Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002

Frisch, Max (1911-1991): Aus: Homo Faber (1957)

Der Architektensohn kommt am 15. Mai 1911 in Zürich zur Welt. Nach dem Besuch des Realgymnasiums studiert er ab 1930-32 Germanistik, ist dann Freier Mitarbeiter bei der Neuen Zürcher Zeitung und der Zürcher Illustrierten; 1933 bereist er den Balkan und Südosteuropa, wird 1935 in Deutschland mit der NS-Rassenideologie konfrontiert. Ab 1936 Architekturstudium an der ETH Zürich (Diplom 1940); im 2. Weltkrieg 650 Dienst-Tage als Kanonier; 1941 Anstellung beim Architekten Prof. William Dunkel; 1942 1. Preis bei Architekturwettbewerb, (bis 1955) eigenes Büro, (bis 1959) Ehe mit der Architektin Constance von Meyenburg; 1947 begegnet er Bertolt Brecht, Friedrich Dürrenmatt und Peter Suhrkamp; 1948 Bekanntschaft mit der dt. Schauspielerin Helga Roloff; MF reist nach Berlin, Prag und Warschau, nimmt zusammen mit Le Corbusier, Picasso, Karl Barth, François Bondi in Wroclaw (Breslau) teil am »Congrès mondial des intellectuels pour la paix«; 1951 Stipendiat der Rockefeller Stiftung (New York, Chicago, San Francisco, Los Angeles und Mexiko). 1956 Teilnahme an der International Design Conference in Aspen (Colorado); Referat Why don't we have the cities we need? , Reise nach Mexiko und 1957 nach Griechenland und in die arabischen Staaten; 1958(-1963) enge Beziehung mit Ingeborg Bachmann, 1960 Übersiedlung nach Rom, 1965 nach Berzona (Tessin); 1966 Reisen nach Moskau, Leningrad und Odessa; Vortrag vor kantonalen Fremdenpolizeichefs zum Thema »Überfremdung«; Bekanntschaft mit Gerhard und Christa Wolf; (bis 1979) Ehe mit Marianne Oellers; 1969 Reise nach Japan. 1970 Reise in die USA, Gast bei Henry A. Kissinger. 1972 in Berlin; 1975 Montauk; Reise nach China. 1981 Gründung des Max-Frisch-Archivs an der ETH Zürich; 1987 Einladung zum von Mikhail Gorbatschow veranstalteten »Forum für eine atomwaffenfreie Welt und das Überleben der Menschheit« nach Moskau. Seit 1984 in Zürich, wo er am 4.4.1991 nach langem Krebsleiden stirbt.

Werke: Jürg Reinhart. Eine sommerliche Schicksalsfahrt (1934), Antwort aus der Stille (1937), Blätter aus dem Brotsack, das Tagebuch eines Soldaten (1940), J'adore ce qui me brûle oder Die Schwierigen (1943), Bin oder Die Reise nach Peking (1945), Santa Cruz; Die Chinesische Mauer; Nun singen sie wieder (1946), Tagebuch 1946-1949 (1950), Moritat Graf Öderland (1951), Herr Biedermann und die Brandstifter und Rip van Winkle (als Hörspiele im BR 1953), Stiller (1954), Homo Faber (1957), Biedermann und die Brandstifter (Theaterstück, 1958), Andorra (1961), Mein Name sei Gantenbein (1964), Biografie: ein Spiel (1966), Wilhelm Tell für die Schule (1971), Tagebuch 1966–1971 (1972), Dienstbüchlein (1974), Triptycon (1979), Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän (1979), Blaubart (1982), Forderungen des Tages. Porträts, Skizzen, Reden 1943–1982 (1983); Rede Am Ende der Aufklärung steht das goldene Kalb (1985), Streitschrift Schweiz ohne Armee? Ein Palaver (1989), Jonas und sein Veteran (1989); Schweiz als Heimat? Versuche über 50 Jahre (1990)
Auszeichnungen: 1939 Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis der Stadt Zürich, 1945 Dramenpreis der Welti-Stiftung; 1955 Schleussner-Schueller-Preis des Hessischen Rundfunks für das Hörspiel Der Laie und die Architektur; 1958 Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung; Literatur-Preis der Stadt Zürich; Charles-Veillon-Literaturpreis; 1965 Man's Freedom-Prize der Stadt Jerusalem, 1974 Großer Schiller-Preis der Schweizerischen Schillerstiftung; 1976 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels; 1982 Ehrendoktor der City University New York, 1986 Neustadt-Literaturpreis der University of Oklahoma (das Preisgeld von 25.000 $ stiftet Fr. für den Bau einer Schule in Nicaragua); 1987 Ehrendoktor der TU Berlin, 1989 Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf.

Zum Text: Extrem gegensätzlich das Jahr 1957, in dem der "Homo Faber" erscheint: auf der einen Seite die konservativ-heile und ziemlich spießige Welt des bundesrepublikanischen Wirtschaftswunders, andererseits die vom Rock'n Roll und James Dean geprägte neue Jugend-Generation der Halbstarken und, am 4. Oktober, der Beginn der Raumfahrt mit Sputnik I, dem ersten künstlichen Himmelskörper. 12 Jahre, bevor Albert ROSENFELD mit seinem Werk THE SECOND GENESIS (Die zweite Schöpfung, Düsseldorf 1970) zugleich aufrüttelt und mahnt, schockiert Max Frisch, als Prophet der brave new world, mit manchmal nüchtern-kalter, dann aber poetisch malender, farbenreicher Sprache, er porträtiert, seziert, ver- und entzaubert zugleich. Die nachfolgenden Auszüge mögen dies verdeutlichen. Die Seitenzahlen in [] beziehen sich auf die rororo-Ausgabe Hamburg 1969; Hervorhebungen von mir. W.N.


[17] Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Ich sehe alles, wovon sie reden, sehr genau; ich bin ja nicht blind. Ich sehe den Mond über der Wüste von Tamaulipas - klarer als je, mag sein, aber eine errechenbare Masse, die um unseren Planeten kreist, eine Sache der Gravitation, interessant, aber wieso ein [18] Erlebnis? Ich sehe die gezackten Felsen, schwarz von dem Schein des Mondes; sie sehen aus, mag sein, wie die gezackten Rücken von urweltlichen Tieren, aber ich weiß: Es sind Felsen, Gestein, wahrscheinlich vulkanisch, das müßte man nachsehen und feststellen. Wozu soll ich mich fürchten? es gibt keine urweltlichen Tiere mehr. Wozu sollte ich sie mir einbilden? Ich sehe auch keine versteinerten Engel, es tut mir leid; auch keine Dämonen, ich sehe, was ich sehe; die üblichen Formen der Erosion, dazu meinen langen Schatten auf dem Sand, aber keine Gespenster. Wozu weibisch werden? Ich sehe auch keine Sintflut, sondern Sand, vom Mond beschienen, von Wind gewellt wie Wasser, was mich nicht überrascht; ich finde es nicht fantastisch, sondern erklärlich. Ich weiß nicht, wie verdammte Seelen aussehen; vielleicht wie schwarze Agaven in der nächtlichen Wüste. Was ich sehe, das sind Agaven, eine Pflanze, die ein einziges Mal blüht und dann abstirbt. Ferner weiß ich, daß ich nicht (wenn es im Augenblick auch so aussieht) der erste oder letzte Mensch auf der Erde bin; und ich kann mich von der bloßen Vorstellung, der letzte Mensch zu sein, nicht erschüttern lassen, denn es ist nicht so. Wozu hysterisch sein? Gebirge sind Gebirge, auch wenn sie in gewisser Beleuchtung, mag sein, wie irgend etwas anderes aussehen, es ist aber die Sierra Madre Oriental, und wir stehen nicht in einem Totenreich, sondern in der Wüste von Tamaulipas, Mexico, ungefähr sechzig Meilen von der nächsten Straße entfernt, was peinlich ist, aber wieso ein Erlebnis? Ein Flugzeug ist für mich ein Flugzeug, ich sehe keinen ausgestorbenen Vogel dabei, sondern eine Super-Constellation mit Motor-Defekt, nichts weiter, und da kann der Mond sie bescheinen, wie er will. Warum soll ich erleben, was gar nicht ist? Ich kann mich auch nicht entschließen, etwas wie die Ewigkeit zu hören; ich höre gar nichts, ausgenommen, das Rieseln von Sand nach jedem Schritt. Ich schlottere, aber ich weiß: in sieben bis acht Stunden kommt wieder die Sonne. Ende der Welt, wieso? Ich kann mir keinen Unsinn einbilden, bloß um etwas zu erleben. Ich sehe den Sand-Horizont, weißlich in der grünen Nacht, schätzungsweise zwanzig Meilen von hier, und ich sehe nicht ein, wieso dort, Richtung Tampico, das Jenseits beginnen soll. Ich kenne Tampico. Ich weigere mich, Angst zu haben aus bloßer Fantasie, beziehungsweise fanatisch zu werden aus bloßer Angst, geradezu mystisch.

[77]  Seit ich weiß, wie alles gekommen ist, vor allem angesichts der Tatsache, daß das junge Mädchen, das mich in die Pariser Opéra begleitete, dasselbe Kind gewesen ist, das wir beide (Hanna auch) mit Rücksicht [78] auf unsere persönlichen Umstände, ganz abgesehen von der politischen Weltlage damals, nicht hatten haben wollen, habe ich mit mehreren und verschiedenartigen Leuten darüber gesprochen, wie sie sich zur Schwangerschaftsunterbrechung stellen, und dabei festgestellt, daß sie (wenn man es grundsätzlich betrachtet) meine Ansicht teilen. Schwangerschaftsunterbrechung ist heutzutage eine Selbstverständlichkeit. Grundsätzlich betrachtet: Wo kämen wir hin ohne Schwangerschaftsunterbrechungen? Fortschritt in Medizin und Technik nötigen gerade den verantwortungsbewußten Menschen zu neuen Maßnahmen. Verdreifachung der Menschheit in einem Jahrhundert. Früher keine Hygiene. Zeugen und gebären und im ersten Jahr sterben lassen, wie es der Natur gefällt, das ist primitiver, aber nicht ethischer. Kampf gegen das Kindbettfieber. Kaiserschnitt. Brutkasten für Frühgeburten. Wir nehmen das Leben ernster als früher. Johann Sebastian Bach hatte dreizehn Kinder (oder so etwas) in die Welt gestellt, und davon lebten nicht 50 Prozent. Menschen sind keine Kaninchen, Konsequenz des Fortschrittes: wir haben die Sache selbst zu regeln. Die drohende Überbevölkerung unserer Erde. Mein Oberarzt war in Nordafrika, er sagt wörtlich: Wenn die Araber eines Tages dazu kommen, ihre Notdurft nicht rings um ihr Haus herum zu verrichten, so ist mit einer Verdoppelung der arabischen Bevölkerung innerhalb von zwanzig Jahren zu rechnen. Wie die Natur es überall macht: Überproduktion, um die Erhaltung der Art sicherzustellen. Wir haben andere Mittel um die Erhaltung der Art sicherzustellen. Heiligkeit des Lebens! Die natürliche Überproduktion (wenn wir drauflos gebären wie die Tiere) wird zur Katastrophe; nicht Erhaltung der Art, sondern Vernichtung der Art. Wieviel Menschen ernährt die Erde? Steigerung ist möglich, Aufgabe der Unesco: Industrialisierung der unterentwickelten Gebiete, aber die Steigerung ist nicht unbegrenzt. Politik vor ganz neuen Problemen. Ein Blick auf die Statistik: Rückgang der Tuberkulose beispielsweise, Erfolg der Prophylaxe, Rückgang von 30 Prozent auf 8 Prozent. Der liebe Gott! Er machte es mit Seuchen; wir haben ihm die Seuchen aus der Hand genommen. Folge davon: wir müssen ihm auch die Fortpflanzung aus der Hand nehmen. Kein Anlaß zu Gewissensbissen, im Gegenteil: Würde des Menschen, vernünftig zu handeln und selbst zu entscheiden. Wenn nicht, so ersetzen wir die Seuchen durch Krieg. Schluß mit Romantik. Wer die Schwangerschaftsunterbrechung grundsätzlich ablehnt, ist romantisch und unverantwortlich. Es sollte nicht aus Leichtsinn geschehen, das ist klar, aber grundsätzlich: wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen, beispielsweise der Tatsache, daß die Existenz der Menschheit nicht zuletzt eine Rohstoff-Frage ist. Unfug der staatlichen Geburtenförderung in faschistischen Ländern, aber auch in Frankreich. Frage des Lebensraumes. Nicht zu vergessen die Automation: wir brauchen gar nicht mehr so viele Leute. Es wäre gescheiter, Lebensstandard zu he[79]ben. Alles andere führt zum Krieg und zur totalen Vernichtung. Unwissenheit, Unsachlichkeit noch immer sehr verbreitet. Es sind immer die Moralisten, die das meiste Unheil anrichten. Schwangerschaftsunterbrechung: eine Konsequenz der Kultur, nur der Dschungel gebärt und verwest, wie die Natur will. Der Mensch plant. Viel Unglück aus Romantik, die Unmenge katastrophaler Ehen, die aus bloßer Angst vor Schwangerschaftsunterbrechung geschlossen werden heute noch. Unterschied zwischen Verhütung und Eingriff? In jedem Fall ist es ein menschlicher Wille, kein Kind zu haben. Wie viele Kinder sind wirklich gewollt? Etwas anderes ist es, daß die Frau eher will, wenn es einmal da ist, Automatismus der Instinkte, sie vergißt, daß sie es hat vermeiden wollen, dazu Gefühle der Macht gegenüber dem Mann, Mutterschaft als wirtschaftliches Kampfmittel der Frau. Was heißt Schicksal? Es ist lächerlich, Schicksal abzuleiten aus mechanisch-physiologischen Zufällen, es ist eines modernen Menschen nicht würdig. Kinder sind etwas, was wir wollen, beziehungsweise nicht wollen. Schädigung der Frau? Physiologisch jedenfalls nicht, wenn nicht Eingriff durch Pfuscher; psychisch nur insofern, als die betroffene Person von moralischen oder religiösen Vorstellungen beherrscht wird. Was wir ablehnen: Natur als Götze! Dann müßte man schon konsequent sein: dann auch kein Penicillin, keine Blitzableiter, keine Brille; kein DDT, kein Radar und so weiter. Wir leben technisch, der Mensch als Beherrscher der Natur, der Mensch als Ingenieur, und wer dagegen redet, der soll auch keine Brücke benutzen, die nicht die Natur gebaut hat. Dann müßte man schon konsequent sein und jeden Eingriff ablehnen, das heißt: sterben an jeder Blinddarmentzündung. Weil Schicksal! Dann auch keine Glühbirne, keinen Motor, keine Atom-Energie, keine Rechenmaschine, keine Narkose - dann los in den Dschungel! [...]

[105] "Eigentlich ist sie noch ein Kind", sagte Hanna, - "oder glaubst du, sie ist mit einem Mann zusammengewesen?" [...]
Betreffend Statistik: Hanna wollte nichts davon wissen, wei sie an Schicksal glaubt, ich merkte es sofort, obschon Hanna es nie ausdrücklich sagte. Alle Frauen haben einen Hang zum Aberglauben, aber Hanna ist hochgebildet; darum verwunderte es mich. Sie redet von Mythen, wie unsereiner vom Wärmeersatz, nämlich von einem physikalischen Gesetz, das durch jede Erfahrung nur bestätigt wird, daher in einem geradezu gleichgültigen Ton. Ohne Verwunderung. Oedipus und die Sphinx, auf einer kaputten Vase dargestellt in kindlicher Weise, Athene, die Erinnyen beziehungsweise Eumeniden und wie sie alle heißen, das sind Tatsachen für sie; es hindert sie nichts, mitten im ernsthaften Gespräch gerade damit zu kommen. Ganz abgesehen davon, daß ich in Mythologie und überhaupt in Belletristik nicht beschlagen bin, ich wollte nicht streiten; wir hatten praktische Sorgen genug. [...]

[106] Ich sehe nicht ein, wieso ihr Leben verpfuscht sein sollte. Im Gegenteil. Ich finde es allerhand, wenn jemand ungefähr so lebt, wie er's sich einmal in den Kopf gesetzt hat. Ich bewundere sie. Ich habe, offen gesprochen, nie daran geglaubt, daß Philologie und Kunstgeschichte sich bezahlt machen. Dabei kann man nicht einmal sagen, Hanna sei unfraulich. Es steht ihr, eine Arbeit zu haben. Schon in der Ehe mit Joachim, scheint es, hat sie stets gearbeitet, Übersetzungen und Derartiges, und in der Emigration sowieso. In Paris, nach ihrer Scheidung von Joachim, arbeitete sie in einem Verlag. Als dann die Deutschen kamen, floh sie nach England und sorgte allein für ihr Kind. Joachim war Arzt in Rußland, somit zahlungsunfähig. Hanna arbeitete als deutsche Sprecherin bei BBC. Heute noch ist sie britische Staatsbürgerin. Herr Piper verdankt ihr sein Leben, scheint mir; Hanna heiratete ihn aus einem Lager heraus (soviel ich verstanden habe) ohne viel Besinnen, dank ihrer alten Vorliebe für Kommunisten. Herr Piper war eine Enttäuschung, weil kein [107] Kommunist, sondern Opportunist. Wie Hanna sagte: linientreu bis zum Verrat, neuerdings bereit, Konzentrationslager gut zu finden. Hanna lacht nur: Männer! [...] Hanna findet es schade, beziehungsweise typisch für gewisse Männer, wie dieser Piper im Leben steht: stockblind, laut Hanna, ohne Kontakt.

[126] Diskussion mit Hanna! - über Technik (laut Hanna) als Kniff, die Welt so einzurichten, daß wir sie nicht erleben müssen. Manie des Technikers, die Schöpfung nutzbar zu machen, weil er sie als Partner nicht aushält, nichts mit ihr anfangen kann; Technik als Kniff, die Welt als Widerstand aus der Welt zu schaffen, beispielsweise durch Tempo zu verdünnen, damit wir sie nicht erleben müssen. (Was Hanna damit meint, weiß ich nicht.) Hanna macht keine Vorwürfe, Hanna findet es nicht unbegreiflich, daß ich mich gegenüber Sabeth so verhalten habe; ich habe (meint Hanna) eine Art von Beziehung erlebt, die ich nicht kannte, und sie mißdeutet, indem ich mir einredete, verliebt zu sein. Es ist kein zufälliger Irrtum gewesen, sondern ein Irrtum, der zu mir gehört (?) wie mein Beruf, wie mein ganzes Leben sonst. Mein Irrtum: daß wir Techniker versuchen, ohne den Tod zu leben. Wörtlich: Du behandelst das Leben nicht als Gestalt, sondern als bloße Addition, daher kein Verhältnis zur Zeit, weil kein Verhältnis zum Tod. Leben sei Gestalt in der Zeit. Hanna gibt zu, daß sie nicht erkilären kann, was sie meint. Leben ist [127] nicht Stoff, nicht mit Technik zu bewältigen. Mein Irrtum mit Sabeth: Repetition, ich habe mich so verfhalten, als gebe es kein Alter, daher widernatürlich. Wir können nicht das Alter aufheben, indem wir weiter addieren, indem wir unsere eigenen Kinder heiraten.

[146] Die Gletscherspalten: grün wie Bierflaschenglas. Sabeth würde sagen: wie Smaragd! [...] Ich finde: wie Bernstein, weil matt und beinahe durchsichtig, oder wie Knochen, weil bleich und spröde. Unser Flugzeugschatten über Moränen und Gletschern: wie er in die Schlünde sackt, man meint jedesmal, er sei verloren und verlocht, und schon klebt er an der nächsten Felswand, im ersten Augenblick: wie mit einer Pflasterkelle hingeworfen, aber er bleibt nicht wie Verputz, sondern gleitet und fällt wieder ins Leere jenseits des Grates. Unser Flugzeugschatten: wie eine Fledermaus! so würde Sabeth sagen, ich finde nichts [...], ich habe anderes im Kopf: eine Spur im Firn, Menschenspur, sie sieht aus wie eine Nieten-Naht, Sabeth würde finden: wie eine Halskette, bläulich, in großer Schleife um eine weiße Firn-Büste gehängt. [...] Wir fliegen vorbei; man sieht das Gipfelkreuz, weiß, es leuchtet, aber sehr einsam, ein Licht, das man als Bergsteiger niemals trifft, weil man vorher absteigen muß, Licht, das man mit dem Tod bezahlen müßte, aber sehr schön, ein Augenblick, dann Wolken, Luftlöcher, die Alpensüdseite bewölkt, wie zu erwarten war, die Wolken: wie Watte, wie Gips, wie Blumenkohl, wie Schaum mit Seifenblasenfarben, ich weiß nicht, was Sabeth alles finden würde, es wechselt rasch, manchmal ein Wolkenloch, in der Tiefe: ein schwarzer Wald, ein Bach, der Wald wie ein Igel, aber nur eine Sekunde lang, die Wolken schieben sich durcheinander, Schatten der oberen Wolken auf den unteren Schatten wie Vorhänge, wir fliegen hindurch, Gewölk in der Sonne vor uns: als müsse unsere Maschine daran zerschellen, Gebirge aus Wasserdampf, aber prall und weiß wie griechischer Marmor, körnig - Wir fliegen hinein.

[149] Ich weiß nicht, warum Joachim sich erhängt hat. [...]
[151] Hanna hat ihn nie vergessen. [...] Nichts ist Hanna zuviel, wenn es um ihr Kind geht. Sie pflegt ihr Kind in einem Keller, als die Wehrmacht nach Paris kommt, und wagt sich auf die Straße, um Medikamente zu holen. [...] Ich verstehe nur, daß Hanna, nach allem, was geschehen ist, Athen nie wieder verlassen will, das Grab unseres Kindes. Wir beide werden hier bleiben, denke ich. [...] Hanna hat immer schon gewußt, daß ihr Kind sie einmal verlassen wird; aber auch Hanna hat nicht ahnen können, daß Sabeth auf dieser Reise gerade ihrem Vater begegnet, der alles zerstört -

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