Materialien zum Wort als Spiegel der Kulturgeschichte (1)

Wolfgang NÄSER, Marburg,
(zum Mittelseminar Lexikologie, WS 1982/83)

Lit.: SCHWARZ, E.: Kurze deutsche Wortgeschichte, Darmstadt 1967 (Gesamtdarstellung der hist. Genese);
SCHIRMER / MITZKA: Deutsche Wortkunde. Kulturgeschichte des deutschen Wortschatzes. Berlin 1969 (Slg. Göschen 929; kürzere Gesamtdarstellung);
SOWINSKI, B.: Germanistik I, Köln/Wien 1970, §§ 201-219 (S. 138-151)
WANDRUSZKA, Mario: Sprachen - vergleichbar und unvergleichlich. München 1969 [DSA: Ai 44]
WANDRUSZKA, Mario: Interlinguistik. Umrisse einer neuen Sprachwissenschaft. München 1971 [DSA: Ai 1000]

1. Grundsätzliche Probleme und ausgewählte Phänomene:

2. Wortbildung: Sprache als Baukasten

Die dt. Sprache arbeitet ähnlich wie ein LEGO(tm)-Baukasten: ein jeweiliges Stamm-Morphem (oder sagen wir besser: Modul) kann mit beliebigen Prä- und Suffixen erweitert bzw. durch weitere selbständige Morpheme zu einem neuen Begriff kombiniert werden, der wiederum Ableitungen zu sich nehmen kann, dies auch innerhalb einer Wortbildungs-Kette.

Betrachten wir zunächst das selbständige Lexem Arbeit. Wortbildungsmäßig fungiert es als Modul und ist entsprechend prä- und suffigierbar:
ab/auf/be/ein/er/hoch/mit/nach/vor/zu/zusammen|arbeit|en usw.
arbeit|er, -erin, -sam, -slos usw.

Wie schon von dem etwas lächerlichen (weil real inexistenten) Scherz-Wort Donau|dampf|schiff|fahrt|s|kapitän bekannt, eignet sich die deutsche Sprache hervorragend zur Bildung beliebig langer Wortzusammensetzungen, die, wie folgendes von mir geprägte Beispiel zeigt, durchaus (und in unserem Falle als Fach-Lexem) in der Praxis möglich (und berechtigt) sind:
Sender|end|stufe|n|neutralisation|s|kondensator

Es handelt sich hier um ein Bauteil, das in der Endstufe eines Senders von der Röhrenanode auf kürzestem Wege an Masse geführt wird, um sog. wilde Schwingungen (Selbsterregung, unkontrollierbare vagabundierende Hochfrequenz) zu eliminieren bzw. auszuschließen. Der Kondensator neutralisiert die Endstufe, nimmt ihr, um es figurativ auszurdrücken, jede Selbständigkeit und macht sie zum reinen 'Befehls-Empfänger'; die so neutralisierte Stufe verstärkt nur noch das, was ihr in definierter Weise ans Steuergitter zugeführt wird, fügt selbst nichts Störendes hinzu.

Unser fachterminologisches Lang-Wort können wir, wie mit den senkrechten Strichen markiert, segmentieren: zunächst in die vier selbständigen Lexeme Sender, End|stufe, Neutral|isat|ion, Kondens|at|or; End|stufe gliedert sich wiederum in Präfix (gebundenes Morphem, das [im Gegensatz zu Vor-] als Ende auch selbständig sein kann) + Stamm-Lexem. Sender|endstufe + Neutralisation werden durch das Fugen-Zeichen /n/ aneinandergebunden, Neutralisation + Kondensator durch analoges /s/. Die Fugenzeichen markieren als tatsächliche oder analogische Flexionsmorpheme syntaktische Relationen, die der Wort-Komposition zugrundeliegen: sozusagen die syntaktische Tiefenstruktur. In Liebe|s|brief (=Brief der oder aus Liebe) könnte das /s/ einen Qualitätsgenitiv markieren, der jedoch dem neuhochdeutschen Sprachstand nicht mehr entspricht; allerdings gab es im Mhd. ein Substantiv liebe mit männl. Geschlecht (analog zu lat. amor) und entsprechendem Genitiv auf -s. In Rücksicht|s|losigkeit folgt das Fugen-/s/ diesem (von Ausländern schwer nachvollziehbaren!) Schema. Der umfassend gebildete Romancier Jean PAUL schreibt Liebe|brief und umgeht so wie der moderne Begriff Bleibe|verhandlungen entsprechende Strukturprobleme.

(wird ergänzt) HTML: (c) W. Näser 12/99