Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser, Marburg, SS 2002 ff.

Brendel, Alfred (* 1931): Aus: "Vom Umgang mit Flügeln" (1974)
in: Nachdenken über Musik, München u. Zürich 1977, S. 178-180; 188-190

Der am 5.1.1931 im nordmährischen Wiesenberg geborene Brendel entstammt einer österreichisch-deutsch-italienisch-slawischen Familie. Mit 3 Jahren hört er die ersten Musikplatten, lernt mit 6 Jahren in Zagreb Klavier, übersiedelt 1943 nach Graz, studiert am dortigen Konservatorium Klavier und Komposition und Dirigieren, debütiert 1948 im Grazer Kammermusiksaal als Pianist, befaßt sich auch mit Malerei, Komposition und Literatur; seine pianist. Ausbildung beendet er bei Paul Baumgartner, Edwin Fischer und Eduard Steuermann. 1949 beginnt er seine internat. Karriere mit einem Preis beim Bozener Busoni-Wettbewerb, gastiert regelmäßig in London, Paris, New York, Wien, Berlin, München u. Amsterdam sowie auf europäischen und amerikanischen Festivals; 1960 spielt er als erster Pianist das gesamte Klavierwerk Beethovens ein, tritt mit großem Erfolg regelmäßig bei den Salzburger Festspielen auf (Orchester- u. Solokonzerte, Matineen, Liederabende). 1960-1970 unterrichtet er Meisterklassen in Wien. 1982-1983 spielt er in ausverkauften Sälen die 32 Beethoven-Sonaten: 77 Konzerte in Großbritannien, Frankreich, den USA, Österreich, Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden. 1987/88 spielt er Schuberts späte Klavierwerke in Europa, der Sowjetunion, den USA und Japan, startet eine weitere Tournee 1990. Ab 1943 lebte er über 20 Jahre in Österreich, seit 1979 in London. Neben seinem pianist. Wirken ist B. ein geistreicher Musikschriftsteller (Musical Thoughts and Afterthoughts, 1976; Music Sounded Out, 1995) und auch als Lyriker mit Sinn für das Skurrile hervorgetreten (z.B.: Fingerzeig. 45 Texte. München/Wien, 1996; => Rezension B. Cosack).

Seine umfangreiche Diskographie umfaßt Solo- und Orchesterliteratur von Bach, Beethoven, Brahms, Haydn, Liszt, Mozart, Mussorgsky, Schönberg, Schubert, Schumann u. Weber.
Auszeichnungen: u.a. Großer Preis der Liszt-Gesellschaft; Prix Mondial du Disque; Edison Award; Grand Prix des Disquaires; Grand Prix de l'Académie Charles Cros; Deutscher Schallplattenpreis; Wiener Flötenuhr; Japanese Record Academy Award; Gramophone Award; Ehrendoktorate der Univ. Oxford und Yale, honorary KBE (= knight commander of the British Empire; 1989).

Die nachstehenden Ausführungen sind in mehrerer Hinsicht interessant: zum einen als Beispiel sprachlicher Klarheit und schlichter Eleganz, zum anderen als Diskussionsbasis für alle, die sich - aus Liebhaberei oder professionell - mit dem Dokumentieren und Hören von Musik befassen. Vieles, was Brendel aus seiner Spiel-, Konzert- und Aufnahmepraxis erwähnt, kann ich aus eigener, über 21jähriger Erfahrung in der Live-Konzertaufnahme und Kontakten mit den entsprechenden Künstlern bestätigen. W.N.


Ein Flügel ist kein Fließbandprodukt. Jedes Instrument, auch des gleichen, illustren Firmennamens, ist für den Pianisten eine neue Erfahrung. Und zwar ist es nicht nur die Individualität des einzelnen Instrumentes, die ihm zu schaffen macht, sondern auch das Material und seine Ausarbeitung, also die Qualitätsunterschiede von einem Flügel zum anderen. Voller Neid sieht er den Cellisten sein eigenes Cello mit sich herumschleppen! (Trost wird ihm nur von Seiten der Organisten und Cembalisten zuteil, deren Anpassungsschwierigkeiten die seinen noch um etliches übersteigen.) Welche Energie erfordert es manchmal, in den jeweiligen Flügel hineinzuhorchen, welche Hartnäckigkeit, ihn für das jeweilige Stück geneigt zu machen! Der Pianist wird dabei finden, daß sich das Instrument manchen Stücken bereitwillig öffnet, anderen versperrt. Es mag einen unvermutet daran erinnern, an welchem Flügel man seine Jugendjahre verbracht oder ein bestimmtes Stück studiert hat: Vorstellung und Ausführung werden dann plötzlich wieder zur Einheit, etwas von der Freude und Konzentration des ersten Eindringens kehrt zurück, alte, verrunzelte Fingersätze zeigen sich in ihrer ursprünglichen Glätte - man findet heim in die unteren Schichten des Gedächtnisses.

Mancher Flügel wird dem Spieler überraschend zeigen, wie das Instrument beschaffen war, an dem der Komponist ein bestimmtes Werk komponierte: ein kantabler Flügel mit zartem Diskant, sanften Bässen und harfenartig raunender Verschiebung wird Liszts "Bénédiction" zum Leben erwecken, und die untere Mittellage eines Bösendorfers rückt Schuberts Begleitfiguren gebührend in den Hintergrund. Ein Pleyel-Pianino inmitten von Samtportieren, Kissen, Teppichen und Plüschmöbeln enthüllt vielleicht die Vernunft Chopinscher Pedalvorschriften. Überhaupt sind Flügel und Raum aufeinander angewiesen: Wer jemals mit einem Flügel gereist ist, weiß, daß derselbe Steinway oder Bösendorfer in verschiedenen Räumen nicht nur verschieden klingt, sondern nauch in der Spielart anders zu reagieren scheint. Der Widerstand der Taste ist ja, über den meßbaren mechanischen Tatbestand hinaus, ein psychologischer Faktor. Die Eigenschaften des Saales - ein Mehr oder Weniger an Resonanz, Helligkeit, Deutlichkeit und Räumlichkeit des Klanges - machen sich im Spielmechanismus bemerkbar und beeinflussen das Wohlbefinden: ein Saal kann den Spieler lähmen oder stimulieren. Es gibt Säle, die den Klang vergröbern oder abstumpfen; andere saugen das Pedal wie ein Löschblatt auf oder machen non-legato-Spiel zur Regel. So kann es, um auf Chopins Pedalzeichen zurückzukommen, auch allgemeingültige Pedalvorschriften nicht geben - die gibt es nur in der Vorstellung einiger Klavierlehrer -, es sei denn, sie bestimmten, wie jene seltenen Beethovens, die Farbe ganzer Abschnitte, das Halten von Orgelpunkten oder das nicht Selbstverständliche, ohne Hinweis nicht Plausible.

Viel wird davon abhängen, von welchem Instrument und Raum der Pianist gerade herkommt, ob er vertraute Verhältnisse vorfindet oder sich völlig umstellen muß. In diesem Fall wird das Einspielen und Einhören vor dem Konzert auch den Zweck haben, die jüngsten Hör- und Spielgewohnheiten möglichst gründlich aus dem Gedächtnis zu tilgen.

Der Anpassung an Flügel und Saal stellen sich eine Fülle von Umständen irritierend entgegen. Zunächst klingt der volle Saal beim Konzert manchmal ganz anders als der leere während der Probe. Die für ihre Akustik berühmten Säle des Wiener Musikvereins zum Beispiel schwimmen in menschenleerem Zustand geradezu davon. (Wiener Orchestermusiker hören einander deutlich erst während der Aufführung.)

Außerdem stimmt der Klang, der das Publikum im Saal erreicht, mit jenem auf dem Podium ziemlich selten überein. In extremen Fällen hat der Spieler wohl seinen Platz auf dem Podium kennengelernt, nicht aber den Saal. Er muß dann versuchen, seine musikalischen Absichten in einen mutmaßlichen Klang zu übersetzen, den er selbst nur indirekt kontrollieren kann. Dieses akustische Kaffeesatz-Lesen wird auch den erfahrensten Pianisten manchmal in die Irre leiten. Sofern er den Saal nicht selbst aus der Perspektive des Hörers genau kennt, wird der Spieler auf den Rat musikalischer Freunde angewiesen sein. Bei Schallplattenaufnahmen wird ihm der Klang der Lautsprecher im Abhörraum darüber Auskunft geben, ob und in welchem Verhältnis er seine musikalische Persönlichkeit spalten muß. [...]

Seit der Verbreitung der Schallplatte haben Konzerte auf unzulänglichen Flügeln weniger Sinn als je zuvor. Der Spieler muß Gelegenheit haben, mit seinen eigenen Schallplattenaufnahmen zu konkurrieren. Aber kann er das überhaupt? Ist nicht das Instrument sorgfältiger ausgewählt und instandgesetzt als üblicherweise vor Konzerten? Steht nicht der Stimmer bereit, bei jedem Nebengeräusch, jeder Schwebung der Tonhöhe, jeder lauten Note sofort nach dem Rechten zu sehen? Ergibt nicht, so möchte man meinen, die Möglichkeit, bei der Aufnahme Dinge zu wiederholen, zu verbessern, vom Fliegen des Pulses, von den blinden Flecken der Konzentration zu befreien, ergibt nicht die Ungestörtheit des musikalischen Selbstgesprächs, die Unabhängigkeit von den Hustenanfällen des Publikums ein Endprodukt, das den Vorstellungen des Spielers näherkommt? Und macht nicht die Leistung der Toningenieure, die dem günstigsten aller Klavierklänge vors Ohr zaubern, den Hörer unabhängig von den akustischen Nachteilen seines Sitzplatzes im Saal?

Zum Glück für das Konzertleben ist die Wirklichkeit weniger verklärend. Im Umgang mit Flügeln steht die heutige Tontechnik, wie es scheint, vor immer neuen Schwierigkeiten. Warum nur fiel es in den dreißiger Jahren so leicht, gute Klavieraufnahmen zu machen? Beim Hören der Platten Cortots, Fischers oder Schnabels fühle ich mich in einen guten Saal auf einen guten Platz versetzt; das Timbre der großen Pianisten ist da, der Flügel klingt homogen in allen Lagen, und dynamische Höhe- wie Tiefpunkte erreichen mich mit gleicher Überzeugungskraft. An diesem Eindruck haben auch technische Erklärungen nichts ändern können, die mir beweisen wollten, es hätten die Beschränkungen der damaligen Aufnahmepraxis eine getreue Wiedergabe nicht zugelassen.

Eher scheint es mir, daß die Differenziertheit des heutigen Aufnahmeverfahrens dazu verleitet, den Wald vor Bäumen nicht zu sehen. So bedürfen bestimmte Platten nun ganz bestimmter Lautsprecher, die wiederum bestimmten Räumen angemessen sind, damit die richtige körperhafte Wirkung des Klanges sich einstellt und Diskant und untere Lage des Flügels nicht etwa auseinanderklaffen, als kämen sie von verschiedenen Instrumenten oder aus verschiedener Entfernung. So hörten die Tonmeister der 78-Touren-Zeit vielleicht noch in aller Unschuld die Musik als horizontalen Verlauf, während ihre heutigen, musikalisch und technisch oft imponierend bewanderten Kollegen Mühe haben, sich der Gewohnheit des vertikalen Hörens zu entziehen, des Unter-die-Lupe-Nehmens messerscharfer Zusammenklänge, die ihnen die moderne Gepflogenheit des Tonbandschnitts zur zweiten Natur gemacht hat.

Und wie ist es mit dem Selbstgespräch des Künstlers in völliger Ungestörtheit bestellt? Lassen ihn die Tücken des Flügels, die Wehleidigkeit der Apparaturen, die Unzahl möglicher Geräusche wirklich ungeschoren? Zerschneidet nicht jeder Aufenthalt im Abhörraum seinen physischen Kontakt mit dem Instrument? Will ein Konzertpianist überhaupt Selbstgespräche führen? Doch nur dort, wo der Komponist es von ihm scheinbar verlangt wie in einigen langsamen Sätzen Beethovens, in denen die Musik sich in eine Innenwelt zurückzieht. Und selbst hier noch bestimmt die Absicht, sich belauschen zu lassen, die Tätigkeit des Spielers; das Publikum muß auch das geflüsterte, das abgewandte Wort verstehen. Diese Illusion des Belauschen-dürfens kommt im Konzertsaal als Ereignis zustande; das Isolieren des einzelnen aus dem Publikum, der bevorzugt an Geheimnissen teilhaben darf, das Schrumpfen der Distanz zwischen Podium und Hörer müssen hier erst als Kunststück vollbracht werden. Vor den Lautsprechern ist dieses Privilegiertsein fade Wirklichkeit; der Plattenhörer ist mit dem Musikstück ohnedies allein und hört sich, wenn ihm danach zumute ist, das Geheimnis in doppelter Lautstärke an: groß, fett und beißend liegt es vor ihm, zum Greifen nahe. Die Aufführung braucht sein aufmerksames Stillsitzen nicht, um zustandezukommen. Sie ist schon vorhanden und läuft ohne ihn ab, solange er den Apparat nicht abstellt. Im Konzertsaal ist die Regungslosigkeit jedes einzelnen ein Bestandteil der Aufführung. Die Konzentration des Spielers kehrt, im Stromkreis des Saales vervielfältigt, zu ihm zurück; sein Umgang mit dem Flügel wird so vom Hörer mitbestimmt. Der ideale Plattenhörer wird sich zu Hause in einen ähnlichen Zustand der Konzentration versetzen, von der Erinnerung an Konzert-Erfahrungen ebenso zehrend wie der Pianist, der im Aufnahmeraum für ein imaginäres Publikum spielt.

Wird ergänzt * Gestaltung (HTML) und Zusätze (c) Dr. W. Näser, MR, 22.8.2002 ff. * Stand: 23.8.2k2