Der Pianist und freie Autor Dietmar Seibert schreibt in einer Email vom 2. Februar 2008 zu seiner Eibacher Mundart:
Meine gespaltene Haltung zur Mundart möchte ich in ein paar Sätze fassen. Es ist eine persönliche Haltung, auf die ich natürlich nicht den Anspruch erhebe, dass sie andere mit mir teilen müssen.
Wie ich Ihnen schon sagte, spreche ich einen Dialekt aus dem Raum Dillenburg. Ich verwende ihn allerdings kaum mehr, noch nicht einmal in Gedanken, obwohl er meine eigentliche Muttersprache ist, weil ich empfinde, dass ich damit nicht annähernd im Stande bin, meine innere Welt zu begreifen oder auszudrücken. Mit Leuten aus dem Dorf rede ich natürlich Mundart und kann es mir auch gar nicht anders vorstellen. Ich spüre allerdings, wie hilflos ich mir dabei vorkomme, wenn ich auch nur irgendetwas sagen will, was über das Alltagsinteresse der Leute auf dem Land hinausgeht, und so bleibt die Kommunikation mit ihnen leider immer auf demselben Level.
Ich teile also nicht die Ansicht, dass die Dialekte die Hochsprache bereichern, sondern ich glaube, dass eine facettenreichere Sicht der Welt über die Hochsprache in die Mundartkulturen dringt, je weniger die Menschen mit ihrem Lebens- und Erfahrungshorizont an ihre engen regionalen Grenzen gebunden sind. Es ist sicher interessant, wenn ganze Germanistenscharen ausschwärmen, um zu erforschen, in welchen Landstrichen Deutschlands man für Huhn Henne, Pute oder Hinkel oder wie bei uns Hong sagt, aber sind die Dialekte deshalb in sich selbst wirklich facettenreicher? Drücken sie die Dinge differenzierter oder besser aus?
Ich habe einmal gehört, dass Eskimos an die dreißig Begriffe für die verschiedenen Arten von Schnee haben. Ich kann aber hier in der Region keine derart differenzierte Wahrnehmung der unmittelbaren Umwelt erkennen, die sich in irgendeinem Dialekt besser ausdrücken würde als im Hochdeutschen. In meinem Dialekt gibt es beispielsweise noch nicht einmal einen einzigen Begriff für die menschlichen Geschlechtsteile, was sicherlich den Tabucharakter dieses Themenbereichs unterstreicht und damit natürlich auch eine gewisse Form des Ausdrucks ist. Es ist aber auch undenkbar, in diesem Dialekt eine Liebeserklärung zu machen, jedenfalls eine solche, die nicht komisch klingt. Das Wort Liebe kommt beispielsweise in Bezug auf die Gefühle zwischen den Geschlechtern überhaupt nicht vor. Überhaupt gibt es das Wort Liebe nicht als Substantiv. Lieb heißt läib, man ist läib, im Sinne von brav, aber die Läib oder (sollte man sagen:) Läibe hört sich zum Kichern komisch an. Als Liebespaar hot mer sich gern, aber gern hat man auch seinen Hund; und doch scheint man differenzierte Vorstellungen von der romantischen Liebe, der erotischen Liebe im Gegensatz zu der Menschenliebe im Allgemeinen in sich zu tragen, denn schließlich wird jede dritte Ehe wieder geschieden, weil man sich zu einem anderen Partner hingezogen fühlt.
Den Begriff Freude gibt es ebenfalls nicht als Substantiv. Man freut sich. In Herborn gab es den legendären Satz eines Einheimischen in Bezug auf den bevorstehenden Hessentag von 1986, der zum Leitsatz für den gesamten Hessentag wurde: Mir freue sich drauf. Freuen als Verb ist OK, aber Freude als Substantiv klingt auf Platt ebenfalls zum Lachen komisch. Jemond hot jemond e Freude gemacht, würde niemand sagen. Jemond hot jemond en Spass gemacht, dagegen schon.
Es gibt auch keine Übersetzung für mögen; wollen gibt es natürlich schon, doch wenn man im Hochdeutschen sagt: Jemand mag etwas nicht, drückt man damit eine abgeschwächte Form des Wollens aus. Eine Antipathie gegen etwas, auf der jemand aber nicht unbedingt beharren würde. Das platte Verb will klingt jedoch immer kompromisslos bestimmt mit dem Beigeschmack von Hartnäckigkeit oder Dickköpfigkeit. Eine andere Bezeichnung gibt es aber nicht. Man könnte es natürlich umschreiben: Jemond hot wos net su gern, was aber wieder skurril und komisch klingen würde.
Die Ausdrucksformen in diesem Dialekt sind immer klobig und grob, nie sanft oder differenziert. So gibt es auch keine Übersetzung für so etwas wie neigen. Es gibt nur das Wort boickeln (bücken, eher schon buckeln), aber nicht etwa einen Ausdruck dafür, wenn sich jemand neigt, vielleicht einfach nur den Kopf neigt. Es gibt noch den Begriff boije (biegen), aber wenn jemand den Kopf zur Seite neigt, würde man auch im Hochdeutschen nicht sagen. Er biegt den Kopf zur Seite. Ebenso komisch würde die Verwendung von boije auf Platt klingen. Es wird also auf Platt kaum jemand eine solche Geste beschreiben, und so bleibt sie beschreibensunwert.
Einen Satz wie: Er hat eine Lebenskrise., kann man auf Platt nicht angemessen sagen. Der hot e Lebenskrise klingt schrecklich, weil es auf Platt das Wort Lebenskrise nicht gibt. Läwenskrise, müsste es vielleicht heißen, doch gibt es kein Kompositum mit Läwe. Leben und Tod sind klar, aber die Lebenskrise als Hängepartie dazwischen ist für das Denken und Sprechen zu kompliziert. Außerdem gibt es keine annähernd adäquate Übersetzung für Krise. Setzt man aber in den auf Platt gesprochenen Satz das hochdeutsche Wort Lebenskrise ein, wirkt es aufgrund seiner vornehmen Überbetonung, als ob man diesen Zustand belächelt. Wie man es auch dreht und wendet, bleibt es schwer, einen solchen einfachen Satz als ernstzunehmend zu formulieren. Man müsste ihn aufwendig umschreiben und würde dabei auf eine Fülle ähnlicher Probleme stoßen. Überhaupt könnte man den gesamten Wortschatz der Psychologie lediglich mit der Formulierung umschreiben: Es soi de Nerve! (Es sind die Nerven).
Die meisten Begriffe der Gefühlsebene und des Abstrakten fehlen gänzlich. Differenziertere Unterscheidungen gibt es dagegen in allem, was derb und vulgär ist. Für pinkeln kann man sich gleich an sieben (!) Begriffen erfreuen, und jeder drückt diesen lebensnotwendigen Vorgang leicht nuaciert anders aus: pinkeln, pisse, saiche, stratze, schiffe, strullern und bullern, und bei einer Kuh kommt padern noch hinzu. Während pinkeln recht allgemein klingt, trifft es pisse und saiche eher bei der sitzenden Haltung der Frauen, saiche und stratze eher dann, wenn es mit einem entsprechenden, durch Druck verursachten Geräusch auf vielleicht einem Nachttopf verbunden ist, oder wenn es im Freien auf einem zu festen Boden so richtig spritzt. Strullern und bullern trifft es eher beim Mann, und hier würde man wieder unterscheiden, ob es eher ruhiger oder unruhiger fließt.
Es gibt Dialekte, in denen man problemlos Begriffe aus dem Hochdeutschen verwenden kann. Man spricht sie einfach in der Farbe des Dialektes aus. Aber die rauh klingenden Dialekte im Lahn-Dill-Gebiet stoßen den weichen Klang des Hochdeutschen unversöhnlich ab. Ich glaube, dass jemand, der mit einem Dialekt aufgewachsen ist, ein besonderes Gespür dafür entwickelt hat, welcher Begriff dazugehört und welcher nicht oder welche Art ihn auszusprechen trifft und welche nicht. Die Dialekte im Lahn-Dill-Gebiet sind mittlerweile, wie ich finde, sehr verwaschen und mit Begriffen aus dem Hochdeutschen durchsetzt, die den eigentümlichen, rauhen Klang empfindlich stören. Oft sind es Begriffe, für die es auch einmal eigenständige Varianten gab. Es entstand eine Mischung aus Dialekt und Hochdeutsch, die aber wie ein unbeholfenes Kauderwelsch klingt, ohne jede Identität. In meiner Kurzgeschichte Willis Porsche spricht Willi von: gewwe und nemme (geben und nehmen), auf Platt würde er es anders aussprechen, nämlich: gäwwe ön nömme. Er ist aber der Überzeugung, dass er so Hochdeutsch spricht. Das reine Platt klingt den Leuten zu derb, und daher färben sie die Vokale ins Hochdeutsche und meinen, dass das vornehmer klingt. Es etablieren sich seltsam skurrile Blüten wie: Kind, geh domma aus dem Batsch! Für Kinder, mit denen man so gesprochen hat, ist dies so etwas wie Muttersprache. Ihnen wird es vielleicht wieder eine Identität geben. Vielleicht wird man es irgendwann für einen neuen Dialekt halten, wer weiß, und vielleicht werden so manch sprachliche Blüten sogar Einzug in einen Sprachatlas halten.
Wenn ich einen Blick auf die Geschichte meines Dorfes werfe, so erklärt sich mir persönlich die Begrenztheit seines Dialektes so: ursprünglich existierten drei Dörfer, so zumindest besagt es die Chronik, von denen zwei, nach der Pest im Mittelalter, aufgegeben wurden. Die Ländereien der aufgegebenen Dörfer fielen nun diesem einen Dorf zu. Dieser Umstand verhalf den dortigen Bauern zu schnellem Reichtum, so dass sie sogar Ländereien in anderen Gemarkungen erwerben konnten und Knechte und Mägde aus dem Umland zum Dienst verpflichteten. Bemerkenswert ist noch heute die beträchtliche Anzahl der großen dreiteiligen Scheunen im Ort, die in der Gegend um Dillenburg herum eigentlich unüblich sind und von denen es inzwischen auch nur noch einen Bruchteil gibt. Bemerkenswert ist auch, dass Wohnhäuser und Scheunen planlos durcheinander gebaut wurden. Es gab nicht einen einzigen geschlossenen Bauerhof, wie etwa im Marburger Umland. Die Scheunen, die zu einem Wohnhaus gehörten, standen auch nicht in der Nähe des Hauses. Sie waren überall im Dorf verstreut, ein Indiz für einen unvorhergesehenen Reichtum der Bauern, dem man die Architektur des Ortes nur schwer anpassen konnte. Schließlich gehörten zu jedem Wohnhaus zwischen zwei und fünf Scheunen.
Ähnlich verhielt es sich mit den Ländereien. Die landwirtschaftliche Fläche eines Hofes lag in unzählige kleine Sektionen geteilt zwischen denen der anderen. Immer wieder wurden durch Heiraten oder Erbschaften Scheunen, Wiesen und Äcker sinnfällig zusammengeführt oder getauscht. Sehe ich das in Bezug auf die Sprache, so denke ich: Was zählte da schon die romantische Liebe und wozu brauchte man Begriffe, die diese betreffen. Es etablierte sich eine Wertementalität, die sich nirgends treffender als in dem Sprichwort ausdrücken konnte: Wei mer esst, su arbt mer! (Wie man isst, so arbeitet man.) Ein kluger Bauer, so erzählte man mir, schaute daher Mägden und Knechten, die er zur Arbeit verpflichten wollte, erst einmal beim Essen zu. Verschlangen sie regelrecht ihr Mahl, schloss er, dass sie auch im gleichen Tempo ihre Arbeit verrichten würden. Arbeit und Fleiß, das waren die einzigen Tugenden, die zählten. Ich komme in dem Zusammenhang noch einmal auf den Begriff neigen zurück. Neigen, für diesen Begriff gab es keine Bedeutung. Bücken, das kannte man, denn es drückte, im Gegensatz zu neigen, schweißtreibenden körperlichen Fleiß und Arbeit aus. Neigen war Firlefanz, wie überhaupt jegliche Arbeit mit dem Kopf, etwa die eines Künstlers oder gar der Genuss, Firlefanz war. Ich spüre, dass meine innere Welt in dieser Sprache keinen Platz hat. Das Platt erscheint mir wie eine Art Vorsprache, die nur eine sehr begrenzte Wahrnehmung erlaubt. Vergleichen könnte man es mit einem überholten Betriebssystem, auf dem die meisten Programme nicht laufen. Ist es nicht bezeichnend, dass es in hier kein einziges Lied gibt? Ich kenne zumindest keines.
Redaktion und HTML: W. Näser; Stand: 5.2.2k8