INT. SOMMERKURS DER
PHILIPPS-UNIVERSITÄT 1993 * LITERATUR
UND MEDIEN * Kurs 6: Dr. Wolfgang Näser
Deutsch im 20. Jahrhundert * SS 2002 * Mi 16-18, Biegenstraße
14, HS 110
[Text 9:] Papp-Nasen. Nachrichten im Fadenkreuz.
Dumme Fragen, eitle Reporter und heldenhafte TV-Moderatoren
Von Henryk M.
BRODER (in: DAS ERSTE 1/92, 12-14)
In einem Nachruf auf dem vor kurzem verstorbenen
"Tagesschau"- Sprecher
Karl-Heinz
Köpcke hieß es, viele Zuschauer hätten ihn für den
Regierungssprecher gehalten. Woraus man nur folgern kann: Dieselben Zuschauer
müssen die "Tagesschau" für eine regierungsamtliche Sendung gehalten
haben.
Wie kommt so ein Mißverständnis zustande? Wer oder was ist dafür verantwortlich? Schaut man sich die deutschen TV-Nachrichtensendungen an - mit beiden Augen und nicht nur mit einem halben während des Abendessens am Familientisch -, so kommt einem die falsche Einschätzung nicht ganz abwegig vor.
Da paradieren Minister, Regierungssprecher, Abgeordnete, Parteivorsitzende, Präsidenten von Bundesbehörden an einem vorbei, geben mal mehr und mal weniger verständliche Sätze von sich. Und alles, was sie sagen, hört sich amtlich an. Sie werden zwar an- und abmoderiert, stehen also nicht isoliert im Raum, aber dennoch: eine Aussage von GENSCHER, ein Satz von KOHL, selbst eine Bemerkung von ENGHOLM setzt sich gegen das übrige Umfeld ab. Auch wenn man drei Minuten später nicht mehr weiß, was sie gesagt haben: daß es Genscher, Kohl und Engholm waren, die uns irgend etwas mitteilten, das bleibt eine Weile im Gedächtnis haften.
Ich weiß auch nicht, wie man es besser machen könnte, wie man die Statements der Politiker der Nachricht unterordnen könnte, statt die Statements als Nachricht erscheinen zu lassen. Vielleicht liegt es an der ruhigen Art der Präsentation, an der nicht wertenden Moderation, die sich auf das Faktische beschränkt. Vielleicht müßte der Nachrichtensprecher nach einem Interview mit Manfred WÖRNER, der mit vielen Worten absolut nichts gesagt hat, hinzufügen: "Wie schafft der Wörner das nur, mit so vielen Worten absolut nichts zu sagen?" Oder nach einer Verlautbarung von Helmut KOHL: "Wenn der Kanzler nicht versuchen würde, immer so bedeutend dreinzuschauen, könnte man ihm viel leichter zuhören." Oder er müßte sich nach einem Auftritt von Theo WAIGEL einfach mit einem weißblauen Taschentuch die Nase putzen, daß es nur so kracht.
Aber das geht nicht, denn es würde von den Zuschauern wieder mißverstanden: nicht als angemessene Relativierung des von den Politikern Gesagten, sondern als satirische Garnierung, was es natürlich nicht sein sollte. Außerdem würde man bald keinen Politiker mehr finden, der bereit wäre, in Nachrichtensendungen auch nur ein Wort von sich zu geben. Was wiederum kein so großer Schaden wäre, aber immerhin, ganz missen möchte man eben die Bonner Pappnasen denn auch nicht.
Meine "Tagesschau", so ich denn eine machen dürfte, müßte ganz anders aussehen. Sie würde verkehrt anfangen, nämlich mit dem Wetter von morgen. Dies ist ohnehin der Teil, der mit der größten Aufmerksamkeit wahrgenommen wird. Die Frage, ob es regnen wird oder nicht, ist nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv wichtiger als das Treffen der EG-Außenminister, die sich nicht über die Angleichung der Subventionen für Milcherzeuger einigen können.
Gleich nach dem Wetterbericht käme die Nachricht, daß das "Wiener Café" in der Schönhauser Allee in Ostberlin geschlossen und dafür im alten Zeughaus Unter den Linden aufgemacht wurde. Dazu würde ich Professor Dr. STÖLZL, den Direktor des Deutschen Historischen Museums, das im Zeughaus untergebracht ist, interviewen. Er müßte als Hausherr die Frage beantworten, warum das Café täglich schon um 18.55 Uhr schließt. Wer wissen möchte, wie es mit dem Aufbau des Deutschen Historischen Museums weitergeht, der sollte sich brieflich an den Direktor wenden.
Als nächstes käme die Meldung, daß die Luftlinie Interot, die zwischen Augsburg-Mühlhausen und Berlin-Tempelhof verkehrt, eine dritte tägliche Verbindung in den Flugplan aufgenommen hat, was mich sehr interessiert, weil ich diese Strecke öfters fliege. Im außenpolitischen Teil der Sendung kämen Einwohner der Kanalinseln JERSEY und GUERNSEY zu Wort, die sich gerne vom britischen Königreich lossagen und eine eigene föderative Republik gründen möchten, wobei jede Insel ihre Selbständigkeit behalten würde. Moldawien und die Ukraine haben bereits signalisiert, daß sie eine Republik Jersey-Guernsey diplomatisch anerkennen würden.
Im Kulturteil schließlich käme ein Bericht über die Spielwaren der Systeme DUPLO und PLAYMOBIL und die fehlende Kompatibilität zwischen den beiden, die zur Folge hat, daß man eine Playmobil-Figur nicht in ein Duplo-Haus setzen kann. Es wäre eine wunderbare Sendung, die außer mir vielleicht noch eine Handvoll Zuschauer interessieren würde. Alle anderen würden gleich nach dem Wetterbericht abschalten oder auf einen anderen Kanal überwechseln. So gesehen könnte es sein, daß das jetzige Konzept der "Tagesschau" doch das bessere ist.
Greifen wir nach dem Zufallsprinzip einen beliebigen Tag heraus, den 1. Oktober 1991. Die "Tagesschau" machte mit einem Bericht über den Bürgerkrieg in Jugoslawien auf, gefolgt von einem Bericht über jugoslawische Flüchtlinge in der Bundesrepublik. Dann gab es Stellungnahmen deutscher Politiker zur Ausländerfeindlichkeit in der Bundesrepublik und eine Stellungnahme von amnesty international zum deutschen Asylrecht. Dann kam die Rede auf die TREUHAND, die einen Betrieb, dessen Wert auf über 100 Millionen Mark geschätzt wurde, für eine Mark verkauft hatte. Es folgten Berichte über einen Besuch von Finanzminister WAIGEL bei der Präsidentin der Treuhand, Frau BREUEL, über Mieterhöhungen in den fünf neuen Ländern, die Inbetriebnahme des Roten Rathauses in Berlin-Mitte und so weiter und so fort.
Es war eine nüchtern vorgetragene Auswahl von Meldungen, an der man eigentlich nichts bemängeln kann. Business as usual. Kein Krieg war ausgebrochen, kein Flugzeug abgestürzt, keine Mondfähre gestartet. Doch so gut, so sachlich und so gelassen die Nachrichten im Normalfall präsentiert werden, so peinlich können Einsätze außerhalb der ROUTINE geraten. Zur Zeit des Golfkrieges hörte man von der Moderation im Studio nicht nur immer wieder dieselbe dumme Frage nach der "Stimmung" in Baghdad, Amman und Tel Aviv (ich warte nur darauf, daß einer der Korrespondenten antwortete "Prima, selten so viel Spaß ge- habt!"). Man sah sich die Reporter auch immerzu selber "einbringen" - nicht nur per Satellitentelefon, sondern auch mit "persönlicher Betroffenheit".
Da gab es einen Fernseh-Mann in Baghdad, der aus einem von Amerikanern bombardierten Bunker kroch und sagte, er habe schon viel Schreckliches gesehen, aber so etwas noch nicht. Es war derselbe Mann, der sich noch kurz zuvor darüber beklagt hatte, in diesem Krieg würden den Zuschauern die Bilder von echten Toten vorenthalten. Man muß kein Erdbeben miterlebt haben, um den Tod Hunderter von Menschen schrecklich zu finden. Was der Reporter in dem Bunker gesehen hatte, war ebenso irrelevant wie eine Auskunft über den Drink, den er anschließend in der Hotelbar bestellte.
AUCH OHNE ZENSUR KAMEN KEINE BESSEREN REPORTAGEN ZUSTANDE
Es gibt eine Form der Wichtigtuerei, die deswegen so schwer zu ertragen ist, weil sie mit dem Anspruch des Authentischen daherkommt. Wäre sie nur Pose, wäre es halb so schlimm. So beklagten fast alle Reporter im Golfkrieg die irakische, amerikanische und israelische ZENSUR. Eines Tages gab es keine Zensur mehr, die Reporter konnten unbehindert senden, aber die Berichte wurden weder besser noch spannender. Das Klagen über die Zensur war nur eine Form der Selbstaufwertung: Was hätte man alles sagen können, wenn man nur gedurft hätte! Dann durfte man, und siehe da, man hatte nicht mehr zu sagen als vorher.
EHRT MAN LOKFÜHRER DAFÜR, DASS SIE IHRE ZÜGE ANS ZIEL BRINGEN?
Allerdings - nicht jeder TV-Journalist muß erst an die Front, wenn er sich einen Namen machen will. Einige schaffen es auch aus der heimatlichen Etappe. Ich habe immer gestaunt, wie schnell öffentlich-rechtliche Fernsehschaffende in den Ruf geraten, Barrikadenkämpfer zu sein, obwohl sie nichts anderes tun, als den gesetzlichen Auftrag an ihrem Arbeitsplatz zu erfüllen. Die Kette der mutigen, engagierten und kämpferischen Moderatoren reicht von Gert von Paczensky, der diesen Ruf den Angriffen der "Bild"-Zeitung gegen ihn verdankt ("Der Spitzbart muß weg!"), bis zu Franz Alt, von dem Roger Willemsen sagt, er sei ohne eine eigene Meinung zum Mittelpunkt eines Meinungsskandals geworden.
Manchen ist es nicht einmal peinlich, Auszeichnungen für ihren Mut, ihr Engagement, ihren Kampfgeist entgegenzunehmen. Das ist, als würde man Busfahrer und Lokomotivführer dafür ehren, daß sie ihre Busse und Züge ans Ziel bringen, statt unterwegs abzuspringen. Spätestens nach der dritten Auszeichnung beziehungsweise Solidaritäts- und Unterschriftenaktion ihrer Fangemeinde fallen sie dann auf das eigene Image rein und sind fest davon überzeugt, daß allein ihr Name für eine kritische Qualität des Programms bürgt.
Dabei sind viele durchaus flexibel in ihrer Haltung. Ein bekannter Programm-Macher kann immerhin Regierungssprecher werden, und der persönliche Referent eines mächtigen Politikers kann mühelos ins öffentlich-rechtliche Fach überwechseln. Da lob' ich mir einen Mann wie Gerhart LÖWENTHAL, weil er ein aufrichtiger Demagoge war, der seine Ansichten mit dem Charme eines Wadenbeißers vertrat, ohne sich um die Reaktionen der Getroffenen zu kümmern. Verglichen mit diesem TV-Fossil der 70er Jahre ist ein Mann wie Klaus Bednarz ein wohltemperierter Prediger, der seine Gemeinde mit dem Gefühl entläßt, daß die Welt zwar schlecht, aber noch nicht ganz verloren ist, solange Leute wie er ihre Meinung sagen dürfen.
Was freilich PACZENSKY und ALT, LÖWENTHAL und BEDNARZ gemeinsam haben, ist der Umstand, daß sie alle ein Anliegen vertreten. Sie wollen ihre Zuschauer nicht INFORMIEREN, sondern BELEHREN. Sie bieten nicht MEINUNGEN zur Auswahl, sondern HALTUNGEN zum Kopieren. in den USA würde man sie nicht einmal die Wetterkarte moderieren lassen. Nicht weil die Amerikaner keine zugespitzten Meinungen schätzen, sondern weil sie der Überzeugung sind, LEHRER und PASTOREN sollten ihre Talente an den für sie vorgesehenen Plätzen entfalten.
Es ist deswegen kein Zufall, daß es im gesamten TV-Angebot der Bundesrepublik kein Programm wie "Night Line" (von ABC) und keinen Moderator wie Ted Koppel gibt. "Night Line" läuft von Montag bis Freitag jeden Abend von halb zwölf bis Mitternacht und behandelt jeden Abend ein anderes Thema. Mal ist es die Nahostpolitik der USA, mal eine Korruptionsaffäre in Washington. Mal geht es um ein Musical, das seit x Jahren am Broadway gespielt wird, mal um Rassenkrawalle in Brooklyn.
Ted Koppel liefert Informationen, interviewt Zeugen und Experten, ruhig, kompetent und beharrlich. Schwätzern wird das Wort abgeschnitten, bei Schönrednern so lange nachgehakt, bis sie entnervt aufgeben. Koppel behandelt seine Zuschauer nicht wie eine Gemeinde, die eh schon weiß, was gleich kommt, sondern wie Menschen, die in der Lage sind, selber zu denken.
Über Koppel hat noch niemand gesagt, er sei mutig oder engagiert. Er ist auch kein Kämpfer. Ted Koppel ist einfach nur gut.
Henryk M. BRODER lebt in Berlin und Jerusalem. Er ist
freiberuflicher Journalist.
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