Dr. Wolfgang Näser: Formen schriftlicher Kommunikation * WS 1998 / 99

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Textsorte / Text 3: Zeitungssprache, Interview

 
Audiatur et altera pars
Peter VON ZAHN am 14.2.1999
"Ein Mahnmal kann eine unglaubliche Beleidigung sein"

Welche Alternativen die Judaistin Marianne Awerbuch zum geplanten Gedenken an den Holocaust sieht

1917 wurde Marianne Awerbuch in Berlin geboren. 1939 floh sie nach Palästina, studierte in Tel Aviv Geschichte. 1966 kehrte sie in ihre Heimatstadt zurück. Lange Jahre leitete sie das judaistische Institut der FU. Mit Marianne Awerbuch sprach Jacques Schuster.

DIE WELT: Schon seit langem erregen sich die Gemüter darüber, wie man angemessen gedenkt, etwa wenn man sich der Debatte um das Holocaust-Mahnmal erinnert. Wie stehen Sie zu einem zentralen Mahnmal in Berlin? Was halten Sie von dem letzten, überarbeiteten Entwurf?

Marianne Awerbuch: Ich halte überhaupt nichts von einem Mahnmal und am allerwenigsten von dem letzten Vorschlag.

Alle Entwürfe sind derartig abstrakt, daß sich kein Mensch etwas darunter vorstellen kann. Wenn ich mal bösartig sein möchte, erinnert mich das ganze Verhalten der Befürworter dieses Mahnmals an den Elternmörder, der vor Gericht auf mildernde Umstände plädiert, weil er Vollwaise ist.

Hat also Martin Walser recht, wenn er von der Dauerpräsenz der Bilder von Auschwitz spricht?

Natürlich. Er hat die Wahrheit gesagt: Keiner will es mehr hören, und keiner will es mehr sehen. Walser hat ja nicht gesagt, er will nicht dauernd an die Vergangenheit erinnert werden durch die Bilder. Er hat ja nicht gesagt, daß er keine Scham empfindet oder daß er die ganze Sache nicht für genauso fürchterlich hält wie jeder moralisch denkende Mensch.

Und im übrigen: Mir, die auf der anderen Seite des Flusses steht ­ ich gehöre zu der Opfergeneration ­, geht es ähnlich. Auch ich kann diese dauernden Bilder der Erniedrigung und der Entmenschlichung in keiner Weise mehr ertragen. Daß Frauen, Kinder und Männer meiner Gemeinschaft, zu der ich gehöre, erst einmal entmenschlicht werden mußten, damit man sie dann tottreten konnte wie Ungeziefer ­ das ist ein Bild, das die Betroffenen noch viel weniger vertragen als die Nachkommen der Täter.

Mitleid ist eine Sache, die man nicht erzwingen kann: Entweder man hat es oder man hat es nicht. Was heißt denn Mitleid überhaupt? Sich in die Situation des Leidenden zu versetzen und mit ihm zu leiden? Das ist doch alles viel diffiziler.

Man stelle sich nur einmal vor, was geschehen ist. Eichmann hat in Jerusalem gesagt, die ganze Prozedur ist überhaupt nur möglich gewesen, weil wir von vorneherein die Juden als Helfer miteinbezogen haben. Und zu diesem Zweck wurde total programmatisch und methodisch gearbeitet: von den Viehgüterzügen an über die Selektion, von der Tätowierung der Opfer über die kahlgeschorenen Köpfe, von den Prügelstrafen bis zu denen, die "zu Tode gearbeitet wurden". Das haben nachher ehemalige Häftlinge, die eine hohe Sensibilität besaßen, niemals in ihrem Leben mehr verkraften können. Wie kann man denn die Spätselbstmorde von Primo Levi, Paul Celan, Jean Améry ­ um nur die wenigen zu nennen ­, wie kann man denn das sonst überhaupt verstehen? Wer einmal gefoltert worden ist, der bleibt sein ganzes Leben gefoltert, hat Améry einmal gesagt.

Was soll mir denn auf diesem Hintergrund ein Mahnmal sagen? Ein Mahnmal kann auch eine unglaubliche Beleidigung für die Nachkommen der Opfer sein.

Was wäre denn die Alternative?

Vorneweg sei folgendes gesagt: Wenn man ein demokratisches Deutschland aufbauen konnte ­ das erste Mal in der deutschen Geschichte ­, und dieses demokratische Deutschland wird ganz bestimmt standhalten, dann ist das eine Art von Wiederherstellung, die auch nur möglich gewesen ist aufgrund des Entsetzens über das, was im Dritten Reich geschah.

Die Demokratie als Mahnmal ­ reicht das?

Wir haben die Konzentrationslager als Gedenkstätten. Als Mahnmal in Berlin kommt, wenn überhaupt, nur eine einzige Stätte in Frage, die tatsächlich adäquat ist und auch in die Szene paßt: Das ist die "Topographie des Terrors". Diese Gedenk- und Dokumentationsstätte kann wenigstens ansatzweise die Abläufe der Vernichtung, den Apparat, dieses Ineinanderverwirktsein vieler Institutionen verdeutlichen.

Kommen wir zum Jüdischen Museum in Berlin. Sie haben den Bau als "Weltanschauungsarchitektur" bezeichnet. Was heißt das genau?

Ich kann mir überhaupt kein Museum in diesem Gebäude vorstellen. Ich sehe die engen Räume, die fehlenden Entfernungen. Man hat gar nicht die Möglichkeit, Bilder von weitem zu betrachten. Ich sehe, daß die Wände schief sind. Ich kann mir vorstellen, daß Mona Lisa, wenn sie dort hinge, durch die Verzerrungen der Wände anfangen würde zu grinsen.

Und es ist tatsächlich ein Weltanschauungsmuseum. Der Architekt bestimmt durch seine Art der Bauweise nicht nur, wie er sich das Museum vorstellt, sondern auch die gesamte Geschichte. Das haben wir schon einmal gehabt, im Osten wie im Westen, im Kommunismus wie im Nationalsozialismus. Und wir wollen das nicht wieder haben.

Welche Alternative gäbe es denn zum Libeskind-Bau?

Ich habe vorgeschlagen, man sollte das Ephraim-Palais beziehen und die jüdische Abteilung, wie sie bisher im Berlin-Museum existiert hat, hineinsetzen, vielleicht noch ein paar Ausstellungsstücke ankaufen und dort das Jüdische Museum eröffnen.

Wer sollte das Jüdische Museum als Direktor leiten?

Es gibt nur einen einzigen in Berlin, der das machen könnte: der gegenwärtige Direktor des Centrum Iudaicum, Hermann Simon.

Seine Familie ist hier in Berlin seit 1671 ansässig. Sie hat hier durchgängig gelebt. Hermann Simon gehört zudem zu den wenigen gebürtigen Berliner Juden, die etwas besitzen, was ich zum Beispiel als gebürtige Berliner Jüdin nicht gehabt habe: eine wirklich religiöse, jüdische Erziehung. Er weiß all diese Dinge. Er besitzt eine solide Basis, neben seiner langjährigen beruflichen Erfahrung.

Wir sprachen von der Idee, eine Hochschule für die Wissenschaft des Judentums zu errichten. Wie könnte das konkret aussehen?

Es wäre schön, wenn die Hochschule wieder dort einziehen könnte, wo sie einmal ansässig war: in der Artilleriestraße 14, der heutigen Tucholskystraße. Wir brauchen doch jüdische Lehrer und vor allem Rabbiner.

Es bleibt natürlich das Problem bestehen: Wo nehmen wir die Dozenten und wo die Studenten her? Aber wenn ich an die alte Hochschule zurückdenke, die 1870 eröffnet worden ist, dann muß ich sagen: Die hatte am Anfang acht Studenten. Das hat sich erst langsam entwickelt und ist erst nach dem Ersten Weltkrieg zu der wohl angesehensten Ausbildungsstätte für Rabbiner geworden.

Man muß also Geduld haben. Es gibt zahlreiche jüdisch-amerikanische Gelehrte, die ein liberales Judentum repräsentieren. Mit dieser Aufbauhilfe könnten wir dem Judentum in Deutschland wieder eine akademische Grundlage verschaffen.

(Quelle: DIE WELT, 9.11.1998; Korrekturen: WN 25.11.98)

Verfahrensweise und Aufgaben:

  1. Wir lesen den Text gemeinsam, klären unbekannte Wörter (Lexeme) und Wendungen (Phraseologismen) und versuchen, Synonyme zu finden.
  2. Wir betrachten die Ausdrucksweise (Stilistik) des Textes und hier besonders die textsortenspezifischen Stilmittel. Inwiefern unterscheidet sich unsere Konzertkritik von Text 1 und Text 2 ?
  3. Wir versuchen, den Text mit eigenen Worten zusammenzufassen (abstract writing).
  4. Wir versuchen, den Text inhaltlich zu kommentieren. Was wird gesagt, wie wirkt das Gesagte auf uns und welche Meinung/Ansicht haben wir dazu?
  5. Audiatur et altera pars: Dietmar SCHÖNHERR, Preisträger der "Goldenen Kamera Millennium" für seine Titelrolle in der SF-Serie "Raumpatrouille", nutzte am 14.2.99 den festlichen Rahmen als politisches Forum: flammend-emotional bezeichnete er - in Anwesenheit Steven SPIELBERGs - Martin WALSERs, hier nicht zur Diskussion stehende, umstrittene Rede als "nebulös"; er lasse sich von diesem "neutralen" Autor nicht vorschreiben, wie er mit der Vergangenheit umzugehen habe. Schönherr verlas eine Liste von Filmschaffenden, die im Dritten Reich umkamen: quasi potentiellen Preisträgern, die nie eine Chance hatten. Dies kommentierte der als Neil ARMSTRONGs Laudator anwesende Peter VON ZAHN, selbst Rundfunk- und Fernseh-Legende, mit dem obigen lateinischen Zitat. Gilt dieser Ausspruch [auch] für M. AWERBUCHs Ansichten?
Rev.: WN 15.2.99