Dr. Wolfgang Näser: UE "Deutsche Landes- und Kulturkunde" (für Ausländer), SS 2005

Vertrauensfrage nach Artikel 68,1 GG:
Mündliche Erklärung von MdB Werner Schulz (B90/Grüne) nach Art. 38 GeschO:

"...ich werde mich an dieser Abstimmung nicht beteiligen. Was hier abläuft, ist ein inszeniertes, ein absurdes Geschehen. Die Ereignisse der letzten Wochen und die heutige Debatte, trotz staatsmännischer Rede, haben mich nicht überzeugt, sondern hier läuft eine fingierte oder, wie die Juristen sagen, eine unechte Vertrauensfrage. Schon der erste Satz Ihres Antrages, Herr Bundeskanzler, ist unwahr. Sie wollen doch gar nicht, daß man Ihnen das Vertrauen ausspricht. Sie wollen diese Abstimmung verlieren. Sie suchen einen Grund für Neuwahlen und damit das organisierte Mißtrauen. Sie selbst haben verkündet, sich der Stimme zu enthalten. Aber was ist das, ein Kanzler, der das Selbstvertrauen verloren hat. Sie sollten übrigens die Argumentation mit Franz Müntefehring noch mal genau abstimmen: er ist stolz auf den Meinungsstreit in der Fraktion, für Sie ist es ein Anlaß zum Mißtrauen. Im übrigen, Franz Müntefehring, Ihre Aufforderung an Angela Merkel, hier das konstruktive Mißtrauen zu stellen und daß wir jederzeit die Kanzlermehrheit haben, ist beeindruckend nicht nur fürs Protokoll.

Ich hätte bei so viel Dialektikern im Parlament nicht geglaubt, daß wir nochmal die feinsinnige Dialektik von Bertolt Brecht berühren, Sie wissen, der die Regierung aufgefordert hat, ein anderes Volk zu wählen. Wir werden heute etwas Ähnliches erleben: nicht eine Mehrheit, die dem Kanzler das Mißtrauen ausspricht, sondern einen Kanzler, der seiner eigenen Mehrheit nicht mehr vertraut. Bis in die gestrigen Abendstunden hatten wir eine stabile Mehrheit, die in sieben Jahren nicht ein einziges Mal versagt hat, obwohl sie seit dem 22. Mai vom Kanzler und Franz Müntefehring attackiert wird. Sie suchen eine neue Legitimation für Ihre Politik, doch diese Art von Bestimmungsdemokratie sieht unser Grundgesetz nicht vor.

Zwar wird allenthalben die Frage gestellt, was wäre, wenn am nächsten Sonntag Wahl wäre, aber nächsten Sonntag ist nicht Wahl. Wir leben in einer Demokratie und in keiner Demoskopie. Sie haben den Satz von Einstein an Ihrem Kanzleramt nicht verstanden: der Staat ist für die Menschen, nicht die Menschen für den Staat. Sie beugen unsere Verfassung, wenn Sie mit Hinweis auf das Grundgesetz ein Referendum über die EU-Verfassung verwehren und im nächsten Moment durch Selbstauflösung des Bundestages eine Volksabstimmung über die Fortsetzung Ihrer Politik herbeiführen wollen. Sie haben geschworen, das Grundgesetz zu wahren und zu verteidigen. Ein paar Schritte vom Kanzleramt entfernt steht an der Schweizer Botschaft der Einstein-Satz "Echte Demokratie ist doch kein leerer Wahn".

Was jetzt passiert, ist aber die Sinn-Entleerung des Artikels 68. Daß ausgerechnet die alten 68er so, wie sie hier versammelt sind, über einen Mißbrauch des Artikels 68 ihren Abgang vorbereiten, gehört zu den grotesken Momenten dieses Vorgangs. Dabei haben Sie gerade bei der Vertrauensfrage über den Militäreinsatz in Afghanistan gezeigt, wie dieser Artikel moralisch und politisch zu gebrauchen ist: sie haben eine eigene Mehrheit demonstriert und dafür sogar die eigene breite parlamentarische Mehrheit verschmäht. Sie wollten Helmut Kohl nicht nachahmen; heute kopieren Sie ihn, wobei der Vergleich doch etwas schräg ist zu der damaligen Lage.

Mir ist die Demokratie nicht geschenkt worden; mit einigen anderen mußte ich unter gefährlichen Umständen Demokratie und Freiheit erst erkämpfen. Schon deswegen sind mir die Grundregeln der Demokratie, wie sie in unserem Grundgesetz stehen, ein hoher Wert, gerade in einer Zeit, wo wir über den Werteverfall und die Vertrauenskrise der Politik reden. Glauben Sie denn ernsthaft daran, daß Sie nach dieser verschwiemelten Operation morgen in den Wahlkampf ziehen und über Wahrheiten reden können? Das ist nicht nur ein Tiefpunkt der demokratischen Kultur, sondern Sie beschädigen auch das Ansehen des Parlaments und meine und unsere Rechte als Abgeordnete. Oder, um einen aktuellen Buchtitel des Außenministers aufzugreifen, die Rückkehr der Geschichte sollten wir nicht als ein Stück Volkskammer veranstalten, auch da wurden die Abgeordneten eingeladen, nicht ihrer Überzeugung, sondern dem Willen von Partei- und Staatsführung zu folgen.

Sie haben mit Ihrem genialen Schachzug alles erreicht, was Sie vermeiden wollten: die Opposition ist geeint und geschlossen wie nie zuvor, die Formierung einer neuen Linkspartei und die Erosion der SPD wurden beschleunigt. Sie werden nicht als Patriot in die Geschichte eingehen, wie ein wirrer Schönschreiber in der ZEIT meint, sondern eher als einer, der letztlich seine Partei zerlegt und sein Land in Schwierigkeiten gebracht hat. Denn auch in der Einschätzung der politischen Situation täuschen Sie sich: die Bürgerinnen und Bürger wollen nicht Neuwahlen, sie wollen die Abwahl von Rot-Grün, offenbar wollen Sie das auch, die Flucht aus der Verantwortung, nur das ist ein würdeloser Abgang, den wir hier erleben.

Ich mache mir Sorgen um unser Land, weil ich finde, daß auch die Opposition nicht darauf vorbereitet ist und kein Konzept hat. Und wenn das, was wir bisher als Vertrauenskrise der Politik erlebt haben, nur ein Vorgeschmack ist, dann werden wir uns auf stürmische Zeiten einrichten dürfen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit."

Transkription: Dr. Wolfgang Näser, Marburg, 15. Juli 2005, 15:42