Internationaler Sommerkurs 1993 der
Philipps-Universität * Kurs 6 "Sprache, Medien,
Medienkritik
Formen schriftlicher Kommunikation, SS 2002 (behandelt am 2. Juli
2002 zum 125. Geburtstag des
Dichters)
Hermann Hesse (1877-1962): Sprache (in: Betrachtungen, 1928)
Ein Mangel und Erdenrest, an dem der Dichter schwerer als an allen anderen leidet, ist die Sprache. Zu Zeiten kann er sie richtig hassen, anklagen und verwünschen - oder vielmehr sich selbst, daß er zur Arbeit mit diesem elenden Werkzeug geboren ist. Mit Neid denkt er an den Maler, dessen Sprache, die Farben, vom Nordpol bis nach Afrika gleich verständlich zu allen Menschen spricht, oder an den Musiker, dessen Töne ebenfalls jede Menschensprache sprechen und dem von der einstimmigen Melodie bis zum hundertstimmigen Orchester, vom Horn bis zur Klarinette, von der Geige bis zur Harfe so viele neue, einzelne, fein unterschiedene Sprachen gehorchen müssen.
Um eines aber beneidet er den Musiker besonders tief und jeden Tag: daß der Musiker seine Sprache für sich allein hat, nur für das Musizieren! Der Dichter aber muß für sein Tun dieselbe Sprache benutzen, in der man Schule hält und Geschäfte macht, in der man telegraphiert und Prozesse führt. Wie ist er arm, daß er für seine Kunst kein eigenes Organ besitzt, keine eigene Wohnung, keinen eigenen Garten, kein eigenes Kammerfenster, um auf den Mond hinauszusehen - alles und alles muß er mit dem Alltag teilen! Sagt er "Herz" und meint damit das zuckende Lebendigste im Menschen, seine innigste Fähigkeit und Schwäche, so bedeutet das Wort zugleich einen Muskel. Sagt er "Kraft", so muß er um den Sinn seines Wortes mit Ingenieur und Elektriker kämpfen, spricht er von "Seligkeit", so schaut in den Ausdruck seiner Vorstellung etwas von Theologie mit hinein. Er kann kein einziges Wort gebrauchen, das nicht zugleich nach einer anderen Seite schielte, das nicht im selben Atemzug mit an fremde, störende, feindliche Vorstellungen erinnerte, das nicht in sich selber Hemmungen und Verkürzungen trüge und sich an sich selber bräche wie an zu engen Wänden, von denen eine Stimme unausgeklungen und erstickt zurückkehrt.
Wenn also der ein Schelm ist, der mehr gibt, als er hat, so kann ein Dichter niemals ein Schelm sein. Er gibt ja kein Zehntel, kein Hundertstel von dem, was er geben möchte, er ist ja zufrieden, wenn der Hörer ihn so ganz obenhin, so ganz von ferne, so ganz beiläufig versteht, ihm wenigstens im Wichtigsten nicht gröblich mißversteht. Mehr erreicht er selten. Und überall, wo ein Dichter Lob oder Tadel erntet, wo er Wirkung tut oder verlacht wird, wo man ihn liebt oder verwirft, überall spricht man nicht von seinen Gedanken und Träumen selbst, sondern nur von dem Hundertstel, das durch den engen Kanal der Sprache und den nicht weiteren des Leserverständnisses dringen konnte. Darum wehren sich auch die Leute so furchtbar, so auf Leben und Tod, wenn ein Künstler, oder eine ganze Künstlerjugend, neue Ausdrücke und Sprachen probiert und an ihren peinlichen Fesseln rüttelt.
Für den Mitbürger ist die Sprache (jede Sprache, die er mühsam gelernt hat, nicht bloß die der Worte) ein Heiligtum. Für den Mitbürger ist alles ein Heiligtum, was gemeinsam und gemeinschaftlich ist, was er mit vielen, womöglich mit allen teilt, was ihn nie an Einsamkeit, an Geburt und Tod, an das innerste Ich erinnert. Die Mitbürger haben auch, wie der Dichter, das Ideal einer Weltsprache. Aber die Weltsprache der Bürger ist nicht wie die, die der Dichter träumt, ein Urwald von Reichtum, ein unendliches Orchester, sondern eine vereinfachte telegraphische Zeichensprache, bei deren Gebrauch man Mühe, Worte und Papier spart und nicht am Geldverdienen gehindert wird. Ach! durch Dichtung, Musik und solche Dinge wird man immer am Geldverdienen gehindert!
Hat nun der Mitbürger eine Sprache gelernt, die er für die Sprache der Kunst hält, so ist er zufrieden, meint die Kunst zu verstehen und zu besitzen und wird wütend, wenn er erfährt, daß diese Sprache, die er so mühsam gelernt hat, nur für eine ganz kleine Provinz der Kunst gültig sei. Zur Zeit unserer Großväter gab es strebsame und gebildete Leute, die sich dazu durchgerungen hatten, in der Musik neben MOZART und HAYDN auch BEETHOVEN gelten zu lassen. So weit "gingen sie mit". Aber als nun CHOPIN kam, und LISZT, und WAGNER und als man ihnen zumutete, nochmals und abermals eine neue Sprache zu lernen, nochmals revolutionär und jung, elastisch und freudig an etwas Neues heranzugehen, da wurden sie tief verdrossen, erkannten den Verfall der Kunst und die Entartung der Zeit, in der zu leben sie verurteilt waren. So wie diesen armen Menschen geht es heut wieder vielen Tausenden. Die Kunst zeigt neue Gesichter, neue Sprachen, neue lallende Laute und Gebärden, sie hat es satt, immerzu die Sprache von gestern und vorgestern zu reden, sie will auch einmal tanzen, sie will auch einmal über die Schnur hauen, sie will auch einmal den Hut schief aufsetzen und im Zickzack gehen. Und die Mitbürger sind darüber wütend, fühlen sich verhöhnt und an der Wurzel in ihrem Wert angezweifelt, werfen mit Schimpfworten um sich und ziehen sich die Decke ihrer Bildung über die Ohren.
Gerade diese Wut und fruchtlose Erregung befreit aber den Bürger nicht, entladet und säubert sein Inneres nicht, hebt in keiner Weise seine innere Unruhe und Unlust. Der Künstler hingegen, der über den Mitbürger nicht minder zu klagen hat als der über ihn, der Künstler nimmt sich die Mühe und sucht und erfindet und lernt für seinen Zorn, seine Verachtung, seine Erbitterung eine neue Sprache. Er fühlt, daß Schimpfen nichts hilft, und sieht, daß der Schimpfende im Unrecht ist. Da er nun in unserer Zeit kein andres Ideal hat als das seiner selbst, da er nichts will und wünscht, als ganz er selbst zu sein und das zu tun und auszusprechen, was Natur in ihm gebraut und bereitgelegt hat, darum macht er aus seiner Feindschaft gegen die Mitbürger das möglichst Persönliche, das möglichst Schöne, das möglichst Sprechende, er spricht seinen Zorn nicht im Geifer heraus, sondern siebt und baut und zieht und knetet sich einen Ausdruck dafür zurecht, eine neue Ironie, eine neue Karikatur, einen neuen Weg, um Unangenehmes und Unlustgefühle in Angenehmes und Schönes zu verwandeln.
Wie unendlich viele Sprachen hat die Natur, und wie unendlich viele haben sich die Menschen geschaffen! Die paar tausend simplen Grammatiken, die sich die Völker zwischen dem Sanskrit und dem Volapük gezimmert haben, sind verhältnismäßig ärmliche Leistungen. Sie sind ärmlich, weil sie sich immer mit dem Notwendigsten begnügten - und das, was Mitbürger untereinander für das Notwendigste halten, ist immer Geldverdienen, Brotbacken und dergleichen. Dabei können Sprachen nicht gedeihen. Nie hat eine menschliche Sprache (ich meine Grammatik) halbwegs den Schwung und Witz, den Glanz und Geist erreicht, den eine Katze in den Windungen ihres Schweifes, ein Paradiesvogel im Silbergestäube seiner Hochzeitskleider verschwendet.
Dennoch hat der Mensch, sobald er er selbst war und nicht die Ameisen oder Bienen nachzuahmen strebte, den Paradiesvogel, die Katze und alle Tiere oder Pflanzen übertroffen. Er hat Sprachen ersonnen, die unendlich viel besser mitteilen und mitschwingen lassen als Deutsch, Griechisch oder Italienisch. Er hat Religionen, Architekturen, Malereien, Philosophien hingezaubert, hat Musik geschaffen, deren Ausdrucksspiel und Farbenreichtum weit über alle Paradiesvögel und Schmetterlinge geht. Wenn ich denke "Italienische Malerei" - wie klingt das reich und tausendfach, Chöre voll Andacht und Süßigkeit, Instrumente jeder Art tönen selig auf, es riecht nach frommer Kühle in marmornen Kirchen, Mönche knien inbrünstig, und schöne Frauen herrschen königlich in warmen Landschaften. Oder ich denke "Chopin": Töne perlen sanft und wehmütig aus der Nacht, einsam klagt Heimweh in der Fremde beim Saitenspiel, feinste, persönlichste Schmerzen sind in Harmonien und Dissonanzen inniger und unendlich viel richtiger und feiner ausgedrückt, als der Zustand eines anderen Leidenden durch alle wissenschaftlichen Worte, Zahlen, Kurven und Formeln ausgedrückt werden kann.
Wer glaubt im Ernst daran, daß der "Werther" und der "Wilhelm Meister" in derselben Sprache geschrieben seien? Daß Jean PAUL dieselbe Sprache gesprochen habe wie unsere Schullehrer? Und das sind bloß Dichter! Sie mußten mit der Armut und Sprödigkeit der Sprache, sie mußten mit einem Werkzeug arbeiten, das für ganz anderes gemacht war.
Sprich das Wort "Ägypten" aus, und du hörst eine Sprache, die Gott in mächtigen, ehernen Akkorden preist, voll Ahnung des Ewigen und voll tiefer Angst vor der Endlichkeit: Könige schauen aus steinernen Augen unerbittlich über Millionen Sklaven hinweg und sehen über alle und alles hinweg doch immer nur dem Tod ins dunkle Auge - heilige Tiere starren ernst und erdhaft - Lotosblumen duften zart in den Händen von Tänzerinnen. Eine Welt, ein Sternhimmel voll Welten ist allein dies "Ägypten", du kannst dich auf den Rücken legen und einen Monat lang über nichts anderes phantasieren als darüber. Aber plötzlich fällt dir etwas anderes ein. Du hörst den Namen "Renoir" und lächelst und siehst die ganze Welt in runde Pinselbewegungen aufgelöst, rosig, licht und freudig. Und sagst "Schopenhauer" und siehst dieselbe Welt dargestellt in Zügen leidender Menschen, die in schlaflosen Nächten sich das Leid zur Gottheit machten und mit ernsten Gesichtern eine lange, harte Straße wallen, die zu einem unendlich stillen, unendlich bescheidenen, traurigen Paradiese führt.
Gern vergleicht der Bürger den Phantasten mit dem Verrückten. Der Bürger ahnt richtig, daß er selbst sofort wahnsinnig werden müßte, wenn er sich so wie der Künstler, der Religiöse, der Philosoph auf den Abgrund in seinem eigenen Inneren einließe. Wir mögen den Abgrund Seele nennen oder das Unbewußte oder wie immer, aus ihm kommt jede Regung unseres Lebens. Der Bürger hat zwischen sich und seiner Seele einen Wächter, ein Bewußtsein, eine Moral, eine Sicherheitsbehörde gesetzt, und er anerkennt nichts, was tief aus jenem Seelenabgrund kommt, ohne erst von jener Behörde abgestempelt zu sein. Der Künstler aber richtet sein ständiges Mißtrauen nicht gegen das Land der Seele, sondern eben gegen jene Grenzbehörde, und geht heimlich aus und ein zwischen Hier und Dort, zwischen Bewußt und Unbewußt, als wäre er in beiden zu Hause.
Weilt er diesseits, auf der bekannten Tagesseite, wo auch der
Bürger wohnt, dann drückt die Armut aller Sprachen unendlich auf
ihn, und Dichter zu sein, scheint ihm ein dorniges Leben. Ist er aber
drüben, im Seelenland, dann fließt Wort um Wort ihm zauberhaft
aus allen Winden zu, Sterne tönen und Gebirge lächeln, und die
Welt ist vollkommen und ist Gottes Sprache, darin kein Wort und Buchstabe
fehlt, wo alles gesagt werden kann, wo alles klingt, wo alles erlöst
ist.
HTML: W. Näser, MR 1993 / 2002 (Hervorhebungen von mir) =>
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