Dr. W. Näser: Mittelseminar 1b Lexikologie, WS 1979/1980

1. Begleitende Protokollaufzeichnungen zum Tonband "Wörterbäckerdeutsch"
(RF-Sendung von Ruprecht Skasa-Weiß, SWF 1; vgl. dazu auch: HIRSCH, Eike Christian: Deutsch für Besserwisser, 3. Aufl. Hamburg 1978, ebenfalls durch den Rundfunk bekannt geworden)

Ausgangspunkt (Aufhänger:) das seit 22 Jahren in Arbeit befindliche Goethe-Wörterbuch; man will bis zum Jahre 2000 mit diesem "gigantischen Unternehmen" fertig sein. Bis heute [1979] jedoch lediglich nur 1 Buchstabe bearbeitet.

Kommentar: "Wahnsinnsprojekt". Angesichts der weiteren Sprachentwicklung müsse selbst Goethe, der Dichterfürst, armselig dastehen. Jeder "Provinzjournalist" nämlich könne heute vermutlich auf einen größeren aktiv genutzten Wortschatz zurückgreifen als der "Weimarer Olympus".

Goethe-Wörterbuch, Gigant-Unternehmen, Wahnsinnsprojekt, Wortschatzauflistung, Provinzjournalist, Artikelschreiberjob = "lauter neugefügte Wörter, Wegwerf-Vokabeln, wenn man will, Augenblicksfügungen ohne jeden höheren poetischen Wert; ein Silbengebäck, welches (...) den Wortschatz aufschwellen hilft".

Deutsch von heute = Wörterbäckerdeutsch; jeder modele sich seine Äusdrücke so, wie er sie brauche; das sei vielleicht die auffälligste Tendenz der neueren Sprachentwicklung überhaupt.

LUTHER kam für die ges. Bibelübertragung noch mit rund 8.000 Wörtern aus; James JOYCE u. sein Übersetzer benötigten schon rund 52.000 Wörter;

neu: das Auftreten von Dingwörtern mit 5 oder mehr Bestandteilen: diese Tendenz schon seit Ende 19. Jhd.: Garten|lauben|abonn|ent, Garde|leutnant|s|uniform ; heute 4er- und 5erbildungen wie

in G. GRASS' Blechtrommel: ein Haus|putz|back|wasch|und|bügel|sonn|abend (dicht. 'Kreation'); weitere Bspp.:

werden "je nach Gelegenheit und Bedarf immer neu zusammengesetzt".

Trend zu (den) überlangen Bildungen bes. in der Fachsprache zu  beobachten: hier "wird jedes 'Wortungetüm ein für allemal gestanzt" (normierte Terminologie): vom Reißverschluß bis zur Alkalimanganbatterie.

Tendenz unserer Sprache zur Differenzierung und Prägnanz. Hierbei wird jedoch die Sprache bisweilen "mächtig überfordert".

Im Bestreben, genau zu sein, neigt mancher Terminologie'bastler' zur "Überstopfung seiner Wortwurst":

Das Mittel der Zusammensetzung für die germanischen Sprachen sei im Laufe ihrer Geschichte "so überaus fruchtbar" geworden, immer jedoch regellos angewandt worden; Zit. Wolf SCHNEIDER, Wörter machen Leute: "teils belustigend und teils verärgernd, in jedem Falle undurchschaubar".

Die im Dt. typischste Art der Wortzusammensetzung, sei die Kopplung zweier oder mehrerer Substantive wie
- Donau|dampf|schiff|[f]ahrts|gesellschafts|kapitän (6 Elemente).
Mark Twain sprach hier von "Buchstabenprozessionen". Diese Technik habe jedoch auch nützl. Kombinationen ergeben wie: Volkslied, Weltschmerz, Kindergarten.

Hierbei teils Agglutination (Himmelbett), teils Flexion (Himmelstür); hierbei Inkonsequenzen:

Ferner hat hierbei der (auf historische Formen zurückgehende, WN) Sprachgebrauch auch oft eine falsche Deklination bevorzugt:

"freilich, was künmert uns die Logik, sofern sich eine Wortfügung nur als praktisch erweist."

Hugo MOSER: Neigung zur Differenzierung und Verdeutlichung einerseits, Tendenz zur Systematisierung und Ökonomie andererseits seien hier zu beachten. Eben dies gelte auc für die Wortbildung. Zusammensetzungen, z.T. "ausgesprochene Raff-Wörter" (vgl. die Technik der Zeitraffung, auch beim Erzählen. So wird in der Bildung Spitzenkandidat (zur Wortbildung s. oben!) ein ganzer Satz zusammengefaßt: "Der Kandidat, der an der Spitze einer Wahlliste steht".

- Carterreise nach Ägypten;
- Autobahnmörder endlich gefaßt;
- Kleistpremiere an den Kammerspielen:

Bei solchen Schlagzeilen verde "weniger formuliert als auf Formeln gebracht, weniger komponiert als komprimiert"; in diesen Kompressionskunststücken stecke auch manches kreative Verknappungstalent (beachte WB!). Fur "bündige Signalisierung" wird Bsp. "Heimelf gewinnt Feldüberlegenheit" angeführt.

Neigung zur Sprachökonomie bringe auch "halbwegs schöpferisch zu nennende" Verkürzungen hervor:

hier zeige sich ein "Ruckschlag gegen die Überzahl langer Zusammensetzungen".

Klein-Ingrid: ich werde Eisdieler (Wortspiel, vgl. -dealer; angelsächsischer Einfluß: worker, tuner, appetizer).

"Über Entwicklungen in der deutschen Gegenwartsspache zu reden, ist nicht ganz ohne Schwierigkeiten," sie liegen gutteils im Beobachter selbst: er hat zu wenig Abstand von dem untersuchten Gegenstand, und er kann darum oft kaum mit Sicherheit unterscheiden, ob eine sprachliche Neuerung punktuellen, okkasionellen, temporären oder aber generellen und bleibenden Charakter hat, ob sie nur der parole (der Rede) angehört, ob sie als Sprachbrauch zu gelten hat oder aber als Sprachnorm zu betrachten ist."

Ausgangspunkte dieser sprachl. Entwicklung nach H. MOSER "heute grundlegend andere als etwa zur Zeit Friedrich SCHILLERs".

Die Hauptschuld an der heutigen Entwicklung wird der Sprache der Verwaltung und der Behörden zugeschrieben, der "wahre Pate unserer Gebrauchssprache" sei jedoch die Wissenschaft. Allein auf dem Gebiet der Elektrotechnik soll es l935 bereits 25.000 Fachwörter gegeben haben. "Und wieviel Zigtausende sind seitdem hinzugekommen." Bespiele ließen sich genug anführen, z.B. aus den Gebieten Nachrichtentechnik, Niederfrequenztechnik, Kfz-Elektrik, Elektronik und Datenverarbeitung, vgl. Mikroprozessor (schon damals in kabarettist. Wortspiel auch: Mikroprofessor), Hard-, Software, Assembler, Programmierung, Sichtgerät, Locher (Stanzer), Leser, Keyboard, Flußdiagramm, kompatibel etc.)

Die Sprache der Nuklear- und Biophysik habe ähnliche Ausweitungen erfahren. Einfluß des (begrifflichen) wissenschaftlichen Denkens auf das Verfertigen der Sätze schlechthin sei hierbei entscheidend. Diesem Einfluß habe unsere moderne Sach-Prosa mehr zu danken "als allen Verwaltungsstellen und deren Verlautbarungen". "Typischer Ausdruck dieses Abstraktionsbestrebens, dieses Wunsches nach Darstellung begrifflicher Zusammenhänge, ist die Tendenz zur substantivischen Ausdrucksweise auch da, wo, genau genommen, kein zwingender Anlaß hierzu besteht."

Bspp.:

Die Folgen des Nominalstils "für den Bau der Sätze sind durchaus schwerwiegend. Denn natürlich macht es einen Unterschied, ob ich sage:
"auch neben dem Turnunterricht war es ihm sehr darum zu tun, ein guter Sportler zu werden"
oder ob ich formuliere:
"Schwerpunkt seiner außerschulischen Tätigkeit war die Qualifikation zum Leistungssportler".

Der Unterschied ist nicht nur ein stilistischer, sondern - vorrangig - ein geistig-mentaler. Hier "werden buchstäblich verschiedene Weltbilder sichtbar."

Wichtiger sind jedoch nach Auffassung der Autoren "die syntaktischen Konsequenzen des Nominalstils", was sie an folgenden Beispielen zu verdeutlichen versuchen:

  1. die Nichtweitergabe von Kernwaffen wurde vereinbart / vereinbart wurde, Kernwaffen nicht weiterzugeben;
  2. der Schaden kann behoben werden / die Möglichkeit zum Beheben des Schadens (zur Schadensbehebung) ist gegeben / die Schadensbehebungsraöglichkeit ist gegeben (hier Zwischenruf: "grauenhaft!")
  3. ein Pflanzenzüchter, der im Obstbau gute Ergebnisse erzielen will, braucht große Sachkenntnis / die Erzielung guter Ergebnisse im Obstbau verlangt große Sachkenntnis des Pflanzenzüchters  (N.B. erinnert stark an den substantiv. Stil der DDR-Nachrichten, vgl. RF- und TV-Sendungen. Anregung an die Stud., solche Sendungen ggf. aufzuzeichnen und zu analysieren!)

Die zweite Formulierung werde durchspannt von einer seltsam linearen, starren Dingwörterkette. Diese Geradlinigkeit helfe "jeden syntaktischen Umschweif ein[zu]sparen". Die Tendenz gehe dahin, Nebensätze im heutigen Deutsch weitgehend zu vermeiden, "eine Entwicklung, die insbesondere die wenn- und daß-Sätze und die Infinitivgruppen betrifft".

"Nicht nur der Wortschatz, sondern auch der ganze Satzbau ist in Bewegung geraten". Bspp.:

Die sprachliche Ökonomie bestehe hier "in der funktionelleren, quasi genormten, syntaktisch elemente-ärmeren Bauart sowie in der Entlastung der Aufmerksamkeit auf Seiten des Rezipienten. Der Nominalstil erlaubt sehr oft, Wichtiges im Satz früher zu signalisieren.

In der heutigen Syntax Neigung zu einer Vorausnahme (Antizipation) : ich bitte Sie, das Rauchen im Saal zu unterlassen / ich bitte Sie, im Saal nicht zu rauchen: Für H. Moser "Ausdruck einer klaren redeökonomischen Tendenz".

Weitere Bspp. und Phänomene:

- bis hierhin etwa lexikalisch-phraseologischer Teil, für das Seminar interessant; syntaktisch-stilistischer Teil kann auf Wunsch angefügt werden; es folgen an späterer Stelle Bemerkungen zur ADJEKTIV-Lexik. Es besteht a. d. Möglichkeit, ein TB zur Werbesprache abzuhören.

Konzeption: Herbst 1979; Einlesen, Editing und HTML: (c) W. Näser 13.8.1999; 28.1.2003