1a) Missingsch
Eine Art (regionale) Halbmundart, wird (heute noch in Hamburg, Kiel u.a.) meist von der Unterschicht (Hafen-, Werftarbeiter u.a.; vgl. das Ruhrdeutsch Jürgen von MANGERs) gesprochen; Charakteristika: u.a. falsche Kasus (Es is mich ... unmöglich, von die ... Kunß; über ihr schnacken; ihm blätterte; den Macker drehte ...); [assimilatorische] Verschleifungen (dascha < das ist ja; aussas < aus dem; vonnie < von der (eig. die), annen < an dem, dassu < daß du; vgl. Assimilation in Bunnestach); silbendehnende Tilgung eines postvokalen /r/ (wahn < waren; ein paa; Fäänsehn, ganich, nomal, Gegenwaht, modän); verbale Erweiterung mit 'tun' (wennu ... bekuken tust);  Universal-Relativum wo (die Dame, wo den verkaufte); Palatalisierung (jünger > schünger; jetzt > schezz; ja > tscha); Auslassung des -t in 2. und 3.Sg.Präs.Ind. und Part.Perf. sowie anderswo ([du] glaubs, [du] weiß, [was] heiß [aber: sacht 'sagte'], häng '[sie] hängt'; verkuk: vgl. Afrikaans beperk 'beschränkt'; meiß 'meist', Kunß 'Kunst' [analog: künßlerisch]); 'eigensprachliches' /st/ und /sp/ werden 'norddeutsch' realisiert, in Fremdwörtern dagegen 'hyperkorrekt' als /schp/ und /scht/ (Proschpeck, Schtaatssekretär; vgl. auch Revolutschon); s-Plural (mit Doppelmorphem: Augens, Kwalens, Männers, Meinungens, Sachens; vgl. dazu im Hauptmann von Köpenick den (ostpreuß.) Grenadier Kaludrigkeit: "De Augens links!").

Anmerkung: Nachstehende Probe repräsentiert nur eine (allerdings sehr witzige) Spielart des Missingsch, das, wie auch ein Blick ins Internet zeigt, in bezug auf Vorkommen und Struktur nicht einheitlich betrachtet und charakterisiert wird. Jochen Steffen, der in Marburg auch live vortrug*), sein Text und dessen Kommentierung durch mich erheben demnach keinen wissenschaftlich validen Anspruch, alleinige Vertreter der sicher thematisch und ausdrucksmäßig sehr facettenreichen Sprachvarietät zu sein. W.N., 13.11.2001
Ausschnitte aus meiner Live-Aufnahme von Jochen Steffens eindrucksvollem Auftritt im alten Marburger "KFZ" im August 1981 finden sich hier.

Jochen STEFFEN: Von die modäne Kunß

(Text in: Kuddl Schnööfs achtersinnige Gedankens und Meinungens von die sozeale Revolutschon und annere wichtige Sachens, Hoffman un Campe sien Verlach, Hamburg 1972, S. 61 f.)

Ich sach zu mein Natalje: »Ich as sochcher«, sach ich, »ich fühle mir sozeal unterbewertet. Es is mich meiß unmöglich un kommen in gehobene Kreise zu Woht. Und wa'um? Weil ich nix von die modäne Kunß verstehn tu. Das wird ab sofoht anners. Wir besuchen schezz 'ne Ausstellung von dieselbe.« Mein Natalje: »Glaubs du denn«, sacht sie, »dassu denn was davon verstehs?« Ich sach: »Was heiß hier verstehn«, sach ich, »abers du weiß denn doch wenichstens, wie du über ihr schnacken soß. Dascha die Haupsache.« Mein Natalje sacht: »Verständnis vonnie modäne Kunß is also«, sacht sie, »wennu da'über schnacken kanns.« Nu komms du!

Das wa ma wieder eine von sie ihre dämlichen Turen. Was weiß ich, ob die annern, die immer so über die modäne Kunß tünen, wirklich was von ihr verstehn. Und wir denn scha los. Annen Eingang kaufte ich einen Proschpeck. Den muß du haben. Denn in ihm steht in, was du sehn saß, wenn du die Billers bekuken tust. Die Dame, wo den verkaufte, wa schüngeren Datums. Abers auch künßlerisch. Sie truch 'ne Hornbrille un zottelige Haare um Kopp. Die annern, die da rumlatschten, sahn so ähnlich aus. Bei die Männers konnteß du das Künßlertum da an sehn, da sie sich wochenlang davor gehütet hatten, zu nahe an den Rasierapparat ranzugehn. Und dann wahn da noch ein paa nomale Menschen. Sie sahen mich zun Verweckseln ähnlich. Abers den Schein trüchte. Das wa bloß äußerlich.

Wir stannen vor ein Wähk, was aus einen weißen Plazz mit eine braune Schlangenlinie, so 3,4 pro mille, quer durch bestehn tat. Mein Natalje sacht: »Kuddl«, sacht sie, »was is das?« Ich sach: »Gewissenskwalen eines Kazett-Aufsehers nach die Verjährungsdebatte innen Bunnestach«, sach ich Mein Natalje sacht: »Huch, wie intressant«, sacht sie, »ganz was Neues.« Ich sach: »Das kann man woll sagen!«

Mein Natalje sacht: »Wo issen das Gewissen?« Ich sach: »Das Gewissen dieses Mannes«, sach ich, »wird mittels den großen weißen Placken sozusagen sümbollisch dagestellt.« Mein Natalje sacht: »Und die Kwalen?« Ich sach: »Das is die braune Schlängelei«, sach ich, »sie kommp aussas Unendliche, und ihr geht innas Unendliche.« Mein Natalje kuk mir ganz perplex an un sacht: »Denn kann ja«, sacht sie, »weder von ein Gewissen noch von Kwalens die Rede sein.« Ich sach: »Tschä, hat das den Künßler nich wunnerbar ausgedrück? Das is die Modäne!«

In düssen Momang kam einen vonnie äußerlich Nomalen auf uns los. Er sacht: »Wie wirk auf Ihnen das Büld, gnää Frau?« Mein Natalje flötete innie höchsen Töne - das hält ihr für vonehm, nachdem sie 'n paama Willemine Lübke in Fäänsehn bekuk hat - un vedrehte die Augens: »Ooch«, sacht sie, »ganz nett. Wa scha nich viel Aabeit bei, nich? Abers es geht nix über 'ne ruhige, bedeckte Tapete!« Nu komms du.

Den Macker drehte den Kopp, as ein Huhn beis Wassertrinken un sacht: »Intressant«, sacht er, »da komm wir auf den gewissermaßen trifialen (oder sachte ihm: trinitalen?) Zuch innas Ganze. Tscha ...« Ihm blätterte fix innen Katalog »Dascha die 'Einsame Stunne'!« -»So?« sacht mein Natalje, »ich denk, es hannelt sich um die Gewissenskwalen von einen Kazett-Aufseher.« Der Macker sacht: »Abers das gib das hier doch ganich!« Nu komms du!

Ich sach: »Enschulligung, mein Besten«, sach ich, »das wa bloß einen dummen Wizz von meine Wenigkeit. Ich wollte vorschlagen, dies Bild as sochches so zu benenn und es den Schtaatssektretär Vialon, oder as den Macker heiß, zu widmen.« Den Kopp von den Macker spielte in alle Fahben. So, wie bei ein modänes Gemälde. Ich sach: »Un außerdem«, sach ich, »ham Sie sich innie Nummer verkuk. Das hier is 'Spuren in Schnee'. Die 'Einsame Stunne' häng zwei weiter längs. -»Ischa egal«, sacht mein Natalje, »abers as Tapete ... doch, doch!« Kuk, auf düsse Aht habbich bemerk, dassich auch was von unse Kunß in die Gegenwaht verstehn tu. Nu komms du!

WORTERKLÄRUNGEN:

achtersinnig  hintersinnig, -gründig
as sochcher  als solcher
aussas: aus dem (+ neutral. Subst.; Richtungsangabe: aussas ... innas)
bekuk  besehen, angeschaut
Billers  Bilder, Gemälde (Singular: Büld)
Bunnestach  Bundestag
dascha  das ist ja
dassu  daß du
düsse  diese
Enschulligung  Entschuldigung, Pardon, Verzeihung
Fäänsehn  Fernsehen, Fernsehprogramm
fix  schnell
ganich  gar nicht
ham Sie  haben Sie
hannelt  handelt
ihm  er
innas in das (...hinein)
innie  hier: in der
ischa  ist ja
issen  (in Fragesätzen:) ist denn
kommp  kommt
kuk  guck, schau mal
Kwal  Qual (Plur. -ens)
Macker  Mensch, Kerl
meiß  meist
modäne Kunß  moderne Kunst
'n paama  ein paarmal
Proschpeck  Prospekt, Katalog
sacht  sagt
scha nich  hier: offenbar nicht
schnacken  reden
schezz  jetzt 
soß sollst
sozeal  sozial (das e-a wird deutlich gestuft realisiert)
Stunne  Stunde 
sümbollisch  symbolisch
tünen  reden, sprechen, sich auslassen ('tönen'); vgl. Tünkram "dummes Geschwätz" 
vonnie  von den (Plur.) / der
Wähk  (Kunst-)Werk 
wo  (Relativpronomen:) der / die

Adaptation und Erläuterungen: W. NÄSER 14.2.98; Änderungen und Ergänzungen vorbehalten
*) Ich hatte das Glück, Jochen Steffens Lesung vom 24.6.1981 im Marburger "KFZ" live aufzunehmen; die Begegnung mit diesem wunderbaren, durch und durch integren, viel zu früh verstorbenen Menschen werde ich nie vergessen.