Kennen Sie Marburg?

Matthias Altenburg oder der Versuch, mit Arroganz und Verfremdung ein Städteporträt zu "dichten"

Städteporträts können vielerlei Aufgaben erfüllen: zum einen informieren, zum anderen beschreiben, zeichnen, charakterisieren, ganz allgemein machen sie, wenn gut geschrieben, den Leser neugierig, lassen idealerweise den Wunsch aufkommen, einmal dorthin zu reisen, wo es angeblich so hektisch - oder romantisch - zugeht, wo Verschlafenheit oder Weltoffenheit herrscht, wo dem Zeitgeist gefrönt wird oder man auf seltene Anachronismen stößt.

Im ZEIT-MAGAZIN vom 6. Juni 1997 findet sich - auf gerade einer Seite - ein vom noch jungen Theater-Autor Matthias ALTENBURG skizziertes Porträt der altehrwürdigen Universitätsstadt. "Wahrscheinlich fließt sogar ein Fluß durch [...], ich kann mich aber nicht erinnern." Fiktiv-aufgesetzte Schlampigkeit oder wirkliche Unwissenheit? Vielleicht nur auf den ersten Blick erscheint Altenburgs "Porträt" unscharf, oberflächlich, schlecht recherchiert, der Aktualität hinterherhinkend , andererseits (oder vielleicht gerade deshalb?) wimmelt der Text von (mindestens teilweise verletzenden und sinnlos provozierenden) Klischees, verlangt als literarischer Vorwurf nach Klarstellung, Auseinandersetzung, Entgegnung. Ist das Ganze "nur" ein Kunstgriff, um den Leser neugierig zu machen, auf (nach)prüfende Inspektion zu schicken? Lesen Sie Altenburgs Dichtung und überzeugen Sie sich von der Wahrheit - und: wenn Sie wollen, schreiben Sie mir.

MR, den 6.6.97                    Wolfgang NÄSER

Altenburgs Text wurde von mir im Rahmen meiner Übung "Wörter und Wendungen" andiskutiert (17.6.97) und am 24.6.97 als KUNSTPROSA interpretiert. Als freiwillige Hausaufgaben gingen von meinen Teilnehmern bereits einige interessante Stellungnahmen ein; Paul O'MAHONY befaßt sich besonders mit dem literarisch-provokativen Charakter des Textes, der blinde John ROBINSON porträtiert die Universitätsstadt ganz nach seinen persönlichen Eindrücken.

MR, den 7.7.97                  W.N.  


ALTENBURG schreibt:

Kennen Sie Marburg? Nein? Dann seien Sie froh, oder fahren Sie hin. Wie Sie wollen. Hier gibt es nämlich alles, was es eigentlich schon längst nicht mehr gibt. Zum Beispiel Birkenstockschuhe mit Biologiestudentinnen dran, die Emma lesen. Mitfahrgelegenheiten zum Rhein-Main-Flughafen. Schulmediziner, die mit glühenden Augen über Akupunktur debattieren. Veganer, die so radikal sind, daß sie die Scheiben vom Ökoschlachter einwerfen. Erstsemestlerinnen, die was mit ihrem Professor anfangen und hinterher ein schlechtes Gewissen haben. Und richtige Kommunisten. Und Umgehungsstraßen. Oder Comedy-Kongresse und Kleinkunstabende in der Stadthalle. Oder junge Männer, die sich selten waschen, die deshalb Typen heißen und ein Tütchen mit dir rauchen wollen. Und samstags gibt es Bauern mit roten Gesichtern und dicken Frauen, die dicke Hände haben mit dicken Kindern dran, die alles kaufen wollen, weil sie eine Satellitenantenne auf dem Dach haben und deshalb wissen, was es alles gibt in der Welt.

Das Schlimmste an Marburg aber ist, daß es wirklich viel zu schön ist, mit der ganzen Altstadt und dem ganzen Fachwerk und dieser Kirche oder dem Schloß oder was das ist auf dem Hügel und so weiter. Wahrscheinlich fließt sogar ein Fluß durch, das würde mich nicht wundern und gerade noch fehlen, ich kann mich aber nicht erinnern. Das alles ist so schön, daß es schon gar nicht mehr wahr ist, sondern eine so riesengroße Lüge voll mit Japanern und Photoapparaten, die es auch nicht glauben können, und voll mit Amerikanern, die Fort Maddox Ford gelesen haben, in dessen Roman "Die allertraurigste Geschichte" eine deutsche Stadt vorkommt, die M. heißt und die keine andere ist als Marburg selbst. Und voll mit Studenten und ihren plapperhaften Mündern, die über alles ernsthaft reden müssen und noch richtige neue Theorien haben, als würde Marburg nicht in der Welt liegen, sondern irgendwo im 19. Jahrhundert, als das Reden noch geholfen hat. Das Ganze ist so fürchterlich von gestern, daß alle dauernd so tun müssen, als wären sie wer weiß wie auf dem laufenden.

Im Grunde ist Marburg so was Ähnliches wie Tübingen oder Heidelberg oder Göttingen oder Münster oder Bremen, wo es auch überall so Fußgängerzonen gibt, wo man alle Naselang irgendwelche Bekannten trifft, die man garantiert nicht treffen wollte. Oder wie die Schweiz, die auch so klein ist und wo auch alle dauernd Fremdsprachen lernen und wegwollen und Weltreisen machen oder wenigstens nach Frankfurt oder New York müssen, nach Sachsenhausen oder ins Village und in die ganzen Clubs, die sie dann öde finden müssen, weil selbst die alte Knitting Factory nicht mehr das ist, was sie früher mal war, und so weiter. Oder nach Pattaya Beach. Oder Indien. Was weiß ich, wohin sie dauernd alle fahren müssen. Jedenfalls ist Marburg ganz anders als Bamberg, das nämlich wirklich schön ist und es nicht nötig hat, auf so häßliche Weise schön zu tun, wie all die anderen kleinen alten Städte.

Und dann treffe ich in Marburg wirklich einen alten Kommunisten, der da in der Fußgängerzone steht und seine selbst geschriebenen Flugblätter aus der Aldi-Tüte verteilt. Er hat wirklich einen Rentnerblouson an und ein Baskenkäppi auf und wirklich einen alten Hund dabei, der zwischen diesen Rentnerschuhen und dem Infotisch unter einem Sonnenschirm sitzt und mich mit feuchten Rentneraugen anschaut. Bestimmt, denke ich, heißt der Hund Boris oder Fidel oder Trotzkij oder so was. Und ich überlege, ob der alte Mann vielleicht Jude ist. Und ich denke, Jude und Kommunist, das ist bestimmt noch weniger lustig als Rollstuhlfahrer und schwul. Ich schaue gar nicht hin, für was oder gegen was er ist auf seinen Flugblättern, sondern frage ihn nur, wie er das aushält, daß es ihn eigentlich schon gar nicht mehr gibt, und so weiter. Aber statt zu antworten oder mir irgendwas zu predigen oder mir einfach eine reinzuhauen mit seiner alten Bolschewistenfaust, schaut er mich nur lange an. Und dann sehe ich, was ich angerichtet habe, denn plötzlich hat er Tränen in den Augen. Vielleicht, weil er denkt, daß ich ihn ärgern will, oder weil er mich für einen Nazischnösel hält oder sonstwas hinter meiner Frage vermutet, und dann fängt er richtig an zu schluchzen und dreht sich weg, und ich weiß nicht, was ich machen soll, weil ich das ja nicht wollte, sondern ich wollte ja wirklich nur wissen, wie er das alles aushält.

Und seitdem, manchmal, wenn ich mir wieder viel zu sicher bin und mich wer weiß wie großartig fühle und denke, daß die Welt mich nur zu fragen braucht, wenn sie wissen will, wie es mit ihr weitergehen soll, dann also erinnere ich mich an diesen weinenden Kommunisten mit seinem weinenden Hund, der vielleicht doch ganz anders hieß, und werde ganz still und klein und halte einfach mal einen Moment lang den Mund und lasse Marburg und die Welt in Ruhe.

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Worterklärungen und Links folgen demnächst. WN 010797