung in der KI?'; Eine öffentliche Debatte über Robotik muß jetzt beginnen."
(Quelle: http://www.gmd.de/pointer/2-98/weizenbaum.html)

Links:

  1. Informationen und Kommentare zu JW
  2. Joseph Weizenbaum ­ Ein Intellektueller als Informatiker verkleidet (zum KI-Programm "Eliza")
  3. Eliza, the best known AI program in the world: Beschreibung und Downloads
  4. Eliza als Javascript

Wird ergänzt * Auswahl, Vorwort, Ergänzungen (c) Dr. Wolfgang Näser, MR, 29.7.2k2 ff.; Stand 16.1.2007