Textsorte Besinnungsaufsatz:

Though this be madness, yet there is method in it - Gedanken über die "Zonengrenze"

W. Näser, 30.11.1960)

VORBEMERKUNG: Obwohl es etwas exotisch anmuten mag, stelle ich nachfolgenden Text ins Netz - zumal die von ihm repräsentierte Spezies bislang fehlte. Ich war damals Schüler der O II S (Obersekunda des Sprachlichen Zweigs) an der Christian-Rauch-Schule, einem Realgymnasium im kleinen nordhessischen Arolsen. Unser Deutschlehrer war der "Direx", Oberstudiendirektor Ernst Gemeinhardt, ein ebenso ernst wie distinguiert wirkender, Wagner liebender Konservativer, was jedoch nicht etwa hieß, daß es in seinem auf höchstem Niveau gestalteten Unterricht keinen Pluralismus der Meinungen gab. Wir konnten vielmehr unsere Ansichten tabulos äußern: wichtig allein war ihm, daß es in einem möglichst guten Deutsch geschah.

Fünfzehneinhalb Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatten wir einen Vortrag zur sogenannten Zonengrenze gehört, die noch mitten im Kalten Krieg so gut wie alle familiären und kulturellen Bande zwischen West- und, wie man damals sagte, Mitteldeutschland durchschnitt. Nur sieben Jahre waren vergangen seit dem blutig niedergeschlagenen Ostberliner Arbeiteraufstand vom 17. Juni und weitere zehn Monate trennten die deutsche Geschichte vom Bau der Berliner Mauer, des von Ulbricht und seinen Erben so genannten "Antifaschistischen Schutzwalls".

Meine Beobachtungen und Aussagen gründeten sich zum einen auf den aufmerksamen "Genuß" des "Deutschen Fernsehfunks", dessen Ausstrahlungen vom Sender Brocken ich seit 1959 mit bescheidenem Aufwand so gut wie möglich zu empfangen suchte. Es war die Zeit der Bunten Abende mit Heinz Quermann, der allmontaglich ausgestrahlten Dritte-Reich-Filme mit dem von Karl-Eduard von Schnitzler moderierten Haß-Magazin "Der schwarze Kanal" im Gefolge. So wurde damals das "Ostfernsehen" zum lebendigen Anschauungsunterricht eines Staates, der in seinen Massenveranstaltungen und Militärparaden stark an das soeben überwundene "Dritte Reich" erinnerte, für dessen Geschichte wir lange vor dem US-amerikanischen Holocaust-Film bereits sensibilisiert worden waren (auch durch hervorragende Antrikriegsfilme wie "Hunde, woll ihr ewig leben - Stalingrad", "Des Teufels General" und "Rosen für den Staatsanwalt"); zudem war im Mai 1960 der Organisator der fabrikmäßigen Judenvernichtung, Adolf Eichmann, vom israelischen Geheimdienst aufgespürt und verhaftet worden. Andererseits wurden erst viel später Fakten über ehemalige Wehrmachtsgenerale und vergangenheitsbelastete Politiker wie den im Aufsatz erwähnten Globke bekannt, die ein Umdenken nötig werden ließen.

Zum zweiten hatte ich Gelegenheit, den Wahnsinn des "Eisernen Vorhangs" öfter aus der Nähe zu erleben: mein Vater belieferte damals die Straßenbauämter auch im sogenannten Zonenrandgebiet mit Verkehrszeichen und sonstigem Baubedarf - Gelegenheit genug, die Grenzanlagen in Augenschein zu nehmen. Damals waren sie noch primitiv im Vergleich zu dem, was nach Abschluß des sogenannten Grundvertrags (oder, wie man in der damit als Staat anerkannten DDR sagte, Grundlagenvertrags) der neuen Regierung Brandt geschah: sobald die jährlichen Transitgebühren von 600 Millionen DM flossen, wurden die Holztürme durch stabile Betonbauten ersetzt und neben dem (täglich neu umgepflügten, stark verminten) "Todesstreifen" weitere, furchterregende Hindernisse errichtet, die die "friedliebende DDR" zu einem einzigen Gefängnis werden ließen. Da ich nach meiner Lizenzierung im November 1966 als Funkamateur es vorzog, diesen Staat nicht zu besuchen (Touristen wurden öfter als vermeintliche Spione festgenommen und mußten dann für harte Devisen von 50.000 DM oder mehr pro Person freigekauft werden), hatte ich erst im März 1990, nach den ersten freien DDR-Wahlen, Gelegenheit, mit meinem alten Mercedes und voller KW-Mobilfunkausrüstung Marburgs Partnerstadt Eisenach zu besuchen. Der Anblick der noch voll vorhandenen Grenzanlagen war ebenso schockierend wie niederschmetternd: so sah ein KZ von außen aus, dachte ich und war froh, nach mehreren Stunden wieder auf "westlichem" Boden zu sein.

Mein vor 46 Jahren (!) entstandener Aufsatz möge ein Beispiel dafür sein,

Zugleich ist er ein kleiner Beitrag "wider das Vergessen" - eine solche Losung gilt gerechterweise für jede Art von Wahnsinn und Verbrechen, die unter politisch-ideologischem Deckmantel zur Unterdrückung von Menschen angezettelt und begangen werden.

W. Näser, Marburg, 16.11.2006


Gliederung: A. Geschichtliche Entwicklung bis zur "Zonengrenze"
B. Die Zonengrenze bedeutet
     I. eine unrechtmäßige Spaltung des deutschen Volkes
        1. wirtschaftlich
        2. ideologisch
     II. politische Unfreiheit und Knechtschaft in der "DDR"
    III. Trennung von den Verwandten
    IV. eine ständige Gefahr für die westdeutsche Grenzbevölkerung
     V. einen unnötigen und sehr kostspieligen Aufwand von Polizei, Grenzschutz und Militär auf beiden Seiten
C. Die einzig mögliche Lösung des Problems durch ein geeintes Europa

Kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde auf der Konferenz von Jalta beschlossen, das am Boden liegende, völlig besiegte Deutschland in vier "Zonen" aufzuteilen. Damals ahnte man noch nicht, welche schwerwiegenden Folgen diese Teilung hatte. 1945 vertrauten die Amerikaner blindlings den Russen, als sie ihnen im Siegestaumel in die Arme fielen; bald darauf aber zeigten die Russen ihren wahren Charakter: mit Schrecken und ohnmächtig betrachtete die freie Welt, wie die Russen aus der "sowjetisch besetzten Zone" einen unfreien, diktatorischen Staat zu formen begannen. Es fing an mit der Vereinigung der KPD und SPD zur SED, der "Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands", und der Gleichschaltung aller übrigen Parteien, z.B. der CDU. 1949 wurde die sogenannte "DDR" gegründet. Immer mehr wurde die Zonengrenze nach dem freien Westen hin abgeriegelt und gesichert. Zugleich erhöhte sich der Flüchtlingsstrom der mitteldeutschen Bevölkerung zur Bundesrepublik schlagartig; denn immer mehr wurde die Bevölkerung des "Arbeiter-und-Bauern-Staates" von gewissenlosen Funktionären tyrannisiert. "Though this be madness, yet there is method in it", sagt Shakespeare in seinem "Hamlet". Warum erinnert uns dieses Zitat an die sogenannte "DDR"? Was bedeutet die Zonengrenze für beide Teile Deutschlands?

Welch eine große wirtschaftliche Macht würde ein vereinigtes Deutschland darstellen! Man braucht nur an die wertvollen Bodenschätze und die bedeutenden Industrieanlagen zu denken, die sich vor dem Zweiten Weltkrieg in Mitteldeutschland befanden, um sich darüber klarzuwerden, was dies bedeutet. Die östlichen Machthaber und die Regierung von Pankow aber legen keinen Wert auf eine Einigung: für sie bestehen "zwei deutsche Staaten". So hat sich die Wirtschaft Mitteldeutschlands unabhängig von der der Bundesrepublik entwickelt.

Wie weit aber die mitteldeutsche Bevölkerung, besonders die Jugend, ideologisch von uns entfernt ist, kann man sich kaum vorstellen. Es ist leider eine feststehende Tatsache, daß der größte Teil der Jugend in der "DDR" im Falle einer Wiedervereinigung nichts mit uns zu tun haben will! Wer dies nicht glaubt, sollte sich nur einmal mit einem Jugendlichen aus der sogenannten "DDR" unterhalten. Mechanisch und wie aus der Pistole geschossen kommen die Argumente, die man ihnen in zahlreichen "Schulungen" immer wieder eingepaukt hat. Sie hören ja nichts anderes als Ausdrücke wie "Massenmörder Oberländer", "SA-Mann Schröder", "Adenauer-Clique", "Bonner Hitlergenerale", "Bonner Militaristen und Revanchisten". Unsummen werden täglich für die Propaganda durch Rundfunk, Fernsehen, Film, Zeitschriften und Bücher ausgegeben. Wer einen Fernsehapparat besitzt, sollte ab und zu einmal auf den Sendekanal des "Deutschen Fernsehfunks" umschalten, um zu sehen, wie die ostdeutsche Jugend mit Propaganda geradezu bombardiert wird. Schauen wir uns doch einmal ein west- und ein mitteldeutsches Wörterbuch an! Freiheit, Toleranz, Abrüstung, Frieden usw. haben dort völlig andere Bedeutungen als bei uns. Aaalglatt sind die Politiker von Pankow, die mit ihrem "Parteichinesisch" die Begriffe, die uns hoch und heilig sind, für ihre schmutzigen Zwecke mißbrauchen. Normalerweise müßte die mitteldeutsche Bevölkerung doch mißtrauisch werden, wenn sie von den "Bonner Militaristen" hört und überlegt, daß es ja auch in der "DDR" eine eigene Streitmacht gibt. Was sagt Pankow dazu? Die Bundesrepublik benutze ihre Wehrmacht nur dazu, "um ihre aggressiven Pläne gegen die freiheitliche DDR durchzusetzen". Die DDR aber habe ihre Streitmacht nur "zur Aufrechterhaltung des Friedens und der Freiheit in der DDR." Daß Pankow mit dieser unglückseligen Spaltung Ernst meint, sieht man nicht nur an zerstörten Straßen und abgerissenen Bahnschienen, sondern auch an der Einführung der sogenannten Spalterflagge vor rund einem Jahr.

Wie wird es wohl der Bevölkerung Mitteldeutschlands ergehen? So fragen wir uns, wenn wir vor Stacheldraht und Zehnmeterstreifen, den Symbolen der furchtbaren Spaltung, stehen. Sehen wir zufällig einen Bauern, der drüben das Feld umpflügt, so brauchen wir uns nach der Antwort nicht zu fragen. Dieser Bauer dort drüben, Deutscher wie wir, wagt nicht einmal, zu uns herüberzusehen und uns zu grüßen, denn er wird dauernd von der Volkspolizei beobachtet. Überall an der Grenze sind Baumbeobachter, Horchposten und Volkspolizei in ständiger Bereitschaft. Unzählige Wachttürme und Bunker an der von der Ostsee bis nach Bayern reichenden Zonengrenze hindern die politisch unfreien Bewohner des "Arbeiterstaates" daran, den Weg in die Freiheit zu wählen. Und doch wagen immer wieder Tausende, sich den Weg in die Freiheit zu bahnen. Alles lassen sie im Stich, in diesem Augenblick gibt es nur Tod oder Freiheit.

Erschüttert sind wir, wenn wir in der Zeitung von der Unfreiheit der Bewohner der "DDR" lesen. Wie furchtbar und unmenschlich müssen die Jugendlichen sein, die ihre eigenen Eltern denunzieren, von denen sie mühsam ernährt und großgezogen wurden. Was man drüben unter Freiheit versteht, sieht man, wenn man bei Bekannten sich einmal unbeabsichtigt etwas gehen läßt und etwas gegen die Regierung sagt. Überall sind bezahlte Spitzel, oft sogar unter den eigenen Verwandten und Bekannten. Was man bei uns unter Meinungsfreiheit versteht, ist dort nur eine leere Phrase. Rücksichtlslos setzt Pankow seine Propaganda ein, um die Bewohner der "DDR", einst freie Menschen, zu willenlosen Maschinen umzuformen, die bedenkenlos den Willen des Staates erfüllen. Individuelle Meinungen werden nicht geduldet. Begriffe wie "Arbeitsproduktivität", "Fünfjahresplan", "Plansoll", "Kolchose", "Brigade der sozialistischen Arbeit", "Jungaktivist" usw. beherrschen den Alltag. Von der Wiege bis zur Bahre befindet sich der Bürger des "Arbeiter-und-Bauern-Staates" in der erbarmungslosen Zwickmühle des Staatsapparates, vom "Jungen Pionier" bis zum Angehörigen einer "Betriebskampfgruppe". Morgens liest man in der Zeitung "Der Sozialismus siegt". In der Schule hört man immer wieder das gleiche. Am Abend geht es zur "FdJ" oder zum "Schulungsabend". In den Ferien "hilft die Bevölkerung des Arbeiter-und-Bauern-Staates den Bauern bei der Einbringung der Ernte" mit dem Vorsatz: bis zum Jahre X "wollen wir Westdeutschland in der Herstellung von Y und Z einholen und überflügeln". Abgedroschene Phrasen, die wir alle kennen.

Nie werden die Propagandisten Pankows den freien Westen von der Freiheit in der "DDR" überzeugen können, schon gar nicht, wenn sie immer wieder die alte Platte auflegen: "Hier beginnt die Zone ohne Atombewaffnung und Atomkanzler" - "Steckbrief gegen Globke, den Mörder von ... Juden". Solche Plakate, an der Grenze aufgestellt, würden keinen Bürger der freiheitlichen Bundesrepublik, außer undurchsichtigen asozialen Elementen, dazu verlocken, sein Leben in der "friedliebenden DDR" zu verbringen.

Es ist für uns leichter, nach Amerika zu fliegen oder eine Schiffsreise nach Australien zu unternehmen als zu Verwandten in die "DDR" zu fahren. Zunächst benötigt man eine Einreisegenehmigung, dann eine Aufenthaltsgenehmigung, die aber nur jeweils für einen Ort gilt. Immer neue Bestimmungen werden von Pankow erdacht, die westdeutschen Bürgern, den "Agenten Adenauers", die Einreise in die "DDR" erschweren und fast unmöglich machen. Oft werden Leute gefaßt, die "Republikflucht" begangen haben und noch einmal in die "DDR" zurückgekehrt sind, um ihre Verwandten zu holen. Berlin ist die einzige Stadt, in der man noch den Weg in die Freiheit wählen kann. Deswegen möchten die ostzonalen Machthaber Westberlin, den Eckpfeiler der Freiheit, allzu gern in die "DDR" eingliedern. Nachdem den Sowjets die Blockade mißlungen ist und gezeigt hat, wie sehr wir uns auf die Amerikaner verlassen können, ist ihnen Willy Brandt, der Regierende Oberbürgermeister von West-Berlin, der sich immer wieder selbstlos für das Wohl der deutschen Hauptstadt einsetzt, ein Dorn im Auge.

Man liest nicht selten in der Zeitung, daß harmlose westdeutsche Bürger von Volkspolizisten an der Grenze aufgegriffen und oft mehrere Tage lang pausenlos verhört wurden. Mehrere Jugendliche schon wurden an der Grenze von Volkspolizisten erschossen. Eines ihrer dreistesten Stücke leisteten sich Volkspolizisten, als sie schwerbewaffnet in ein westdeutsches Dorf eindrangen, das unmittelbar an der Zonengrenze liegt. Wie kann das nur geschehen? fragen wir uns immer wieder. Um dies zu verstehen, müssen wir einmal einen Blick auf die Landkarte werfen und den Verlauf der Grenze verfolgen. Diese unglückselige Grenze ist nicht etwa eine gerade Linie; sie zieht sich vielmehr in unzähligen Windungen, Zickzackformen und Einschnitten von der Ostsee bis nach Bayern. Noch unglücklicher ist, daß der Stacheldraht nicht immer mit der tatsächlichen Grenzziehung übereinstimmt. Oft ist der Stacheldraht etwa 50 m hinter der eigentlichen Grenze gezogen, so daß sich vor dem Stacheldraht und dem Zehnmeterstreifen noch ein schmaler Streifen "ostzonales" Gebiet befindet. Auf den, der in diesen Teil des "Territoriums der DDR" eindringt, darf die Volkspolizei schießen. Auf Zivilisten wird zunächst ein Warnschuß abgefeuert, dann scharf geschossen; auf Uniformierte, z.B. die Polizei, wird sofort scharf geschossen. Auf die Festnahme jeder Person, die eine solche "Grenzverletzung" begeht, ist eine bestimmte Kopfprämie ausgesetzt. So sind schon Fälle vorgekommen, in denen z.B. Jugendliche eine solche "Grenzverletzung" begingen und teilweise angeschossen, teils in die "DDR" verschleppt wurden.

Andererseits sind schon oft Volkspolizisten auf westdeutsches Gebiet gegangen; auf sie wurde nicht geschossen. Mit solchen rücksichtslosen Menschen geht man viel zu sanft um.

Es blieb leider nicht immer dabei, daß Volkspolizisten harmlose Menschen verschleppten; seit 1950 sind noch etwa zwanzig Morde an der Zonengrenze unaufgeklärt. Oft wurden Frauen in die "DDR" verschleppt, dort verhört und um Mitternacht an der Grenze wieder freigelassen. So sind nicht selten Frauen an der Grenze vergewaltigt und anschließend auf grausame Weise ermordet worden.

Eine andere große Gefahr für die westdeutsche Bevölkerung sind die "Pendler". Wir müssen uns ständig vor Augen halten, daß sich 6.000 Ostagenten in der Bundesrepublik dauernd aufhalten und weitere 6.000 laufend ausgetauscht und erneuert werden. Wie oft geben sich von Pankow bezahlte Agenten als Flüchtlinge aus und gelangen so in die Bundesrepublik, wo sie ungehindert ihre Zersetzungsarbeit und Spionage betreiben können, nicht zuletzt weil die deutsche Polizei nicht wachsam genug ist und den Lebenslauf eines solchen "Flüchtlings" genauestens prüft.

Beobachten wir einmal, wie groß der Polizei- und Verwaltungsaufwand um die Zonengrenze herum ist, so ist das Ergebnis haarsträubend und beunruhigend. Auf der Seite der "DDR" reihen sich zahllose Kasernen und Bunker aneinander, als wären sie für die Ewigkeit gebaut. Überall lauern Volkspolizisten hinter Bäumen und Büschen, im Wald befinden sich unzählige Horchposten und Baumbeobachter; Tag und Nacht patrouilliert die Volkspolizei und auch auf unserer Seite der Grenzschutz. Auf der Seite der "friedliebenden DDR" strecken schwere Maschinengewehre in großen Bunkern drohend ihre Rohre zum Stacheldraht hin; auch auf unserer Seite sind Maschinengewehre in Stellung; hinter Bäumen, Büschen und im Wald versteckt liegen amerikanische Soldaten und beobachten die Grenze, bereit, jederzeit die Freiheit zu verteidigen. Überall auf den Wachttürmen sind Volkspolizisten dabei, das freie Feld und den Zehnmeterstreifen mit starken Prismengläsern zu beobachten, die gefährlichen russischen Maschinenpistolen stets in Bereitschaft. An der ganzen Art, wie die Machthaber von Pankow die Grenze abgesichert und zu einem Bollwerk des Kommunismus gemacht haben, erkennt man, daß sie Ernst meinen, bitteren Ernst. Für sie existieren zwei deutsche Staaten. Niemals würden sie auch nur einen Schritt nachgeben!

Von unserer Seite aus ist die Grenze absichtlich nur mit Schildern abgesichert worden, um das Provisorische und Sinnlose dieser Grenzziehung vor Augen zu führen. Wer diese Schilder nicht beachtet, tut dies auf eigene Verantwortung. Jeder westdeutsche Bürger kann sich frei entscheiden, ob er lieber hier oder drüben leben will.

Nach allen den Erfahrungen, die wir über die Zonengrenze gemacht haben, steht sie als fast unlösbares Problem vor unseren Augen. Vorläufig noch zeigt Chrustchew der westlichen Welt mit allen Mitteln, daß er nicht bereit ist, auch nur einen Zentimeter nachzugeben. Welches ist nun eine Lösung zu diesem Problem, dem gegenüber der größte Teil der bundesdeutschen Bevölkerung und der freien Welt skeptisch und pessimistisch gegenübersteht? Womit könnte man eine Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit erreichen? Ich will mich der Meinung des Vortragenden anschließen: Nur durch ein vereintes Europa, in dem auch die Ostblockstaaten (z.B. die CSR, Polen usw.) enthalten sind, kann dieses Problem gelöst werden. Denn nur ein vereinigtes Europa könnte gegen die beiden großen Machtblöcke USA und UdSSR bestehen und mit ihnen konkurrieren. Es ist und bleibt aber eine große Frage, ob ein vereintes Europa in diesem Sinne jemals zu erreichen ist. Es steht fest, daß dies im Augenblick unmöglich ist. Zwar existiert die Nato, gegen ein vereintes Europa aber würde sich jeder Politiker im Ausland widersetzen (schauen wir nur einmal nach England und Frankreich!). Aber trotz allem wollen wir den Mut nicht verlieren und alle unsere Kräfte einsetzen für ein friedliches, wiedervereinigtes Deutschland, in dem es nur noch freie Bürger gibt und in dem jeder frei über sich verfügen kann. Es wird ein Staat sein, in dem die Kultur, nicht die Partei und die Propaganda regiert, ein Staat, in dem jeder anständige Bürger sich frei entfalten und dem Wohle der Menschheit dienen kann.

Kommentar

Nach so langer Zeit erscheint mir meine damalige Sprachgebung etwas fremd - immerhin sind rund anderthalb Generationen vergangen, hat die Geschichte und damit unsere Denk- und Redeweise einen tiefgreifenden Wandel vollzogen.

Es ist eine sehr polarisierte Sprache - mitten im Kalten Krieg die erklärte Gegenposition zum kommunistisch-diktatorischen Gegenüber und der Versuch, aus jugendlichem Umgestüm und informationsbedingtem Teilwissen heraus eine zweifellos vom damaligen westlichen Dogma (-> Hallstein-Doktrin) beeinflußte Stellungnahme zu artikulieren. Manches ist noch ungeschliffen. Wörter wie Freiheit werden oft wiederholt und wirken daher für heutige Begriffe etwas aufdringlich. Das Ganze hat eher den Charakter einer Rede als den eines Essays. Mündlich vorgetragen, würde es seine eindringliche Wirkung nicht verfehlen.

Nach 46 Jahren erscheint vieles aus der damaligen Geschichte nebulös; Elend und Unterdrückung "unserer Brüder und Schwestern jenseits des Eisernen Vorhangs" sind überwiegend vergessen. Die bald nach der Wende aufkommende "Ostalgie" gipfelte in Büchern wie "Am anderen Ende der Sonnenallee" (1999) oder Filmen wie "Good bye Lenin" (2003), in denen die frühen Todesurteile gegen Regimefeinde, die Weiterbenutzung ehemaliger Konzentrationslager und das an Naziterror erinnernde Grauen in Stasi-Kellern und dem berüchtigten Zuchthaus von Bautzen ausgespart werden. "Es war nicht alles schlecht." Drüben, heißt es tröstend, habe man trickreich versucht, das Westfernsehen zu empfangen, sofern man nicht in einem "Tal der Ahnungslosen" gelebt habe. Und man habe - wenn möglich - auch den "American Way of Life" zu rezipieren versucht. Und im damals zum Gedenken an den 17. Juni 1953 in bundesrepublikanischen Schulen gezeigten Film "Frage 7" wird die diktaturtypische Gesinnungsschizophrenie mit dem Bild des Radieschens verglichen: "Außen rot - innen weiß". Ganz so einfach darf man es sich jedoch nicht machen. Die von mir erwähnten Entsprechungen zwischen der braunen und (neuen) roten Diktatur waren augenfällig, und die inszenierte Massenverführung blieb sicher nicht ohne Wirkung auf die politisch unbeschriebenen jungen Gemüter in den FdJ-Uniformen, die sich anläßlich von Feiertagen vor Mikrofonen emsig bemühten, Loblieder auf die politische Führung zu singen und freiwillige Selbstverpflichtungen abzugeben. Vergessen ist auch, daß nach der Wende einst überzeugte Kommunisten, denen bewußt wurde, daß sie einer 40-jährigen Lebenslüge aufgesessen hatten, Selbstmord begingen. Ein wenig von der bedrückenden Stimmung und der Daseinstragik in der damaligen "Zone" soll(te) mein bescheidener Aufsatz vermitteln - damals wie heute.

Ergänzungen vorbehalten. (c) W. Näser * Stand: 20.11.2006