Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002

Niemöller, Martin (1892-1984): Verschiedene Texte

Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Sozialdemokrat.
Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Gewerkschafter.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.”

Wache Augen, kritisches Interesse und kompromißlose Mitmenschlichkeit prägen das Antlitz dieses in vieler Hinsicht ungewöhnlichen Menschen. In stets ehrlicher Liebe zu seinem Land und dessen Menschen wurde Niemöller vom tapferen Soldaten zum unerschrockenen Prediger und radikalen Pazifisten. Die unbedingte Treue zum Wort Gottes durchzieht alle Schriften dieses wichtigen Zeugen und Protagonisten des 20. Jahrhunderts.
Am 14. Januar 1892 als Pfarrerssohn in Lippstadt geboren, ist Niemöller 1912 Leutnant zur See auf dem Linienschiff "Thüringen" und dient im 1. Weltkrieg auf vier U-Booten, zuletzt als Kommandant von UC 67. Nach Auswanderungsplänen (Argentinien) quittiert er 1919 den Dienst, heiratet im Angesicht einer Spartakistendemonstration, erlernt die Landwirtschaft "auf heimatlicher Scholle" , schlägt den Posten eines Betriebsdirektors aus, studiert ab Jan. 1920 Theologie in Münster, kämpft nach dem Kapp-Putsch im Frühjahr als Bataillonskommandeur der "Akademischen Wehr" gegen den blutigen Aufstand kommunistischer Ruhrarbeiter, schuftet in der Inflationszeit auch als Reichsbahn-Rottenarbeiter, besteht im Frühjahr 1923 sein erstes Examen, wird (als Vater dreier Kinder) nach kurzer Zeit als Geschäftsführer der Inneren Mission Westfalen Ende Juni 1924 in der Münsteraner Erlöserkirche zum protestantischen Geistlichen ordiniert und 1931 Pfarrer in Berlin-Dahlem. Angesichts der politischen Entwicklung ruft er im Herbst 1933 zur Gründung eines Pfarrernotbundes auf, aus dem 1934 die (mit Dietrich Bonhoeffer gegründete) Bekennende Kirche entsteht. Der einstige Marineoffizier ist zum kompromißlosen Prediger geworden. "Liebe Gemeinde, das ist von altersher die Lieblingssünde der frommen und anständigen Leute gewesen, daß wir uns selber zu Richtern machen und uns selber freisprechen, indem wir andere verurteilen oder feststellen, daß andere von Gott verurteilt sind." - Nach einer ersten Verhaftung im Jahre 1935 laufen 1937 gegen ihn mehr als 40 Gerichtsverfahren wegen "Kanzelmißbrauchs" und "staatsfeindlicher Äußerungen". Am 2.3.1938 wird N. in einem nichtöffentlichen Berliner Prozeß zu sieben Monaten Festungshaft und 2.000 Reichsmark Geldstrafe verurteilt und später als "persönlicher Gefangener" Adolf Hitlers ins Konzentrationslager Sachsenhausen verbracht; ab 1941 ist er im KL Dachau (=> Weihnachtspredigt 1944). Im April 1945 durch die SS zur Hinrichtung nach Südtirol verschleppt, wird N. durch US-Truppen befreit. Im Juni 1945 zur Familie an den Starnberger See heimgekehrt, wird N. zum stellvertretenden Ratsvorsitzenden der "Evangelischen Kirchen in Deutschland" und Präsidenten des kirchlichen Außenamts gewählt. In programmatische Reden rechnet er mit dem NS-Regime ab. „Mit scharfen Worten geißelte Pastor Niemöller die evangelische Kirche, die in der vergangenen Jahrhunderten oft Kriege guthieß und die Waffen gesegnet hat. Er stellte ihr die tapferen Kämpfer entgegen, die unerschrocken für ihre Ideen eingetreten sind und wies besonders auf die Zeugen Jehovas hin, die zu Tausenden den Tod in KZ-Lagern erlitten haben.“ (Südd. Zeitung v. 7.12.45). Im Stuttgarter Schuldbekenntnis (19.10.1945) artikuliert er kirchliche Mitschuld an den NS-Verbrechen: "Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. [...] Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben." Seit 1947 ist er Kirchenpräsident der Evangelischen [Landes]kirche in Hessen und Nassau; unternimmt Vortragsreisen durch die USA, nach Norwegen und Dänemark. 1950 lehnt er in einem offenen Brief an Konrad Adenauer die Wiederbewaffnung ab; er arrangiert ein informatives Treffen mit Atomwissenschaftlern (Hahn, Heisenberg, Weizsäcker), weil sich der Rat der EKD nicht in der Lage sieht, eine Erklärung zur Wasserstoffbombe abzugeben. Die 14. Synode der Ev.-Lutherischen Landeskirche Hannover verurteilt am 26.10.1950 sein polit. Verhalten als »unbrüderlich und verderblich«. Auf Einladung des Patriarchen Alexej der russisch-orthodoxen Kirche reist N. am 2.1.1952 nach Moskau. "Er suchte und fand Christen in der Sowjetunion und kam mit ihnen ins Gespräch, das später sogar in der weltweiten Ökumene Früchte trug." (P. Steinacker 2002). N. setzt sich dort auch für die deutschen Kriegsgefangenen ein; später wird er Präsident der (1892 gegründeten) Deutschen Friedensgesellschaft. 1955 gibt er seinen Sitz im Rat der EKD auf und bereist 1959 zu Vorträgen die DDR. In einer Kasseler Rede erklärt N., im Zeitalter der nuklearen Massenvernichtungsmittel sei die Ausbildung zum Soldaten eine Ausbildung zum Massenmord. 1962/63 begegnet N. in Indien Jawaharlal (Pandit) Nehru, besucht das Weltjugendfestival in Helsinki, wird Ehrenmitglied der Poncas-Indianer und engagiert sich 1964 für die Ostermärsche. „Die Ostermärsche gehen weiter und müssen weitergehen, damit es deutlich wird, wir wollen keinen Krieg mehr.“1965 besucht er Albert Schweitzer in Lambarene, reist nach Süd-Vietnam, 1967 auch nach Nord-Vietnam und wird Präsident des Weltfriedensrates. 1961-1968 ist N. einer der sechs Präsidenten des Weltkirchenrates, 1974 Mitbegründer des (DKP-nahen) "Komitees für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit", 1976 Ehrenpräsident der Dt. Friedensgesellschaft /Vereinigung der Kriegsdienstverweigerer (DFG/VK), kämpft gegen die Einführung der Neutronenbombe, beteiligt sich 1979 am Brüsseler Protestmarsch gegen den NATO-Nachrüstungsbeschluß und ist Mitinitiator des „Krefelder Appells“ (16.10.1980) gegen neue Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik Deutschland.1982 zählt er zu den Mitbegründern der "Bibliothèque Internationale de la Paix" (9 rue forst, F-57200 Sarreguemines /Alsace). Seit 1971 in zweiter Ehe mit der ehemaligen Schauspielerin und später zum jüd. Glauben konvertierten Sibylle [Sarah] von Sell verheiratet, stirbt Niemöller am 6.3.1984 in Wiesbaden.

Werke: Vom U-Boot zur Kanzel, Berlin 1934 (Autobiografie; siehe unten Text 1); zahlreiche Monografien, Aufsätze, Artikel u. Vorträge, u.a. Ehre und Vaterland (1927),  Jesus, der gute Hirte (1929);  Innere Mission (1930); Heldengedächtnis (1932), Sätze zur Arierfrage in der Kirche (1933), Das Bekenntnis der Väter und die bekennende Gemeinde (1933), Was will die Bekennende Kirche? (Vortrag 1934); Dienst der Kirche am Volk (Vortrag 1935), Der Friede Gottes als die Kraft des wehrhaften Mannes (1935), Der Freund von der Straße (1936), Die Bedeutung des Alten Testaments für die christliche Kirche (1936), Der alleinige Herr der Kirche: Jesus Christus (Vortrag 1936), Wir rufen Deutschland zu Gott (1937), Ich glaube, darum rede ich (1939), Die Erneuerung unserer Kirche (1946), Über die deutsche Schuld, Not und Hoffnung (1946), Gedanken zur europäischen Lage (1947), Für oder gegen Christus - die Entscheidungsfrage des deutschen Arbeiters (Vortrag 1953), Das Vermächtnis des deutschen Widerstandes (1954), Kirche in der Massengesellschaft. Neue Aufgaben in der gewandelten Welt (1960), Deutschland als Brücke zwischen Ost und West (1962), Die evangelische Kirche und der Frieden (1967), Das Stuttgarter Schuldbekenntnis - eine Frage an uns Christen heute (Vortrag 1971), Plädoyer für den Menschen (1972), Die Verantwortung des Christen in der Gesellschaft (Vortrag 1973), Kriegsursachen erkennen und beseitigen (Vortrag 1973), Die politische Dimension der Kirche (Vortrag 1974) [weiteres hier]; umfangreicher Nachlaß mit vielen hunderten Predigten u.a.
Ehrungen: u.a.Wichernplakette der Inneren Mission, Lenin-Friedenspreis der UdSSR, Großkreuz des Bundesverdienstordens, Albert-Schweitzer-Friedensmedaille (1972), DDR-Friedensmedaille in Gold, Carl-von-Ossietzky-Medaille (1983); Dr.h.c. (Doctor of Divinity, Honoris Causa) des theol. Seminars Eden /USA, der theol. Akademie Budapest, der theol. Fakultäten Göttingen, Halifax, Neu-Delhi und Chicago. Die amerikanische Immortal Chaplains Foundation verlieh im Jahre 2001 Martin Niemöller posthum die von ihr gestiftete „Preis der Menschlichkeits"-Medaille.


1. Aus: Vom U-Boot zur Kanzel (1934; hier aus der Ausgabe Berlin: Martin Warneck 1938; Seitenangaben in [])

1.1. [57, 25. Januar 1917, bei der Versenkung eines Truppentransporters] Die Wasserbomben bleiben aus. Nach zehn Minuten sind wir wieder auf Sehrohrtiefe. Der Dampfer sinkt über den Achtersteven weg; der eine Zerstörer ist bei ihm geblieben und nimmt Menschen über! Die beiden andern haben mit dem zweiten Dampfer nach Süden abgedreht und laufen mit höchster Fahrt davon.

Was tun? Es liegt uns nicht, den Zerstörer bei seinem Rettungswerk zu stören. Wir möchten ohnehin nicht in seiner Haut stecken; denn wie vielen wird er nicht helfen können! Aber Krieg ist Krieg, und die Leute, die da aus dem Wasser gezogen werden, sind Soldaten, die an die Front sollen, Soldaten, die auf unsere deutschen Brüder schießen werden. Krieg ist Krieg! Und wir versuchen, zu einem zweiten Torpedoschuß auf den Zerstörer zu kommen. Aber der sieht uns, nimmt Fahrt auf und überschüttet uns mit einem Hagel von Granaten. Sie treffen zwar nicht, denn das Sehrohr ist ein allzu kleines Ziel; nur ist es mit unserm Angriff jetzt aus. Wir können nur hier und da noch unser Sehrohr zeigen und auf diese Weise verhindern, daß der Zerstörer allzu viele Leute aus dem Wasser fischt. Dann laufen wir ab, nachdem der Dampfer gesunken ist und begeben uns, wie vorgesehen, auf den Heimmarsch!

In der Offizierskammer gibt es noch ein längeres Gespräch: taten wir recht, als wir den Franzosen bei seinem Rettungswerk störten? Ganz wohl war uns allen bei der Frage nicht; aber die Gegenfrage barg ja dieselben Schwierigkeiten: Hätten wir recht getan, wenn wir den Zerstörer bei seinem "Rettungswerk" nicht gestört hätten?! Und plötzlich breitete sich das ganze Rätsel "Krieg" vor unseren Augen aus; mit einemmal wußten wir aus einem Stückchen eigenen Erlebens um die Tragik der Schuld, der [58] zu entgehen der einzelne kleine Mensch einfach zu schwach und hilflos ist.

Moratorium des Christentums? Wie oft ist in Theologenkreisen damals das Wort gefallen; wir jungen Offiziere ahnten nichts davon, interessierten uns auch wenig für theologische Formulierungen. Aber das sahen wir, daß es Lagen gibt, wo jede gesetzliche Moral Bankrott macht, wo keine Möglichkeit bleibt, sich ein unverletztes Gewissen zu bewahren. - Und wo die Frage, ob wir in Verzweiflung oder Trotz scheitern oder aber mit lebendigem Gewissen durch die Anfechtung hindurchgehen, daran und allein daran hängt, ob wir eine Vergebung glauben! Im Grunde war eben jenes Reden vom Moratorium des Christentums nur der Ausdruck für den letzten Zusammenbruch einer vom Glauben gelösten, aber dennoch für "christlich" gehaltenen Moral, der ein Moratorium auf Zeit nicht mehr helfen konnte, weil sie schon tot war und es nur noch nicht wissen wollte! Mir aber ist dieser 25. Januar für mein Leben bedeutsam geworden, weil er mir die Augen öffnete für die Unmöglichkeit eines moralischen Weltbildes.

1.2. [150; Anfang 1919] Es kam mir zum Bewußtsein, daß der Offiziersberuf für mich seinen eigentlichen Sinn mit der Abschaffung der allgemeinen Dienstpflicht verlieren mußte und daß ich es einfach nicht fertigbringen würde, dem neuen Staat, dessen Grundlinien schon erkennbar wurden, als Soldat zu dienen. Und wie stand ich eigentlich zu meinem Volk? Was ich in diesem Vierteljahr in Kiel und Elberfeld, in Westerkappeln und in Berlin gesehen hatte, das hatte mich mit tiefer Sorge und Bitterkeit erfüllt; und es war mir gewiß geworden, daß ein neuer Anfang, wenn überhaupt, dann nur von den Grundlagen aus möglich sei, von einer Rückkehr zu Sitte und Sittlichkeit. Das künftige Schicksal des Volkes lag bei der Familie, bei Schule und Kirche als den Quellorten schöpferischer Lebenskräfte eines Volkes! - Und so klärte sich mir das Bild der eigenen Zukunft: In Deutschland konnte ich nur als Privatmann, jedenfalls nicht in irgendeinem öffentlichen Dienst leben. Und wenn ich einen wirklichen Beruf haben wollte, so konnte es nur einer sein, der die Möglichkeit, an einer ernsthaften Erneuerung unseres Volkes mitzuwirken, offenließ oder in sich schloß.

[162] Im Augenblick zog das letzte Jahr an mir vorbei [...] Und plötzlich wußte ich, daß ich in diesen Monaten ein anderer geworden war, daß die Zäune gefallen und Volk und Heimat mir wieder nahe[163]gerückt waren, so nahe, daß ich diesem meinem Volk aufs neue verpflichtet war. Nun hielt es mich nicht länger, ich mußte an diesem Abend noch mit meiner Frau sprechen; und spät abends vor dem zubettgehzen schrieb ich in mein Tagebuch: "Werde ich Theologe?" [...]

Es war kein eigentlich theologisches Interesse, was dahintersteckte und den Ausschlag gegeben hätte: für Theologie als Wissenschaft, die Probleme lösen will, hatte ich von Hause aus keine Ader. Aber daß das Hören auf die Christusbotschaft und der Glaube an Christus als den Herrn und Heiland neue, freie und starke Menschen macht, dafür hatte ich in meinem Leben Beispiele gesehen, und das hatte ich aus meinem Elternhaus als Erbe mitgenommen und im Auf und Ab, im Hin und Her meines Lebens festgehalten. Damit konnte ich, das war meine Überzeugung, meinem Volk aus ehrlichem und geradem Herzen dienen; und damit konnte ich ihm vielleicht mehr und besser helfen in seiner trostlosen völkischen Lage, als wenn ich still und zurückgezogen nur einen Hof bewirtschaftet hätte, wie ich mir das gedacht hatte.

1.3. [198] Nun war mit dem bestandenen ersten Examen ein wichtiges Teilziel erreicht; und ich fing langsam wieder an, mich als ein Mensch zu fühlen, der festen Boden unter den Füßen hat und seiner Familie eine Existenz im bürgerlichen Sinne bieten kann. Und ich kann nicht leugnen, daß mich dies Gefühl, das mir ganz neu war nach den Geschehnissen der letzten drei Jahre, damals sehr stark bewegt hat. Als ich das Studium begann, spielte es so gut wie gar keine Rolle; aber in der Zwischenzeit hatte ich doch die Seelenstimmung des Proletariers, des Menschen, der nichts hat, sondern mit den Seinen von der Hand in den Mund lebt und von einem Tag in den andern, an mir und den Meinen sehr deutlich erfahren. Auch das war gewiß nicht umsonst, sondern mit anderm zusammen ein wichtiges Stück meiner inneren Vorbereitung auf den Beruf des Pastors und Seelsorgers: Ich wußte und weiß, wie es den Menschen ohne Existenz und ohne feste Anstellung und ohne nährende Arbeit zumute ist. Und ich sehe auch in dieser Führung meines Lebens etwas von der Providentia specialissima, von der ganz besonderen Vorsehung Gottes, die mich gerade so und absichtlich nicht anders ans Ziel kommen ließ!

1.4. [209; aus dem Nachwort] Als ich nach bestandenem Abiturium das Elternhaus verließ, um in die Kaiserliche Marine einzutreten und damit den brennenden Wunsch, der mich von früher Kindheit an erfüllt hatte, zu verwirklichen, da war die Krise [der Jugend] überwunden! Und in den Jahren, die nun folgten, kam trotz mancher[210]lei innerer Kritik und Zweifel die Grundlage doch niemals ins Wanken; vielmehr wußte ich mich dem Geist des Vaterhauses eng verbunden und zugehörig! - Ich hätte auch damals wohl, wenn meine Hoffnungen sich als Täuschung herausgestellt hätten, Theologie studieren und Pastor werden können. - Nun aber ging ich ruhig meinen Weg, und ich bin als Seeoffizier über alle Maßen glücklich gewesen in meinem Beruf!

Dann kam der Krieg mit seiner ehrlichen Begeisterung und dem Aufbrechen aller guten, vaterländischen Instinkte; es kam die große Enttäuschung, daß wir über eine schlagkräftige Flotte verfügten und sie nicht zum Einsatz brachten; es kam die Zeit des zähen, erbitterten Ringens gegen einen übermächtigen Feind; es kam das Abebben der physischen und seelischen Widerstandskräfte unseres Volkes.

Und wir jungen Leute machten alle diese Wandlungen mit durch, ohne uns dessen recht bewußt zu werden. Ich bin bei allem Grauen des Krieges mit sehr großer Selbstverständlichkeit und ohne eine Erschütterung, die mich in der letzten Tiefe der Seele gepackt hätte, hindurchgekommen; wenn ich auch nicht verschweigen will, daß die bange Frage nach der Zukunft unseres Volkes im Fall einer Niederlage mich in den Zeiten der Ruhe und des Urlaubs beständig gedrückt hat.

Die Erschütterung, die endlich die Grundfesten meines Wesens und Daseins ins Wanken brachte, so daß ich eine Klärung und Entscheidung für meine Person vollziehen mußte, das war erst die Revolution, die kein Umbruch, sondern ein Zusammenbruch war!

Damals versank mir eine Welt; und das war die Frage, die zwar hinter allen unsern Erdenwegen steht, aber erst [211] damals anfing, mir vernehmbar zu werden: ob wir - dennoch! - Gottes Wirklichkeit und Herrschaft, sein Gesetz und seine Gnade in unserem Leben, das ohne ihn am Ende ist, und im Leben unseres Volkes, das ohne ihn auch am Ende ist, gelten lassen wollen?! - Und da bleibt uns nichts als das Wort!

So war es doch ein inneres Muß mit dem Weg auf die Kanzel, nicht aus der Tradition heraus und nicht in dem Gefühl, aus eigenem Erleben und Erfahren etwas bieten zu können; wohl aber in der Gewißheit, daß wir allesamt ohne dies Wort Gottes nicht leben und nicht sterben können!

Dies Wort ist die Gottesgabe, die unserer Kirche anvertraut ist; und mit ihr allein wird sie allezeit zu dienen haben, damit unser Volk nicht arm werde an ewigem Gut, und damit das gewaltige Werk der völkischen Einigung und Erhebung, das unter uns begonnen ist, einen unerschütterlichen Grund und dauernden Bestand gewinne!

2. Aus: Die Rolle der Tradition im Protestantismus (1939)

[...] Eine "Autonomie" im Sinne der französischen Aufklärung gibt es weder bei Luther noch bei sonst einem der Reformatoren, natürlich erst recht nicht in einer der reformatorischen "Bekenntnisschriften". Luther beruft sich in Worms ausdrücklich auf sein "in Gottes Wort gebundenes" Gewissen. Er ist nie der Meinung gewesen, der Mensch könne aus sich - autonom - die Wahrheit seines Lebens als eines Lebens unter und vor Gott finden, sondern er weiß sich in diesem Streben vollkommen von einer Autorität abhängig: Gott muß sich zu erkennen geben, wenn ich ihn soll erkennen können. Keine irgendwie geartete "Freiheit" setzt mich in die Lage, mir etwas zu verschaffen, was Gott nicht gibt; die unter den Reformatoren nicht ausgekämpfte Frage blieb nur die, ob der Mensch die "Freiheit" hat, etwas von sich abzuweisen, was Gott ihm geben will (praedestinatio duplex oder simplex oder wie man das immer nennen mag!). Die "Heteronomie" als "Theonomie" gegenüber allen "Autonomie"-Ansprüchen des Menschen ist also bei den Reformatoren gerade stärker betont als im Lehrsystem der katholischen Kirche, die gegenüber der reformatorischen Erbsündentheorie gerade die "Willensfreiheit" als unveräußerliches Naturgut des Menschen verteidigte. Stellen wir also zunächst fest, daß es nach evangelischer Lehre keine Autonomie des Menschen in Glaubensdingen gibt, da aller Glaube auf dem objektiv gegebenen und allein autoritären "Wort Gottes" beruht. Nimmt man dieses eine autoritäre "Dogma" der evangelischen "Kirche" fort, so bleibt überhaupt nichts Einigendes, nichts Verbindendes übrig, wie die Geschichte bis in diese Tage mit Deutlichkeit erweist: Es gibt keine evangelische Kirche, es gibt keine evangelischen Christen, es gibt nur eine protestantische Zweckgemeinschaft mit ständig wechselnden Interessen, die auf dem Gebiet der Politik (Heckel), der Philosophie (Hirsch), der Wissenschaft oder sonstwo liegen mögen. Man wird sagen müssen: Der reformatorische Glaube ist Dogmenglaube par excellence, indem er sich auf das eine Dogma von dem einen, unveränderlich für alle Zeiten gegebenen Gotteswort der Bibel stützt. Fällt der Glaube an dies Dogma, bleibt nur noch eine hohle Schale ohne Inhalt.

Was hat es nun mit der "Glaubens-" oder "Gewissensfreiheit" auf sich? Hierbei handelt es sich lediglich um eine Frage der seelsorgerlichen Methode. In Glaubensdingen - so meint es Luther - darf kein menschlicher Zwang auf das Gewissen des andern ausgeübt werden, weil hier nur die eigene Überzeugung gilt. Es ist also verwerflich, durch Aussicht auf Lohn zu locken oder durch Aussicht auf Strafe zu drohen? Aber auch das ist schon zuviel gesagt. "Gottes Wort" selber lockt ja durch Aussicht auf zeitlichen wie ewigen Lohn; "Gottes Wort" selber droht ja mit zeitlichen und ewigen Strafen. Es soll sich nur nicht der Mensch oder eine menschliche Gemeinschaft das Recht nehmen, von sich aus und für ihn gut scheinende Zwecke diese Vollmacht des "göttlichen Wortes" in Anspruch zu nehmen. Diese Forderung wird keineswegs von allen "Reformatoren" erhoben. Aber Grundsatz der Reformation wird es je länger, desto klarer: In Glaubensdingen soll keine andere Autorität als die des "Wortes Gottes" zur Wirkung gebracht werden; ob einer es darauf wagen kann und will, ist eine Entscheidung, die ihm allein obliegt, und jeder menschliche Eingriff in diese Entscheidung ist verwerflich.

[...]  Jede Religion - oder auch keine Religion - ist uns recht, wenn wir mit ihr unseren Zielen ein Stück näherkommen. Auf Grund dieser summarischen Übersicht mag es deutlich werden, daß christlicher Glaube als lebenstragende und lebensgestaltende Kraft nur in wenigen kleinen Kreisen der sogenannten evangelischen Christenheit vorhanden sein kann, weil die große Menge der Getauften seit Jahrhunderten geistlich unterernährt dahinlebt. Nehmen wir das Gebet als notwendige Lebensäußerung des Glaubens, so dürfen wir annehmen, daß nur ein kleiner Bruchteil der sonntäglichen Kirchenbesucher betet! Schon für Luther (Tischreden) war diese Feststellung und Vorstellung eine quälende Pein.

[...]  Zusammenfassend muß ich also sagen: Wenn wir nicht nur "Protestanten", sondern "evangelische Christen" sein wollen, so wird uns eine dogmatische Bindung an menschliche Entscheidungen in Gestalt der "Tradition" zugemutet, die erheblich drückender werden kann als die dogmatische Bindung an die kirchlichen Entscheidungen in Gestalt der katholischen "Tradition". Von "Autonomie" kann beide Male keine Rede sein; wir stehen unter dem Gesetz der Offenbarung Gottes an uns in Christus, die durch die Kirche als Zeugnis zu uns kommt. Dies Zeugnis fragt nach unserem Glauben, um uns zu erfüllen und unser Leben zu gestalten. Welchem Zeugnis geben wir nach Prüfung seiner Grundlagen den Vorzug? Oder dürfen wir noch einen Schritt weiter gehen? Dürfen wir auf Mt. 7,16 verweisen und nach den "Früchten" fragen? Das müßte dann heißen: Wo wird Gottes Wort wirklich als Gottes Wort geehrt? Wo wird seine Gnade fröhlicher geglaubt? Wo wird mit Christus dem Lebendigen gelebt? Ganz primitiv: Wo wird der Ruf Gottes, den die Kirche ausrichtet, gehört, und wo empfängt er im Gebet sein lebendiges Echo? Ich bin überzeugt, daß der katholische Christ mehr von der Bibel kennt als der evangelische; ich bin überzeugt, daß sie ihm für sein Leben mehr bedeutet; und ich bin endlich überzeugt, daß er mehr und ernster betet. Von daher muß ich fragen, ob wir auf dem rechten Weg sind. Vor zwanzig Jahren erschienen zwei Schriften; wenn ich nicht irre, lautete der Titel der ersten "Zurück zur Kirche"! Sicher lautete die Überschrift der zweiten (ich glaube, der Verfasser war der evangelische Theologieprofessor Loofs) "Vorwärts zum Glauben"! Ob es nicht am Ende so ist, daß beides sich decken wird, daß wir auf dem Weg "vorwärts zum Glauben" "zurück zur Kirche" kommen und auf dem Weg "zurück zur Kirche" "vorwärts zum Glauben" gelangen? Eine reformatorische "Kirche" hat es ja in der Tat nie gegeben, und wir sollten heute sehen, daß es sie auch nicht geben wird; die Reformation hat bestenfalls in Gemeinden, oft aber nur in Zirkeln und Häusern gelebt. Der Grund dafür war bei näherem Zusehen die Fülle der verschiedenen "Traditionen". Wenn wir diese Fülle gelten lassen, weshalb sollen wir nicht die eine Tradition der alten Kirche gelten lassen? [...]

Wird ergänzt. Textzitate nur zu internen didaktischen Zwecken.
Abschrift, Layout, Vorwort, Ergänzungen: (c) Dr. W. Näser, Marburg * Stand: 17.10.2005