INT. SOMMERKURS DER
PHILIPPS-UNIVERSITÄT 1993 "LITERATUR
UND MEDIEN", Kurs 6: Dr. Wolfgang Näser (Text
2)
Deutsch im 20. Jahrhundert
* Dr. Wolfgang Näser * SS 2002
Hermann HESSE (1877-1962): Texte (1910-1962)
1. VORBEMERKUNGEN
Incipit vita nova. Ich bin ein Neuer geworden, mir selber noch
ein Wunder, ruhend und zugleich tätig, empfangend und schenkend, ein
Besitzer von Gütern, deren werteste ich vielleicht noch nicht kenne.
(Frühe Prosa: Eine Stunde hinter Mitternacht) |
H.H. wird am 2. Juli 1877 in Calw (Schwarzwald) geboren; der
Sohn eines (baltendeutschen) pietistischen Missionars geht 1891 als Stipendiat
ins
Maulbronner
Klosterseminar, flieht kurz darauf, verläßt mit der Mittleren
Reife das Cannstädter Gymnasium, schließt 1895 eine Uhrmacherlehre
ab, beginnt eine Ausbildung als Buchhändler und publiziert erste Arbeiten;
1898 erscheinen die "Romantischen Lieder". 1899-1903 Buchhändler und
Antiquar in Basel, 1904 Eheschließung (3 Kinder); freier Schriftsteller;
gibt mit Albert Langen (1869-1909) und Luwig Thoma (1867-1921) die linksliberale
Zeitschrift "März" heraus. 1906 Pubertäts-Roman "Unterm Rad"; 1911
mehrere Monate mit dem Maler Hans Sturzenegger (1875-1943) auf den Spuren
der Eltern in Ceylon, Singapur und Sumatra; 1912 => Bern. 1914
Kriegsfreiwilliger; humanitäre Aktionen, Kritik an dt. Politik; 1916
erste Lebenskrise durch Tod des Vaters und Schizophrenie der Ehefrau;
Psychoanalyse; 1919 erste malerische Arbeiten (rechts: "Gehöfte am
Weinberg"); Umzug nach Montagnola (=> Bild links v. 1936); Appelle an
Deutschlands Jugend zu geistiger Erneuerung und Abkehr von jeglichem
Kriegsgedanken. 1923 Schweizer Bürger. 1924-27 zweite Ehe mit
Ruth Wenger. 1926-31 Dt. Akademie der Künste. 1931 dritte Ehe mit der
Schriftstellerin u. Kunsthistorikerin
Ninon
Dolbin (geb. Ausländer). Hesse lehnt das dt.
Naziregime
ab und betreut fliehende Künstler. 1954 Briefwechsel mit dem
Nobelpreisträger Romain Rolland. H. stirbt am 9.8.1962 in
Montagnola.
Einflüsse durch Plato, Baruch
Spinoza
(1632- 1677),
Arthur Schopenhauer
(1788-1860), Friedrich
Nietzsche
(1844-1900) und den Historiker
Jacob
Burckhardt (1891-1974).
Werke u.a.: Peter Camenzind (1904), Unterm Rad (1906),
Gertrud (1910); Roßhalde (1914), Demian - Die Geschichte
von Emil Sinclairs Jugend (1919), Klingsors letzter Sommer (1920),
Siddharta - Eine indische Dichtung (1922), 1927
Der Steppenwolf, Narziß und Goldmund
(1930); Die Morgenlandfahrt (1932), Lyrik-Gesamtausgabe (1942),
Das Glasperlenspiel (2 Bde., 1943), Krieg und Frieden (polit.
Essays, 1946), Beschwörungen (1955). Gesamtwerk bei
Suhrkamp.
Neuausgabe mit ca. 14.000 Seiten geplant.
Ehrungen: 1905
Bauernfeld-Preis;
1937 Gottfiried-Keller-Preis; 1946 Goethe-Preis (Frankfurt)
Literatur-Nobelpreis (=> engl.
Autobiografie); 1947 Dr.h.c. Uni Bern; 1950
Wilhelm-Raabe-Preis;
1954 Pour le
Mérite (Friedensklasse); 1955 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
Hesse, in den 60er Jahren Gründervater der
Hippie-Kultur
und zur Zeit weltweit meistgelesene deutsche Schriftsteller, gilt
als ewig Suchender, als "Dichter der Krise(n)". Mehrere Selbstmordversuche,
die z.T. in seinen Werken beschrieben wurden (auch thematisiert in der
3-Sat-Sendung
"Hermann
Hesse - Seelenarbeiter" v. 15.6.2002); sein Werk gilt daher auch als
Auto-Therapie in verschiedenen Lebensphasen.
Es werden noch viele Generationen sehnsuchtsvoll oder belustigt,
bewundernd oder verwundert sich über die Brunnenschächte der
Vergangenheit beugen und darüber staunen, daß alles Gewesene,
wofern es von Meistern dargestellt worden ist, ewige Dauer hat. (Tagebuchblatt, 15. Mai 1955) |
2. TEXTE
2.1. Aus: Gertrud (München: Albert Langen 1910, S. 191-193)
Daß das Leben schwer zu leben ist, hatte ich auch früher schon zuzeiten dunkel empfunden. Nun hatte ich neue Ursache zu grübeln. Bis heute ist mir das Gefühl des Widerspruchs nie mehr verloren gegangen, das in jener Erkenntnis wurzelt. Denn mein Leben ist arm und mühsam gewesen, und scheint doch andern, und manchmal mir selber, reich und herrlich. Mir erscheint das Menschenleben wie eine tiefe, traurige Nacht, die nicht zu ertragen wäre, wenn nicht da und dort Blitze flammten, deren plötzliche Helle so tröstlich und wunderbar ist, daß ihre Sekunden die Jahre des Dunkels auslöschen und rechtfertigen können.
Das Dunkel, die trostlose Finsternis, das ist der schreckliche Kreislauf
des täglichen Lebens. Wozu steht man am Morgen auf, ißt, trinkt,
legt sich abermals wieder hin? Das Kind, der Wilde, der gesunde, junge Mensch,
das Tier leidet unter diesem Kreislauf gleichgültiger Dinge und
Tätigkeiten nicht. Wer nicht am Denken leidet, den freut das Aufstehen
am Morgen, und das Essen und Trinken, der findet Genüge darin und will
es nicht anders. Wem aber diese Selbstverständlichkeit verloren ging,
der sucht im Lauf der Tage begierig und wachsam nach den Augenblicken wahren
Lebens, deren Aufblitzen beglückt und das Gefühl der Zeit samt
allen Gedanken an Sinn und Ziel des Ganzen auslöscht. Mann kann diese
Augenblicke die schöpferischen nennen, weil es scheint, daß sie
das Gefühl der Vereinigung mit dem Schöpfer bringen, weil man in
ihnen alles, auch das sonst Zufällige, als gewollt empfindet. Es ist
dasselbe, was die Mystiker die Vereinigung mit Gott nennen. Vielleicht ist
es das überhelle Licht dieser Augenblicke, das alle übrigen so
finster erscheinen läßt, vielleicht kommt es von der befreiten,
zauberhaften Leichtigkeit und Schwebewonne jener Augenblicke, das das
übrige Leben so schwer und klebend und niederziehend empfunden wird.
Ich weiß es nicht, ich habe es im Denken und Philosophieren nicht weit
gebracht. Doch weiß ich: wenn es eine Seligkeit gibt und ein Paradies,
so muß es eine ungestörte Dauer solcher Augenblicke sein; und
wenn man diese Seligkeit durch Leid und Läuterung im Schmerz erlangen
kann, so ist kein Leid und Schmerz so groß, daß man sie fliehen
sollte.
2.2. SPRACHE (in:
Betrachtungen, 1928; Text angeboten
im Internationalen Sommerkurs 1993;
behandelt am 2. Juli 2002, dem 125. Geburtstag des Dichters, in den
"Formen schriftlicher Kommunikation")
Ein Mangel und Erdenrest, an dem der Dichter schwerer als an allen anderen leidet, ist die Sprache. Zu Zeiten kann er sie richtig hassen, anklagen und verwünschen - oder vielmehr sich selbst, daß er zur Arbeit mit diesem elenden Werkzeug geboren ist. Mit Neid denkt er an den Maler, dessen Sprache, die Farben, vom Nordpol bis nach Afrika gleich verständlich zu allen Menschen spricht, oder an den Musiker, dessen Töne ebenfalls jede Menschensprache sprechen und dem von der einstimmigen Melodie bis zum hundertstimmigen Orchester, vom Horn bis zur Klarinette, von der Geige bis zur Harfe so viele neue, einzelne, fein unterschiedene Sprachen gehorchen müssen.
Um eines aber beneidet er den Musiker besonders tief und jeden Tag: daß der Musiker seine Sprache für sich allein hat, nur für das Musizieren! Der Dichter aber muß für sein Tun dieselbe Sprache benutzen, in der man Schule hält und Geschäfte macht, in der man telegraphiert und Prozesse führt. Wie ist er arm, daß er für seine Kunst kein eigenes Organ besitzt, keine eigene Wohnung, keinen eigenen Garten, kein eigenes Kammerfenster, um auf den Mond hinauszusehen - alles und alles muß er mit dem Alltag teilen! Sagt er "Herz" und meint damit das zuckende Lebendigste im Menschen, seine innigste Fähigkeit und Schwäche, so bedeutet das Wort zugleich einen Muskel. Sagt er "Kraft", so muß er um den Sinn seines Wortes mit Ingenieur und Elektriker kämpfen, spricht er von "Seligkeit", so schaut in den Ausdruck seiner Vorstellung etwas von Theologie mit hinein. Er kann kein einziges Wort gebrauchen, das nicht zugleich nach einer anderen Seite schielte, das nicht im selben Atemzug mit an fremde, störende, feindliche Vorstellungen erinnerte, das nicht in sich selber Hemmungen und Verkürzungen trüge und sich an sich selber bräche wie an zu engen Wänden, von denen eine Stimme unausgeklungen und erstickt zurückkehrt.
Wenn also der ein Schelm ist, der mehr gibt, als er hat, so kann ein Dichter niemals ein Schelm sein. Er gibt ja kein Zehntel, kein Hundertstel von dem, was er geben möchte, er ist ja zufrieden, wenn der Hörer ihn so ganz obenhin, so ganz von ferne, so ganz beiläufig versteht, ihm wenigstens im Wichtigsten nicht gröblich mißversteht. Mehr erreicht er selten. Und überall, wo ein Dichter Lob oder Tadel erntet, wo er Wirkung tut oder verlacht wird, wo man ihn liebt oder verwirft, überall spricht man nicht von seinen Gedanken und Träumen selbst, sondern nur von dem Hundertstel, das durch den engen Kanal der Sprache und den nicht weiteren des Leserverständnisses dringen konnte. Darum wehren sich auch die Leute so furchtbar, so auf Leben und Tod, wenn ein Künstler, oder eine ganze Künstlerjugend, neue Ausdrücke und Sprachen probiert und an ihren peinlichen Fesseln rüttelt.
Für den Mitbürger ist die Sprache (jede Sprache, die er mühsam gelernt hat, nicht bloß die der Worte) ein Heiligtum. Für den Mitbürger ist alles ein Heiligtum, was gemeinsam und gemeinschaftlich ist, was er mit vielen, womöglich mit allen teilt, was ihn nie an Einsamkeit, an Geburt und Tod, an das innerste Ich erinnert. Die Mitbürger haben auch, wie der Dichter, das Ideal einer Weltsprache. Aber die Weltsprache der Bürger ist nicht wie die, die der Dichter träumt, ein Urwald von Reichtum, ein unendliches Orchester, sondern eine vereinfachte telegraphische Zeichensprache, bei deren Gebrauch man Mühe, Worte und Papier spart und nicht am Geldverdienen gehindert wird. Ach! durch Dichtung, Musik und solche Dinge wird man immer am Geldverdienen gehindert!
Hat nun der Mitbürger eine Sprache gelernt, die er für die Sprache der Kunst hält, so ist er zufrieden, meint die Kunst zu verstehen und zu besitzen und wird wütend, wenn er erfährt, daß diese Sprache, die er so mühsam gelernt hat, nur für eine ganz kleine Provinz der Kunst gültig sei. Zur Zeit unserer Großväter gab es strebsame und gebildete Leute, die sich dazu durchgerungen hatten, in der Musik neben MOZART und HAYDN auch BEETHOVEN gelten zu lassen. So weit "gingen sie mit". Aber als nun CHOPIN kam, und LISZT, und WAGNER und als man ihnen zumutete, nochmals und abermals eine neue Sprache zu lernen, nochmals revolutionär und jung, elastisch und freudig an etwas Neues heranzugehen, da wurden sie tief verdrossen, erkannten den Verfall der Kunst und die Entartung der Zeit, in der zu leben sie verurteilt waren. So wie diesen armen Menschen geht es heut wieder vielen Tausenden. Die Kunst zeigt neue Gesichter, neue Sprachen, neue lallende Laute und Gebärden, sie hat es satt, immerzu die Sprache von gestern und vorgestern zu reden, sie will auch einmal tanzen, sie will auch einmal über die Schnur hauen, sie will auch einmal den Hut schief aufsetzen und im Zickzack gehen. Und die Mitbürger sind darüber wütend, fühlen sich verhöhnt und an der Wurzel in ihrem Wert angezweifelt, werfen mit Schimpfworten um sich und ziehen sich die Decke ihrer Bildung über die Ohren.
Gerade diese Wut und fruchtlose Erregung befreit aber den Bürger nicht, entladet und säubert sein Inneres nicht, hebt in keiner Weise seine innere Unruhe und Unlust. Der Künstler hingegen, der über den Mitbürger nicht minder zu klagen hat als der über ihn, der Künstler nimmt sich die Mühe und sucht und erfindet und lernt für seinen Zorn, seine Verachtung, seine Erbitterung eine neue Sprache. Er fühlt, daß Schimpfen nichts hilft, und sieht, daß der Schimpfende im Unrecht ist. Da er nun in unserer Zeit kein andres Ideal hat als das seiner selbst, da er nichts will und wünscht, als ganz er selbst zu sein und das zu tun und auszusprechen, was Natur in ihm gebraut und bereitgelegt hat, darum macht er aus seiner Feindschaft gegen die Mitbürger das möglichst Persönliche, das möglichst Schöne, das möglichst Sprechende, er spricht seinen Zorn nicht im Geifer heraus, sondern siebt und baut und zieht und knetet sich einen Ausdruck dafür zurecht, eine neue Ironie, eine neue Karikatur, einen neuen Weg, um Unangenehmes und Unlustgefühle in Angenehmes und Schönes zu verwandeln.
Wie unendlich viele Sprachen hat die Natur, und wie unendlich viele haben sich die Menschen geschaffen! Die paar tausend simplen Grammatiken, die sich die Völker zwischen dem Sanskrit und dem Volapük gezimmert haben, sind verhältnismäßig ärmliche Leistungen. Sie sind ärmlich, weil sie sich immer mit dem Notwendigsten begnügten - und das, was Mitbürger untereinander für das Notwendigste halten, ist immer Geldverdienen, Brotbacken und dergleichen. Dabei können Sprachen nicht gedeihen. Nie hat eine menschliche Sprache (ich meine Grammatik) halbwegs den Schwung und Witz, den Glanz und Geist erreicht, den eine Katze in den Windungen ihres Schweifes, ein Paradiesvogel im Silbergestäube seiner Hochzeitskleider verschwendet.
Dennoch hat der Mensch, sobald er er selbst war und nicht die Ameisen oder Bienen nachzuahmen strebte, den Paradiesvogel, die Katze und alle Tiere oder Pflanzen übertroffen. Er hat Sprachen ersonnen, die unendlich viel besser mitteilen und mitschwingen lassen als Deutsch, Griechisch oder Italienisch. Er hat Religionen, Architekturen, Malereien, Philosophien hingezaubert, hat Musik geschaffen, deren Ausdrucksspiel und Farbenreichtum weit über alle Paradiesvögel und Schmetterlinge geht. Wenn ich denke "Italienische Malerei" - wie klingt das reich und tausendfach, Chöre voll Andacht und Süßigkeit, Instrumente jeder Art tönen selig auf, es riecht nach frommer Kühle in marmornen Kirchen, Mönche knien inbrünstig, und schöne Frauen herrschen königlich in warmen Landschaften. Oder ich denke "Chopin": Töne perlen sanft und wehmütig aus der Nacht, einsam klagt Heimweh in der Fremde beim Saitenspiel, feinste, persönlichste Schmerzen sind in Harmonien und Dissonanzen inniger und unendlich viel richtiger und feiner ausgedrückt, als der Zustand eines anderen Leidenden durch alle wissenschaftlichen Worte, Zahlen, Kurven und Formeln ausgedrückt werden kann.
Wer glaubt im Ernst daran, daß der "Werther" und der "Wilhelm Meister" in derselben Sprache geschrieben seien? Daß Jean PAUL dieselbe Sprache gesprochen habe wie unsere Schullehrer? Und das sind bloß Dichter! Sie mußten mit der Armut und Sprödigkeit der Sprache, sie mußten mit einem Werkzeug arbeiten, das für ganz anderes gemacht war.
Sprich das Wort "Ägypten" aus, und du hörst eine Sprache, die Gott in mächtigen, ehernen Akkorden preist, voll Ahnung des Ewigen und voll tiefer Angst vor der Endlichkeit: Könige schauen aus steinernen Augen unerbittlich über Millionen Sklaven hinweg und sehen über alle und alles hinweg doch immer nur dem Tod ins dunkle Auge - heilige Tiere starren ernst und erdhaft - Lotosblumen duften zart in den Händen von Tänzerinnen. Eine Welt, ein Sternhimmel voll Welten ist allein dies "Ägypten", du kannst dich auf den Rücken legen und einen Monat lang über nichts anderes phantasieren als darüber. Aber plötzlich fällt dir etwas anderes ein. Du hörst den Namen "Renoir" und lächelst und siehst die ganze Welt in runde Pinselbewegungen aufgelöst, rosig, licht und freudig. Und sagst "Schopenhauer" und siehst dieselbe Welt dargestellt in Zügen leidender Menschen, die in schlaflosen Nächten sich das Leid zur Gottheit machten und mit ernsten Gesichtern eine lange, harte Straße wallen, die zu einem unendlich stillen, unendlich bescheidenen, traurigen Paradiese führt.
Gern vergleicht der Bürger den Phantasten mit dem Verrückten. Der Bürger ahnt richtig, daß er selbst sofort wahnsinnig werden müßte, wenn er sich so wie der Künstler, der Religiöse, der Philosoph auf den Abgrund in seinem eigenen Inneren einließe. Wir mögen den Abgrund Seele nennen oder das Unbewußte oder wie immer, aus ihm kommt jede Regung unseres Lebens. Der Bürger hat zwischen sich und seiner Seele einen Wächter, ein Bewußtsein, eine Moral, eine Sicherheitsbehörde gesetzt, und er anerkennt nichts, was tief aus jenem Seelenabgrund kommt, ohne erst von jener Behörde abgestempelt zu sein. Der Künstler aber richtet sein ständiges Mißtrauen nicht gegen das Land der Seele, sondern eben gegen jene Grenzbehörde, und geht heimlich aus und ein zwischen Hier und Dort, zwischen Bewußt und Unbewußt, als wäre er in beiden zu Hause.
Weilt er diesseits, auf der bekannten Tagesseite, wo auch der Bürger wohnt, dann drückt die Armut aller Sprachen unendlich auf ihn, und Dichter zu sein, scheint ihm ein dorniges Leben. Ist er aber drüben, im Seelenland, dann fließt Wort um Wort ihm zauberhaft aus allen Winden zu, Sterne tönen und Gebirge lächeln, und die Welt ist vollkommen und ist Gottes Sprache, darin kein Wort und Buchstabe fehlt, wo alles gesagt werden kann, wo alles klingt, wo alles erlöst ist.
2.3. ZU KRIEG, FRIEDEN UND
TOLREANZ (aus Briefen ab 1947; Seitenangaben
in [] = Bd. 7 der Suhrkamp-Ausgabe von 1957; in ()= H.Hesse, Briefe an Freunde,
Rundbriefe 1946-1962, Ffm 1977)
2.3.1. Aus: Geheimnisse (1947)
[787] ...wir sehen jeden Tag zum Beispiel das sogenannte Weltgeschehen in
der Zeitung dargestellt, flach, übersehbar, auf zwei Dimensionen reduziert,
von den Spannungen zwischen Ost und West bis zur Untersuchung des japanischen
Kriegspotentials, von der Kurve des Index bis zur Versicherung eines Ministers,
daß gerade die ungeheure Dynamik und Gefährlichkeit der neuesten
Kriegswaffen dazu führen müsse, diese Waffen niederzulegen oder
in Pflugscharen zu verwandeln, und obwohl wir wissen, daß dies alles
keine Wirklichkeiten sind, sondern teils Lügen, teils fachmännische
Jonglierspiele mit einer amüsanten, erfundenen, unverantwortlichen
Surrealisten-Sprache, so macht uns dies täglich wiederholte Weltbild,
auch wenn es sich von einem Tag zum andern noch so kraß widerspricht,
doch jedesmal wieder ein gewisses Vergnügen oder gibt uns eine gewisse
Beruhigung, denn für einen Augenblick scheint in der Tat die Welt flach,
übersehbar und geheimnislos zu sein und sich jeder Erklärung, die
den Wünschen des Abonnenten entgegenkommt, willig zu fügen. Und
die Zeitung ist ja auch nur eines von tausend Beispielen, sie hat weder die
Entwirklichung der Welt und die Abschaffung der Geheimnisse erfunden, noch
ist sie deren einziger Praktikant und Nutznießer.
2.3.2. aus Briefen (1950)
[767] Ich halte die Weltkriege für vermeidbar, aber nicht durch
Rüstung und neue Anhäufung von Vernichtungsmitteln, sondern durch
Vernunft und Verträglichkeit, und ich glaube nicht daran, daß
irgendein Volk der Welt durch das Rüsten und Kriegführen auf die
Dauer gewinnt und seine Würde und Freiheit retten kann. Ich bin ein
Gegner des Fanatismus, der die ganze Menschheit in zwei Fronten teilen und
diese Fronten mit allen teuflischen Tötungsmitteln aufeinander hetzen
möchte. Und darum glaube ich nicht daran, daß eine
Wiederaufrüstung [...] Segen bringen würde. Besser ist es, Unrecht
zu leiden als Unrecht [zu] tun. Falsch ist es, mit verbotenen Mitteln das
Erwünschte verwirklichen zu wollen. [...] Eine neue und hellere Epoche
der Weltgeschichte und der Beziehungen zwischen den Völkern wird gewiß
nicht von den Siegern in den nächsten Weltkriegen geschaffen werden,
[768] vermutlich aber von den Leidenden und auf Gewalt Verzichtenden.
(68) Die Frage, auf welcher Seite wir im koreanischen Krieg zu stehen haben und wer für ihn und seine Folgen als verantwortlich anzusehen sei, werdet ihr gewiß ähnlich beantwortet haben wie ich. Wir haben in diesem unsinnigen Krieg ebenso wie in jedem anderen Kriege, der heute irgend denkbar ist, nicht auf der Seite dieser oder jener kriegführenden Macht zu stehen, das ist klar, sondern wir lehnen den Krieg an sich ein für allemal ab und halten ihn für ein vollkommen unnütz und töricht gewordenes Mittel zur "Fortsetzung der Politik". Es ist damit wie mit den Atombomben: gemacht und vervollkommnet und aufgespeichert werden sie von genau denselben Mächten, die zu ihrem eigenen Schaden den letzten Weltkrieg "gewonnen" haben und denen es nicht gelungen ist, daraus etwas anderes zu lernen, als daß man eben noch viel heftiger rüsten müsse als je. Die Staatslenker und Generäle der Großmächte haben nichts gelernt und wollen nichts lernen, sie haben seit ihrem traurigen "Sieg" kaum etwas für den Frieden, aber sehr viel für die Ermöglichung neuer Kriege getan. Wir halten sie, [die] bis zum letzten bei der Bombenfabrikation mitarbeitenden Physiker, für unsere Feinde und für die Feinde des Friedens und der Menschheit.
[769] Aber die gleiche aufgepeitschte, hysterische Kriegsangst, die gleiche Anfälligkeit für Gerüchte, die gleiche blinde Hinnahme von satanischen Suggestionen und die gleiche törichte, ungeprüft weitergegebene Meinung, daß es nun selbstverständlich wieder das "arme Deutschland" sei, das den Schauplatz der kommenden Greuel abgeben müsse, steht auch in vielen anderen Briefen, Aufsätzen und anderen Mitteilungen, die mir von drüben zugehen. Man hat Angst, man zittert vor Feigheit, man atmet das Gift der Aufpeitschung, der Gerüchte und Lügen mit einer selbstquälerischen Sensationslust ein, und schwatzt verantwortungslos und kritiklos nach, was die Angstmacher und Kriegshetzer einblasen.
[...] Lieber Freund, ein Krieg kommt nicht aus dem blauen Himmel herab, er muß gleich jeder anderen menschlichen Unternehmung vorbereitet werden, er bedarf der Pflege und Mitwirkung vieler, um möglich und wirklich zu werden. Gewünscht aber, vorbereitet und suggeriert wird er durch die Menschen und Mächte, denen er Vorteil bringt. [770] Er bringt ihnen entweder direkten baren Geldgewinn wie der Rüstungsindustrie (und sobald Krieg ist - wie unzählige vorher harmlose Gewerbe werden da zu Rüstungsgeschäften, und wie automatisch strömt das Kapital diesen Geschäften zu!) oder er bringt ihnen Gewinn an Geltung, Achtung und Macht wie etwa den stellenlosen Generälen und Obersten. So sind zum Beispiel an der Wiederaufrüstung von Deutschland, Japan und anderen zur Zeit militärlosen Ländern viele Tausende und Zehntausende interessiert, Leute mit harten Rechnerseelen oder ehrgeizigen Kriegerseelen, und zu den Mitteln, mit denen diese Leute den von ihnen gewünschten Krieg vorzubereiten bemüht sind, gehört die Verbreitung der Unsicherheit und Angst [...].
Die Welt ist voll von Gefahren und Kriegsmöglichkeiten [...]. Bedroher unserer Welt und jedes Friedens sind jene, die den Krieg wünschen, die ihn vorbereiten und uns durch vage Versprechungen eines kommenden Friedens oder durch Angst vor Überfällen von außen zu Mitarbeitern an ihren Plänen zu machen versuchen. [...]
[771] Es wird gewiß in jedem zur Zeit mächtigen Staat der Welt eine Kriegspartei geben, doch fehlt es auch in besiegten und entwaffneten Ländern nicht an Leuten, die lieber heut als morgen wieder Aufträge für Heer und Krieg annehmen würden, und auch nicht an solchen, die gern wieder statt als Herr Müller als Herr Oberst oder Herr Leutnant angeredet werden möchten. Und so ist es überall. Wir Freunde des Friedens und der Wahrheit [...] dürfen nicht diesen [772] Geschäftemachern und Strebern Gehör schenken und helfen, wir müssen stets zu unserem Glauben stehen, daß es andre Wege zum Frieden und andre Mittel zur Ordnung und Entgiftung der Welt gibt als die Bomben und den Krieg.
2.3.3. Aus einem Rundbrief von 1954
[920] Daß man doch immer wieder, auch wo man es gerne vermiede, auf
Krieg und Frieden zu sprechen kommen muß! Auf den allerseits so gut
vorbereiteten, wenn auch nur von wenigen gewünschten Krieg und den so
gar nicht [921] vorbereiteten und doch von nahezu allen ersehnten Frieden.
Es scheint unvermeidlich.
Wir Literaten können im Kampf gegen den Krieg wenig tun, ist es doch nicht einmal der mächtigen römischen Kirche gelungen, um den FRieden nicht nur zu beten, sondern ihn praktisch verwirklichen zu helfen. Und trotzdem hat der Geist und hat das Wort seine unversiegbare Kraft und damit seine dauernde Verantwortung. Es gibt einen lieben Kollegen, einen der tapfersten ehrwürdigsten Verteidiger des Wortes gegen die Stummheit und Sturheit der Maschinen und Kanonen. Ich habe ihn eben erst zum zweitenmal für den Nobelpreis vorgeschlagen, es ist Martin Buber. Ich will ein Wort von ihm an den Schluß dieses Briefes setzen und bitte euch, es aufmerksam zu lesen. Es lautet:
"Der Krieg hat von je einen Widerpart, der fast nie als solcher hervortritt, aber in der Stille sein Werk tut: die Sprache - die erfüllte Sprache, die Sprache des echten Gesprächs, in der Menschen einander verstehen und sich miteinander verständigen. Es liegt im Wesen schon des primitiven Krieges, daß er jeweils da beginnt, wo die Sprache aufhört, daß heißt wo die Menschen sich nicht mehr miteinander über die strittigen Gegenstände zu unterreden oder sie der schlichten Rede zu unterbreiten vermögen, sondern miteinander der Sprache entfliehen, um in der Sprachlosigkeit des Einanderumbringens eine vermeintliche Entscheidung, sozusagen ein Gottesurteil, zu suchen; bald bemächtigt sich freilich auch der Krieg der Sprache und versklavt sie in den Dienst seines Schlachtgeschreis. Wo aber die Sprache, und sei es noch so scheu, wieder von Lager zu Lager sich vernehmen läßt, ist der Krieg schon in Frage gestellt."
2.3.4. Aus einem Brief an den Verfasser eines Kriegsromans (= "Die
tödlichen Tage" von Werner Walz; 1956)
(204) Wenn auch mancher von uns Literaten die beiden großen Kriege
in Geist und Seele viel tiefer miterlebt und durchlitten hat als irgendein
mit ein paar Narben und ungebrochenem Humor heimgekehrter Kanonier, so haben
wir eben doch die eigenen Köpfe nicht im Feuer gehabt, haben das
unsägliche Elend eines Lebens in Dreck, Hunger Obdachlosigkeit,
Übermüdung und ständiger Todesdrohung nicht miterduldet, haben
nicht die Gewöhnung an den Anblick verbrannter Erde, verstümmelter
und toter Menschen lernen (205) müssen, und wissen durchaus nicht
gewiß, wie wir uns inmitten des Grauens gehalten und bewährt
hätten. Es ist uns nicht erlaubt, den Krieg als das Unsinnige unsrem
Weltbild zu entziehen - er ist es gewesen, ist da und umgibt uns, als Drohung
und Gift unsrer Atemluft beigemischt, zu jeder Stunde. Und wie sollten wir
verschont gebliebenen Nichtkrieger die Arbeiten unsrer Kollegen ignorieren
dürfen, die das Grauen durchschritten haben und nun versuchen, die
Wirklichkeit des phantastischen Albtraumes in Schilderungen festzuhalten
und uns in mahnenden Bildern vorzuhalten? [...] Nein, wir haben mit dem Krieg,
so sehr wir ihn hassen mögen, als mit einem Gift in unsrer Luft, als
mit einem Virus in unsrem Blut zu rechnen und zu leben, und wir haben ernsthaften
Autoren zu danken und zuzustimmen, wenn sie das Unmögliche versuchen,
uns Nichtsoldaten den Krieg als krasse Wirklichkeit in möglichst treuen
Bildern zu zeigen und verständlich zu machen. [...]
(206) Das Quälende und Unheimliche bei alledem - ich denke nicht nur an den Krieg, sondern an alles, was die heutige Lage des Menschen schwer erträglich macht - ist das Bewußtsein der Mitverantwortlichkeit und der Ohnmacht, mit dem wir es erleiden und noch immer anschwellen sehen.
2.4. ZUR MUSIK
(aus einem Brief im Mai 1962, kurz vor Hesses Tod)
In der Karwoche, Du weißt es längst, habe ich beinah
in jedem Jahr meines Lebens eines der großen Oratorien gehört,
einst in Kirchen oder Konzertsälen, jetzt im Radio oder von Platten.
Auch diesmal konnte ich eine Aufführung der Matthäuspassion
hören. Es war schön und herzbewegend und bachte wie jedesmal eine
Flut von Erinnerungen heran, bis in die Knabenzeit zurück. Stärker
und intensiver nachwirkend aber war diesmal ein anderes Werk der alten
Kirchenmusik, das ich nie gehört und von dessen Schöpfer ich nichts
gewußt hatte. Es heißt "Auferstehungshistorie", ist im Jahr 1621
vom Braunschweiger Kantor Siegfried Otto HARNISCH komponiert
und bringt jene so eigen und erregend zwischen Bericht und Fabel schwebende
Legende vom leeren Grab Christi und von seinen Erscheinungen vor den Frauen
und den Emmaus-Jüngern zur Darstellung. Wie in andern ähnlichen
Werken ist die Hauptrolle die des Evangelisten, und sie ist hier streng und
sachlich die des Berichters, beinahe völlig frei von Ornament, Koloratur
und Lyrik. Kein Orchester, keine Orgel, nicht einmal ein Cembalo. Schöne,
kurze Chöre, herrliche zwei- und vierstimmige Arien. Und nun das Unerwartete
und im ersten Augenblick Beklemmende, dann wunderbar Beglückende und
als richtig Empfundene: alle Worte Christi werden nicht von einem Solisten
gesungen, sondern sind zwei- bis vierstimmige Gebilde zartester Lyrik,
tönen geisterhaft aus unirdischen Fernen her und beschwören in
ihrem Gegensatz zum beinah nüchternen Erzähler die so seltsam und
unheimlich widersprüchliche, überwirkliche Stimmung dieser Historie
oder Legende mit unwiderstehlicher sanfter Gewalt. Es ist, als habe dieser
Kantor, indem er die Jesusworte, statt von einem Jesus, von Frauen- und
Jüngerstimmen singen läßt, geradezu der heimlichen
Fragwürdigkeit dieser Geschichte zum Ausdruck verholfen, als habe er
das Phantom wissentlich als nur in den Seelen der Gläubigen existent
darstellen wollen (was ich jedoch nicht behaupten möchte). Der Komponist,
Zeitgenosse von SCHÜTZ und der großen
Kirchenlieddichter, ist jung gestorben, viel mehr konnte ich mit meinen
Hilfsmitteln nicht über ihn in Erfahrung bringen.
4. ÜBUNGEN ZUM TEXT
2.1
1. Lückentext. Bitte ergänzen Sie in folgenden Sätzen die passenden Wörter:
2. zusätzliche Fragen und Aufgaben:
Änderungen und Ergänzungen vorbehalten.
Auswahl, Zusammenstellung, Layout, Übungen (c) WN 2605199 * ergänzt
und neu gesetzt WN 1.7.2002; Stand: 3.7.2k2