Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002
Textsorte: Appell *)
Kelly,
Petra (1947-1992): Es hängt von uns
ab, ob die Arche Noah doch noch geborgen werden kann
in: Hessen 2000: Tierschutz ist Menschenschutz (zur Welttierschutzwoche
1992), S. 20-21 [geringfügig korrigiert]
Petra Kelly
(Bild rechts: Wikipedia) wird am 29. Nov.1947 in
Günzburg an der
Donau geboren und übersiedelt 1959 in die USA. 1966-1970 studiert sie
Politische Wissenschaften an der
American University,
Washington, beendet 1971 das Studium am Europa-Institut der
Univ. Amsterdam, arbeitet
in der Brüsseler
EG-Kommission
und seit 1972 auch im
Bundesverband
Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU). 1973 gründet sie die
"Grace P. Kelly Vereinigung zur Unterstützung der Krebsforschung für
Kinder e.V." (Grace P., ihre Halbschwester, war 1970 im Alter von zehn Jahren
an Augenkrebs gestorben), unternimmt Vortragsreisen in die USA, engagiert
sich 1975 gegen die Nutzung von Atomenergie in Irland und den Bau des
"Schnellen
Brüters" in Kalkar. 1976 reist sie nach Hiroshima und Nagasaki,
1977 auf Einladung der Anti-Uranbewegung nach Australien, gründet 1979
die Politische Vereinigung der "Grünen", kandidiert bei der Europawahl
und wird 1980 in den 1. Bundesvorstand der als Partei gegründeten
"Grünen" gewählt.
Anläßlich der Teilnahme am 1. Forum
"Krefelder
Appell: Der Atomtod bedroht uns alle" begegnet sie im November 1980 dem
wegen des
NATO-Doppelbeschlusses (1979) demissionierten Brigadegeneral
Gert Bastian, unterstützt 1981 den Aufruf der
Bertrand Russell Peace
Foundation "Für ein atomwaffenfreies Europa" und erhält 1982
den als
Alternativen
Nobelpreis geschaffenen
"Right Livelihood
Award". 1983 organisiert sie in Nürnberg das Internationale Tribunal
gegen Erstschlags- und
Massenvernichtungswaffen
in Ost und West, beteiligt sich an einer Aktion auf dem
Alexanderplatz
für Abrüstung in Ost und West, wird in den Bundestag gewählt
und ist bis April 1984 Fraktionssprecherin. Sie unterstützt die spanische
Friedensbewegung gegen den Beitritt zur NATO, nimmt 1987 teil am Internationalen
Forum "For Nuclear-Free World" in Moskau (wo sie auch
Nobelpreisträger
Andrej Sacharov und
Jelena
Bonner trifft), setzt sich in
Guernica für eine internationale Begegnungsstätte
(Frieden und Versöhnung) ein, unterstützt die Kampagne für
militärische Neutralität Irlands, initiiert im
Bundestag eine Resolution
zu den Menschenrechtsverletzungen in
Tibet, präsentiert
1988 in Anwesenheit des Dalai Lama das Buch "Tibet - ein vergewaltigtes Land",
moderiert Januar bis Mai 1992 das TV-Umweltmagazin "Fünf vor zwölf"
und beteiligt sich am
"World
Uranium Hearing" (Salzburg) und der
"Global
Radiation Victims Conference" (Berlin). Am 19.10. findet man ihre Leiche
zusammen mit der ihres Lebensgefährten Gert BASTIAN (69)
in ihrem Bonner Reihenhaus. Bastian hatte allem Anschein nach zunächst
die schlafende Petra Kelly erschossen und sich dann selbst gerichtet. Auf
der Trauerfeier für Petra Kelly und Gert Bastian spricht u. a. der russische
Schriftsteller
Lew
Kopelew.
Nach gründlichen Recherchen verarbeitet
Alice
Schwarzer 1993 den Fall in ihrem Buch
"Eine
tödliche Liebe". Der bekannte Drehbuchautor Wolfgang
MENGE schreibt im Jahre 2001 die TV-Dokumentation
"Kelly
Bastian - Geschichte einer Hoffnung", die am 3.10.2001, dem
Tag
der deutschen Einheit, von der ARD gesendet wird. W.N.
Ich habe lange darüber nachgedacht - ob wir überhaupt noch imstande sind, eine ökologische Revolution zu initiieren, zu bewegen, denn die vielen Jahre Arbeit innerhalb der Ökologiebewegung auf der Straße, die jahrelange berufliche Arbeit innerhalb der wachstumsbesessenen EG in Brüssel und die politische Arbeit als Grüne Abgeordnete im Bundestag, wie auch meine kurze, sehr frustrierende Arbeit als Moderatorin einer Umweltsendung für einen privaten Sender in Deutschland haben mich sehr oft ohnmächtig gemacht oder traurig oder wütend über das, was ökologisch nicht bewegt werden konnte.
Die Errichtung einer ökologischen Welt, in der menschliche Bedürfnisse erfüllt werden, ohne die natürlichen Systeme zu zerstören, erfordert eine ökologische Revolution und eine völlig transformierte Wirtschaftsordnung. Heute, so das Worldwatch Institute, gehen 85 % des Welteinkommens an 23 % der Bevölkerung!
Wie Sandra Postel schreibt: "Die ökologische Beschädigung der Erde, getrennt von den Fragen der Schulden, des Handels, der Ungleichheit und des Konsums zu betrachten, ähnelt dem Versuch, eine Herzkrankheit zu behandeln, ohne sich mit der Fettsucht und der cholesterinreichen Ernährung des Patienten zu befassen. Es gibt keinerlei Aussichten auf dauerhaften Erfolg ... ".
Die Probleme, die wir zu lösen haben, können nicht mit Korrekturen unseres gewohnten Handelns gelöst werden - wir brauchen eine ökologische Transformation unserer Gesellschaft, eine ökologische Neuordnung, einen ökologischen Umbau, der alle Bestandteile unserer Gesellschaften umfaßt. Die reichen Länder, darunter die Bundesrepublik, geben nur zögernd zu, daß sie den Großteil der Umweltschäden angerichtet und daß sie die Verantwortung haben, die meisten Kosten der globalen ökologischen Transformation zu tragen.
Tropische Regenwälder bedecken zur Zeit rund sieben Millionen Quadratkilometer der Erdoberfläche - aber das ist nur noch die Hälfte des ursprünglichen Bestandes. Wir alle, direkt und indirekt, haben das, was fehlt, in den letzten 25 Jahren vernichtet! Gerodet, verbrannt, vernichtet! Jetzt ist die Bundesrepublik über Beteiligung an dem europäischen Ariane-Raketenprogramm dabei, riesige Regenwaldflächen im Nordosten Südamerikas mitabzuholzen, denn weil man für die neuen Ariane-5-Raketen mehr Strom benötigt, entsteht mitten im Urwald ein riesiges Wasserkraftwerk! Die Bundesrepublik beteiligt sich an dem Ariane-Programm mit unseren Steuergeldern - und bald wird der geplante Stausee mehr als 300 Quadratkilometer Fläche unberührten Regenwaldes überfluten - und mit ihm Millionen Tiere und Pflanzen!
Es wird nur noch 25 bis 35 Jahre dauern, bis der Tropische Regenwald und alle seine Lebewesen nahezu vollständig verschwunden sind, wenn wir wie bisher an der Vernichtung mitwirken. In den Regenwäldern wird der Artenschatz des Planeten Erde geplündert, und unsere Regierungen und Parlamente, Industrie und Konzerne scheinen es immer noch nicht begriffen zu haben: Die grünen Lungen der Erde sterben ... Wie der SPIEGEL schreibt (18/92): "Das größte Artensterben seit 65 Millionen Jahren ist im Gange ...". Folge von Brandrodung, Treibhauseffekt, Umweltgiften und Holzgier der Industrienationen.
Und nun entdecken die Saatgutmultis die Gene aus der Dritten Welt als wertvollen Rohstoff - und plötzlich treten Chemiegiganten aus dem reichen Norden als Schutzherren der Tropen auf! Wird nun der Rest der artenreichsten Region der Erde auch vom Norden vermarktet? Ich befürchte ja! Schon sprach das amerikanische Wallstreet Journal von einem "Saatkrieg zwischen dem finanzschwachen Süden und dem genarmen Norden." (Spiegel 18/92). Ich befürchte, daß bald botanische Gärten und Zoos den Pflanzen und Tieren "Asyl" geben, die in der freien Natur schon ausgestorben sind - was für eine Perspektive für das Jahr 2000?
Der kanadische Schriftsteller Farley Mowat fragt mit Recht: "Kann die Arche Noah vielleicht doch geborgen werden, bevor sie für immer versunken ist?"
Sind wir endlich in der Lage, uns der Komplexität und der Wechselbeziehungen der lebendigen Welt bewußt zu werden? Oder ist es wirklich schon zu spät? Ahnen wir wirklich, was unsere brutalen Raubzüge durch die Natur angerichtet haben? Wissen wir irgendetwas vom Leiden der Tiere unter den Menschen?
Wir sind ständig dabei, die Schöpfung zu vernichten, und nennen es nüchtern das "Aussterben der Tiere und Pflanzen"! Ich denke an Wale, Delphine, Menschenaffen, Robben, Elefanten, Eisbären, Bisons, Walrosse, an Meeresschildkröten.
20.000 Meeresschildkröten werden jährlich auf Bali getötet - man macht "Potenzdrinks" aus dem Schildkrötenblut für den japanischen Markt, schlürft die Schildkröteneier, kauft Schildpattschmuck- und -Brillen und denkt darüber weiter nicht nach. Niemand will so genau wissen, wie man die Tiere umbringt ... niemand will zusehen, wenn die Bauchpanzer der Tiere zertrümmert oder aufgeschlitzt werden. Mord durch den Menschen - das ist die Ursache der Tier- und Pflanzenvernichtung! Wo bleibt die grundsätzliche moralische Verantwortung der Menschen für das Lebendige? Haben wir begriffen, daß wir es sind, die Krisen und Umweltdesaster wie Klimaveränderungen verursachen, die dann tief in die Ökosysteme und in unsere menschliche Gesellschaft eingreifen? In 40 bis 50 Jahren werden über 350 Millionen Menschen aufgrund von Flut- und Dürrekatastrophen ihre Heimat verlassen haben. Für sie gibt es nur Flucht - weil Quellen versiegen, Äcker versanden. Wir richten unsere Erde, unseren Planeten, zugrunde und meinen, die große Katastrophe stehe bevor ... der Tanz auf dem Vulkan nutzt nichts. Die Katastrophe ist schon da! Wir sind mittendrin!
Wann werden wir uns zum Anwalt der verbleibenden Tiere und Pflanzen machen ..., wann begreifen wir, daß wir den mörderischen Kurs, auf dem wir uns befinden und den wir eingeschlagen haben, nicht mehr fortsetzen können?
Die Zeit drängt ... Wir sind alle an der Zerstörung der Erde direkt oder indirekt beteiligt. Wir - jeder von uns in den reichen Ländern - können lernen, bescheidener zu leben, anders zu konsumieren und zu produzieren. Aber wir müssen uns auch vor die Tore der FCKW-Hersteller und der Atomindustrie setzen und mit Phantasie und Mut auf der Straße die Wirtschaft und Banken auffordern, sich aus Projekten zurückzuziehen, die umweltschädlich sind, die die Spirale der Zerstörung weiterdrehen.
Die globale ökologische Transformation muß von innen und von
außen kommen! Global denken - lokal handeln! Das heißt aber auch,
daß alle gesellschaftlichen Bereiche im reichen ausbeuterischen Norden
sich radikal verändern müssen - sonst habe ich wenig Hoffnung!
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*) hier im inhaltlichen Sinne als spezifisch anzusehen; Petra
KELLYs Text habe ich im Wintersemester 1992/93 im Rahmen
meiner Übung "Wörter und Wendungen" (für Ausländer) an
der Philipps-Universität Marburg behandelt. Im Frühsommer
1999 wurden durch
NATO-"Luftschläge" in
Jugoslawien wertvolle Ressourcen vernichtet und durch das Bombardement
von Treibstofflagern furchtbare Umweltschäden angerichtet; nach den
Terror-Attacken des 11. Septembers 2001 in New York und Washington
drohen im Rahmen der von George W. BUSH ausgerufenen "Kampagne"
weltweite bewaffnete Auseinandersetzungen. Aus diesen Gründen wird der
Text erneut aktuell.
Bildnachweis: Wikipedia (angeblich Selbstaufnahme, keine Rechte angegeben,
Public domain (übernommen 16.5.2010)
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HTML-Transkript , Links und Anmerkungen: (c) W. NÄSER 14.4.1999; weitere Ergänzungen: 21.9.2001, 16.7.2002, zuletzt 16.5.2010