Mein Weg zur Musik
Vom Hör-Interesse zur (nichtkommerziellen) Tondokumentation

Wolfgang NÄSER, Marburg (1988)

Ich liebe die Musik
und es gefallen mir die Schwärmer nicht,
die sie verdammen.
Weil sie ein Geschenk Gottes und nicht der Menschen ist.
Weil sie die Seelen fröhlich macht,
Weil sie den Teufel verjagt,
Weil sie unschuldige Freude weckt.
Darüber vergehen
die Zornanwandlungen,
die Begierden,
der Hochmut.
Ich gebe der Musik den ersten Platz nach der Theologie.
Das ergibt sich aus dem Beispiel Davids und aller Propheten,
weil sie all das Ihre in Metren und Gesängen überliefert haben.
Weil sie in der Zeit des Friedens herrscht.
Haltet also aus,
und es wird bei den Menschen nach uns
besser mit dieser Kunst stehen,
weil sie im Frieden leben.
Martin Luther (1483-1546)

Ähnlich wie beim Amateurfunk*) liegen auch hinsichtlich der MUSIK die Wurzeln meiner Begeisterung sehr weit zurück in der Vergangenheit.

Anders als bei sogenannten Wunderkindern, die schon mit vier Jahren auf der Violine oder am Klavier die Mitwelt erstaunen, kann ich nicht behaupten, in der frühen Jugend durch besondere Musikalität aufgefallen zu sein. In der Grundschule sangen wir unsere Liedchen wie hunderttausende Schüler gleichen Alters, und dann war da noch der Kindergottesdienst mit dem, was man so sang und hörte. Die kleine Wohnung am Jägerhof war manchmal erfüllt durch Klänge aus einem bescheidenen Radio, da war auch ein etwas seltsam anmutender Ton, der, wie ich später lernte, nichts anderes war als das Unisono-Spiel von Geigen in einem Streichorchester. Früher, erzählte mir Mutti, hätten sie einen Staßfurter Imperial gehabt, ein ganz tolles Radio, das hätten aber die Amerikaner mitgenommen, als sie in Arolsen einmarschiert seien.

In der Sexta und Quinta hatten wir Musik bei einem Herrn L., einem ziemlich schusseligen Pädagogen à la Feuerzangenbowle und, trotz schnoddriger Witze, bei weitem nicht dazu befähigt, irgendjemanden für Musik zu begeistern. Musik oder, wie ich es auch hörte, Músik, war wohl etwas, das man zu eigener oder anderer Leute Belustigung, in Kirchen oder bei Beerdigungen zum besten gab.

Oben wohnte eine Familie St.: Vertriebene aus Oppeln in Oberschlesien, waren sie vor zwei Jahren zu uns gekommen. St.s hatten ein neues Radio mit UKW: die Welle der Freude, nannte es die Werbung, und der Frankfurter Wecker war eigens dazu geschaffen worden, eifrig für UKW zu werben: die von den Deutschen schon 1949 eingeführte Ultrakurzwelle ermöglichte schießlich ungetrübten Klanggenuß durch ihre extrem breitbandige Ton-Übertragung. Und das hörte man von unten aus St.s Wohnung: einen Klang, als wenn die Musiker dort oben höchst persönlich erschienen wären, um ein Privatkonzert zu veranstalten. Das war also UKW. Schön, wenn wir auch so etwas hätten.

Ich war etwa 13 Jahre alt und in der Quarta der Christian-Rauch-Schule, des nach dem berühmten Bildhauer benannten Arolser Realgymnasiums. Wir bekamen einen neuen, noch ziemlich jungen Musikpädagogen: hager, schlank und drahtig, mit etwas heiserer Stimme, Zigarrenraucher. Musikdirektor Dietrich KRÜGER, aus Genthin in der damaligen Sowjetzone herübergekommen. Alles habe er dort zurückgelassen bis auf ein paar Noten, sagte man. Und drüben habe er sogar ein Orchester des Rundfunks geleitet. Mit einer Vespa fuhr er durch unser kleines Arolsen, und das ganze alte Schulgebäude, in dem heute der Bürgermeister residiert, war geschwängert vom Krügerschen Zigarrenrauch. "Komm her, du Stift, du Kommodenfuß," sagte er zu uns, und, wenn jemand die Noten nicht konnte: "Wann willscht Noten lernen? - Zähl an die Daumens". Und dann die Aufforderung zum Hinsetzen: "Komm zu Stuhl".

Im Musiksaal hatten wir damals noch den sog. Schulfunk-Empfänger, eine häßliche Nachkriegs-Kreation mit unförmigen Knöpfen und einem Urvieh von Plattenspieler. Krüger legte Johann Sebastian BACHs Brandenburgisches Konzert Nr. 3 auf; natürlich eine noch monaurale Einspielung und auch in der Tonqualität nicht mit Heutigem vergleichbar: aber die Musik wirkte. Eine schlichte, etwas spröde, aber sehr ansprechende Streicher-Melodie, mit einem zirpenden Etwas darin, das ich nie zuvor gehört hatte: ein Cembalo. Was war das? Ein Tasteninstrument, dessen Saiten nicht, wie bei einem Klavier, angeschlagen, sondern gezupft wurden. Johann Sebastian BACH, erfuhr ich, lebte von 1685 bis 1750, und er hatte einen ebenso berühmten Zeitgenossen, Georg Friedrich HÄNDEL, 1685-1759, der den Messias komponierte. Dietrich Krüger verstand es, fesselnd zu erzählen und den Lehrstoff mit so manchem Witz zu garnieren; bald wurde er zu einem meiner Lieblingslehrer. Als Chorist mit damals noch heller Sopranstimme sang ich mit bei MOZARTs Missa Brevis Nr.7 D-Dur, die irgendwann 1956 in Arolsens Stadtkirche erklang. Das war Krügers Debut. Bis zu meinem Abitur im März 1963 sollten BACHs Passionen und Weihnachtsoratorium, HAYDNs Schöpfung, HÄNDELs Messias, BACHs Magnificat, VIVALDIs Gloria und einige kleinere Werke dort erklingen, einige davon wurden, übrigens auch in Helsens Kirche, vom Hessischen Rundfunk mitgeschnitten. Ich erinnere mich noch an das aus einem Lautsprecher kommende Tonmeister-Kommando "Bitte schneiden ... bitte". Die Helser Orgel hatte Krüger mit einem elektrischen Spieltisch ausrüsten lassen, der damaligen Mode folgend. Ich lernte damals, als Quartaner, einen zwei Jahre älteren Jungen namens Wolfgang Sch. kennen, hochmusikalisch und schon erwachsen wirkend. Er spielte im schulischen Künstlerkreis eine ebenso bedeutende Rolle wie zum Beispiel eine von mir damals glühend verehrte junge Dame namens Ute Sch., auch sie zwei Jahre älter und in der Obertertia. Sie saß in Krügers Chor einige Plätze weiter und hatte immer das Notenheft Nr. 3; ich verehrte sie so, daß ich mir immer innigst wünschte, ich würde einmal sehr reich, um die besten Ärzte zu gewinnen, um Utes schwer behinderten, an den Rollstuhl gefesselten Vater heilen zu lassen. Und zum Lohn gab's dann die Prinzessin. Träume eines schüchternen Jungen.

Krüger nahm bereits seine Aufführungen auf Tonband auf, trug große Pappschachteln mit rotem BASF darauf unterm Arm. Die legte er auf ein klobiges Gerät mit Knebelknöpfen, dessen große Spulen sich schnell drehten, das war ein Grundig TK 8, mit einem für damalige Verhältnisse schon recht guten Ton. Ja, so etwas müßte man später auch mal selbst machen. Aber wir hatten kein Geld. und ich war doch erst dreizehn.

Noch als wir im wild-romantischen Jägerhof wohnten in der Großen Allee 71, machte ich erste Gehversuche auf der Schreibmaschine. Später, mit etwa 15, legte ich mir in den Großen Ferien eine Komponisten-Kartei an, alles mit Maschine im DIN-A-6 Format, mühsam, aber immer schneller abgetippt aus Friedrich HERZFELDs Lexikon der Musik, das ich von Krüger entliehen hatte. Die Kartei wuchs zu einem beachtlichen Umfang von etwa 500-600 Karten, und ich wurde dabei zu einem Experten in Musikgeschichte. Der weitsichtige Krüger gab uns damals schon Klavierauszüge oder gar Partituren zum Mitlesen, wenn er uns etwas vorspielte oder wir es zu Hause hören wollten. So saß ich mal eines Abends am Küchentisch mit einem Klavierauszug bewaffnet, um VERDIs La Traviata im Radio zu hören. Es wurde zu einer Tradition, am Karfreitag BACHs Matthäuspassion anzuhören und im Klavierauszug die verzierungsreichen Wege barocker Melodik zu verfolgen. Schon mit 13 oder 14 machte ich erste Dirigierübungen nach Radiomusik, kaufte vom ersten selbstverdienten Geld ein bescheidenes Einführungsbuch über die Musik, das ich immer dabei hatte, wenn wir mit Papa über Land fuhren, um Kunden zu besuchen.

Ich wollte sogar komponieren, besorgte Notenpapier, machte mich an eine Vertonung von Wachet auf, ruft uns die Stimme, mit vier Chorstimmen und Instrumentalbegleitung. Krüger hatte uns schon die Prinzipien der Akkordumwandlung und des vierstimmigen Satzes erklärt, wir wußten auch schon, was man unter Gegenbewegung verstand und Generalbaß. Krüger nahm meinen Versuch mit, sagte mir später, ich solle es erst einmal mit einem zweistimmigen Satz versuchen. Mein guter Freund Horst Hülsbeck, ein echter Kasseläner, lernte Klavier. Das war ein Privileg. Ein anderer guter Kamerad namens Gerhard A., heute Anatomie-Professor in Marburg, lernte das Orgelspiel, ein noch größeres Privileg. Und Wolfgang Sch. war schon ein beachtlicher Pianist. Horst, bei dem ich mich wie zu Hause fühlte, bekam bald eine sehr schöne Tenorstimme und die Chance, mit einer damals bekannten Oratoriensängerin namens Ricarda von LOEFEN unter Krügers Stabführung ein Duett zu singen. Wir faßten den Plan, zusammen eine Schallwand zu bauen, eine etwa 1,70 m große, über Eck aufgehängte, oben gedeckte, aber unten offene und nach dem Baßreflex-Prinzip arbeitende Ton-Säule mit drei oder vier Lautsprechern. Horst hatte das erste Exemplar bald fertig, ich erbaute das zweite, und es bedeutete höchsten Luxus, diese Schallwand mit einem ISOPHON-Baßlautsprecher auszurüsten. Die damals für deutsche Wertarbeit repräsentativen Isophon-Chassis befanden sich auch in der Lautsprecherbox, die die Turnhalle, unsere Kulturscheune, wie Krüger immer sagte, während der Tanzstunde mit flotten Rhythmen versorgte.

Mit 16 saß ich in meinem Zimmer, neben der Schallwand, um die Schlagerbörse zu hören oder, schon, den ersten guten Jazz im HR-Spätprogramm. Der tiefe Zupfbaß war ein Erlebnis. Das war noch MONO, aber welch ein Klang. Man konnte sich berauschen. Seit Pfingsten 1959 benutzte ich ein bescheidenes Telefunken-Magnetophon, das mein Vater für ein paar hundert Mark meinem Cousin Horst abgekauft hatte. Damals hatte ich mir vom ersten eigenen Geld ein bescheidenes BASF-Tonband gekauft, eine 180-m-Spule mit nur 13 cm Durchmesser und rotem Luvitherm-Band. Mehr war damals nicht drin. Bei Elektro-R. habe ich sie geholt. Ich habe HÄNDELs Feuerwerksmusik, gespielt von einem Bläserensemble unter Charles MACKARRAS, als eine der ersten Aufnahmen auf dieses Band übertragen. Aber stets von neuem mußte ich das Band löschen, ich hatte ja vorerst kein weiteres. Das war jene Zeit, als ich jeden Sonntagmorgen um Zehn im Hessischen Rundfunk eine Bach-Kantate hörte und fast nie zur Schule ging, ohne zuvor die Musik vor dem Alltag genossen zu haben, sehr gegen den Willen meiner Eltern, die gern etwas Flotteres zum Frühstück gehabt hätten. Damals lernte ich, was ein concerto grosso ist, wie es klingt, wann, in welcher Epoche so etwas komponiert wurde; italienische Namen klangen an mein Ohr: Baldassare Galuppi, Arcangelo Corelli, Antonio Vivaldi; auch von den Gebrüdern Gabrieli wußte ich, die schon im 16. Jahrhundert vielstimmige Musik geschrieben hatten: ich kannte sie durch meine Kartei. Ich wurde zum Bach-Liebhaber, kaufte ein Taschenbuch mit seiner Biografie, las es im Schwimmbad auf der Liegewiese. Da erfuhr ich etwas von Bachs frühen Wanderjahren und der regulierten Kirchenmusik. Bach, Händel und Mozart waren meine Favoriten. BEETHOVENs Leonore III, erst recht seine Sinfonien: das war eine andere Welt. Noch viel fremder erschien so etwas wie HINDEMITHs Mathis der Maler oder ORFFs Carmina Burana, die uns Krüger nahezubringen versuchte. Auch über Jazz erzählte er uns: diese Form der Musik, um 1900 von amerikanischen Südstaaten-Negern erfunden, lebe von der freien Improvisation. In seinen Noten-Diktaten lernten wir ein Gefühl zu bekommen für Rhythmen und Tonsprünge.

Krügers Chor-Arbeit wird immer unvergessen bleiben. Mit der dicken Zigarre im Mund sitzt er am Klavier, spielt aus der Partitur. Wer vorn nicht aufpaßt - da sitzen die Kommodenfüße -, bekommt eins auf den Kopf: so mancher Taktstock geht zu Bruch. Ich schenke ihm zum Geburtstag, und dies über mehrere Jahre, stets einen Taktstock: eine Hommage an den Meister. Krüger hat, das sehe ich immer mehr, etwas Bachisches. Und Krüger improvisiert: als bei einem seiner Kulturscheunen-Schulkonzerte (ich glaube, TELEMANNs Schulmeister-Kantate) ein Cembalo fehlt, rüstet er die Hämmerchen des vorhandenen Flügels kurzerhand mit Reißbrettstiften aus: das klingt fast authentisch.

Krüger reißt seine Schüler mit. Aus dem großen Schulchor kristallisiert sich eine Kantorei: ein Vokalensemble von hohem Niveau.

Noch 1959 mache ich mit einem (eigentlich nur für Sprache bestimmten) bescheidenen Kristall-Mikrofon den Versuch, ein Konzert live aufzunehmen: wie gewöhnlich musiziert Dietrich Krüger mit seinem Ensemble auf der Orgelempore der relativ kleinen Arolser Stadtkirche (Foto rechts); ich befinde mich am anderen Kirchenende, oben hinter dem Altar, bekomme das Ganze sehr distanziert und mit typischem Mikrofonklang. Erst drei Jahre später, im Herbst 1962, ein zweites, besses gelingendes Experiment: einer von Krügers Orgelschülern leiht mir sein "Magnetophon 75/13": von der rechten Seitenempore aus schneide ich, etwas ungünstig schräg von oben auf das Ensemble gerichtet, ein zweites Krüger-Konzert mit, BACHs Magnificat und VIVALDIs Gloria; das ist die Premiere meines neuen Breitband-Cardioidmikrofons D 19 BK/HI von TELEFUNKEN. Die heute verschollene Mono-Aufnahme erklingt in Auszügen letztmalig bei einer Amateurfunk-Rundspruchsendung Anfang 1967. Da das Leben scheinbar weitgehend vom Zufall regiert wird, konnte ich damals nicht im entferntesten ahnen, einmal mehr als eintausend Konzertaufnahmen mit teils selbstentwickeltem Gerät zu machen; doch der Weg dahin war vorgezeichnet. Es war ein langer Weg; einstweilen überlebte nur das Kristall-Mikrofon; mit einer PTT-Taste ausgestattet, diente es 1967 am umgebauten Sender meiner Amateurfunkstation.

Daß ich mein durch Nachhilfe-Unterricht (zu nur 2-3 DM pro Stunde) mühsam verdientes Geld dazu ausgab, mir für rund 150 DM das sehr kostbare, schon semiprofessionelle D 19 B und später ein Kleinmischpult zu kaufen, basiert nicht allein auf einer Liebe zur Ton-Technik, sondern auch und gerade auf einer tief empfundenen Neigung zur Musik. In meinem D 19 B hatte ich endlich ein meisterhaft gestaltetes technisches Werkzeug, den nahezu perfekten Schallwandler, um selbst die feinen Schwingungen eines Cembalos oder die diffizile Struktur eines komplexen Orgelwerks naturgetreu aufnehmen zu können. Was damals noch fehlte, waren mehr Gelegenheit und Ansporn zu Mitschnitten anspruchsvoller Musik wie der damals schon in Arolsen stattfindenden Schloßkonzerte. Wir hörten damals öfter von einer ausgezeichneten Cembalistin namens Ingrid HEILER. Ich hätte allerdings nicht gewagt, etwa ins Schloß zu gehen und eines ihrer Konzerte mitzuschneiden, mit einem Mikro, das nur einen halben Meter vor dem Instrument steht. Was mir auch fehlte, war ein ebenbürtiges, adäquates Bandgerät. Das KL 65 mit seinen kümmerlichen 13-cm-Spulen, der langsamen Bandgeschwindigkeit (9,5 cm/s) und dem zu brillanzunempfindlichen Tonkopf erbrachte nur amateurhafte Aufnahmen. Ich hätte damals so etwas haben müssen wie das neue GRUNDIG-TK45, 1962 eines der ersten Heimtonbandgeräte für Vollstereo-Aufnahmen in HiFi-Qualität. Das TK 45 und zwei D 19 B's hätten bei 19 cm/s schon damals, als ich die Oberprima besuchte, semi-professionelle Mitschnitte ermöglicht.

Alles hängt eben vom Reichtum ab: Qualität ist zum großen Teil eine Sache des Geldes. Damals war ich wütend auf die Geldsäcke, bei denen solche Geräte weitgehend ungenutzt herumstanden, während ich mich damit abmühte, durch mühsames Umkonstruieren das Letztmögliche aus meinem damals schon veraltenden, unzureichenden Magnetophon herauszuholen. Andererseits hat das wohl sein müssen auf dem steinigen Weg bis zur Aufnahme etwa eines Radiosinfonieorchesters, großen Chorwerks, eines Orgelkonzertes oder Kammerensembles. Zu den tiefen Gründen, der Schönheit und dem Geheimnisvollen, ja zum Verständnis von Kunst überhaupt gelangt man nur durch Anstrengung und Verzicht auf schnelle Annehmlichkeiten. Genuß kann schmerzen. Der Begriff LEIDENSCHAFT ist nicht weit hergeholt. Doch so etwas kann nur der Rück-Blick offenbaren.

Tonbandgerät, Schallwand und später der Verstärker-Bau standen somit alle im Zeichen der Liebe zur Musik, als Bemühungen, diese in größtmöglicher Naturtreue zu genießen, in ihre feinsten Strukturen vorzudringen, ihre Erschaffung mit geschärftem Empfinden nachzuvollziehen.

Schmerzlich war es gewesen, nach mehrmaligem Fehlen aus dem Chor zu fliegen. Der mitfühlende Klaus L. drehte, wenn er zur Nachhilfe kam, immer KRÜGERs Bild um: das hatte noch immer einen Ehrenplatz in meinem Zimmer, unmittelbar zwischen Schallwand und Komponistenkartei. Daß ich viel später letztere weggeworfen habe, erscheint mir heute mehr denn je als Akt der Barbarei, erklärbar nur dadurch, daß es Momente, Einschnitte gab, die die Musik zeitweise in den Hintergrund treten ließen. Das ist so bei Menschen, deren Neigungen sich nicht auf ein Gebiet beschränken. Es schlugen schon immer mehrere Herzen in meiner Brust: eines für Sprachen, eines für Technik, eines für Musik. Als ich Januar 1981 den ersten Stereo-Live-Konzertmitschnitt machte, hatte ich vierzehn Jahre Amateurfunk hinter mir, über 2.000 Farbdias gemacht, mehrere Verstärker gebaut, mich konstruktionell mit etwa zwanzig Spulen-Tonbandgeräten befaßt und bereits zwei Jahre Videorecorder-Erfahrung, außerdem interessierte ich mich auch für Flugzeugtechnik und Luftfahrtgeschichte. Und außerdem war ich schon über neun Jahre Wissenschaftlicher Mitarbeiter eines Uni-Institutes, das unter anderem Sprachgeschichte und besonders Mundartforschung auf seine Fahnen geschrieben hatte.

All dies muß - wie anders zu erklären? - schon vorgezeichnet gewesen sein, als ich mir damals als begeisterter Krüger-Fan ein schön gestaltetes Musik-Heft anlegte, das ich noch heute, über vierzig Jahre später, genauso besitze wie zum Beispiel die unter dem ebenso verehrten Heinz Rinke entstandene umfangreiche Französische Grammatik oder das Physik-Heft mit den minutiösen bunten Zeichnungen und der disziplinierten Druckschrift. Grammatik, Latein, Musik, Technik, ein schulisch vermitteltes Leben nach Bauprinzipien: so wie es die Natur ist, sollte auch das Leben eine Art Kunstwerk sein, sonst wäre alles umsonst.

Bundeswehr, Studium, Amateurfunk waren besagte Einschnitte. So wie ich einst unsere Klassenfeste mit selbst zusammengestellter Musik versorgt hatte (und dabei zum Kenner in Sachen Hits wurde), sorgte ich über sechzehn Jahre später wieder für flotte Musik: meine Cassetten drückte ich den Busfahrern in die Hand, die uns bei fünf Internationalen Ferienkursen zu unvergeßlichen Exkursionen kutschierten. Die flotte Musik der 'Charts' war wieder 'in' geworden, erst 1981 erfolgte die diesmal endgültige und mächtige Rückwendung zur ernsten Musik, tiefer und inniger denn je. Martin WEYER und Thomas HARTOG hatte ich in der Klosterkirche Haina aufgenommen, "Trompete und Orgel", von einer Archivcassette erklang strahlende Barockmusik in einem Exkursionsbus, der Fahrer war angetan. So etwas höre er sehr gern; desgleichen meine Kursstudenten: ich lud sie ein in den Geographie-Hörsaal, bot ihnen eine Auswahl von Live-Konzertaufnahmen des ersten halben Jahres, sie haben es genossen. Deutsch als Fremdsprache wurde zum Schwerpunkt meiner Lehre, seitdem erklingen am Anfang jeder Doppelstunde bis heute immer einige Minuten aus Live-Aufnahmen von Marburgs reichem Musikleben. Sprache und Musik, beton(t)e ich immer wieder, gehören so eng zusammen, und wenn man die deutsche Sprache lehrt in einer Stadt wie Marburg, dann gehört es sich einfach, in diesem Rahmen und in dieser zunehmend technokratischen Zeit auch Musisches und damit Musik zu vermitteln. Viele meiner Studierenden wußten es zu schätzen.

Die Geschichte meiner Musik-Begeisterung wurde somit auch die meiner Live-Konzertaufnahmen. Fast 17 Jahre nach den ersten Versuchen hatte ich im Sommer 1979 anläßlich des Uni-Sommerfestes das collegium musicum instrumentale unter Professor Martin WEYER in der Alten Aula mitgeschnitten: noch monaural mit dem übrigens sehr guten GRUNDIG-Reportage-Spulentonbandgerät TK 3200 HiFi, Ende 1971 vom ersten richtigen Gehalt erworben. Auf dem Polstersitz links neben mir am Mittelgang stand, fast gänzlich versteckt, auf seinem Tischfuß ein dynamisches Mikrofon: dennoch wurde es eine recht gute Aufnahme. Ein Jahr später nahm ich Ende Juni Martin Weyer an der großen Orgel der Elisabethkirche auf, wieder mit dem TK 3200, aber schon mit zwei parallelmontierten und -geschalteten Elektretkondensator-Mikrofonen. Weyer spielte zuletzt J.S. BACHs berühmte d-Moll-Toccata, als Rausschmeißer, wie er sagte, als ich ihm die Cassettenkopie brachte; und später: er habe ja gar nicht gewußt, daß seine Orgel so gut klinge. Als ich Ende Januar 1981 das Semesterabschlußkonzert des collegium musicum mitschneide, stehen am Ende eines 1,70 m hohen, richtigen Mikrofonstativs auf einer Traverse zwei identische Elektret-Mikrofone im 90-Grad-Winkel, vorn neben der ersten Reihe, und leuchten akustisch den Klangkörper aus. Das ist immer noch monaural, klappt aber schon besser. Noch sind diese Live-Aufnahmen technische Experimente am Rande eines der Nachrichtentechnik gewidmeten Handelns. Ein ebenfalls vielseitig interessierter Funkamateur, der uns damals besucht, wundert sich, daß ich nicht stereophon mitschneide.

Am 8. Februar 1981 wird in der katholischen Kirche St. Peter und Paul, direkt neben dem Auditoriengebäude, Louis SPOHRs Oratorium Die letzten Dinge aufgeführt, und zwar vom Marburger Konzertchor unter der Stabführung von Siegfried Heinrich. Diesen Namen hatte ich schon früher in der HÖR ZU gelesen, der HR hatte Mitschnitte vom Marburger Bach-Fest gesendet. Eine gute Bekannte sang damals noch in Heinrichs Chor mit, ihr verdanke ich die Anregung, mich dazu aufzuraffen, dort einen Live-Mitschnitt zu versuchen. Ich hatte damals zwei Spulentonbandgeräte, mit denen ich eine STEREO-Aufzeichnung - meine erste - hätte versuchen können: das schon im Herbst 1969 durch studentische Ferienarbeit erworbene und ziemlich problematische NORD-MENDE 8001/T4 und ein altes REVOX G 36, für nur 300 DM im Juli 1979 auf dem Amateurfunk-Flohmarkt in Friedrichshafen erstanden. Nach langem Hin und Her - es bestand auch die Schwierigkeit der Mikrofonanpassung - entscheide ich mich für das rund 20 kg schwere 8001 und versuche es in der Kirche mit einer 120-Grad-Anordnung aus je 2 parallelgeschalteten Mikros pro Kanal; L und R sind nicht identisch. Der Kontroll-Kopfhörer ist primitiv, also muß ich mich auf Zuversicht, akustische Improvisation und gute Aussteuerung verlassen. Auf dem Gerät liegt ein sehr gutes japanisches Spulenband. Ich werde nie vergessen, wie ich zum ersten Mal bei einer solchen Aufnahme das faszinierende Spiel der beiden verschieden ausschlagenden VU-Meter genoß: sichtbares Zeugnis für wirklich stereophone Erfassung des konzertanten Schalls. Siegfried Heinrich: in den Vierzigern, ungemein jung und vital wirkend. Mein erster Stereo-Mitschnitt eines anspruchsvollen großen Live-Konzerts. Heute wirkt die Aufnahme etwas distanziert, vor allem wegen der zu weit entfernt postierten Solisten, dennoch klingt sie lebendig wegen ihrer Räumlichkeit und, überhaupt, wegen der hohen Qualität der Aufführung. Das ist die Handschrift des durch und durch von seinem Künstlertum beseelten Heinrich, wie ich ihn noch oft erleben durfte in einer Aufnahmetätigkeit, von der ich keine Minute bereue. Dieser Oratorien-Mitschnitt, in neuer akustischer Dimension und Zeugnis einer vollendeten künstlerischen Qualität, markiert einen Wendepunkt, den Neubeginn eines von kostbarsten Kleinodien gesäumten Weges.

Auch Martin Weyers Collegium wird im Sommer '81 erstmals stereophon verewigt, diesmal mit einem für nur 50 DM im Second-Hand-Shop erstandenen, wieder hergerichteten SABA-Vierspurgerät. Im Herbst mache ich Bekanntschaft mit dem Marburger Bach-Chor, Anfang 1983 schließlich mit Marburgs drittem und mindestens ebenso bekanntem Chor, dem Vokalensemble Marburg unter dem mitreißenden Rolf BECK. Allen drei Ensembles bin ich von da an verbunden geblieben. Große Oratorien konnte ich dokumentieren wie BACHs Passionen, sein Weihnachtsoratorium und seine h-Moll-Messe, HÄNDELs Messias, MOZARTs Requiem, das Deutsche Requiem von BRAHMS, PUCCINIs Messa di Gloria und ROSSINIs selten aufgeführte Petite Messe solenelle. Dazu das ganze Orgelwerk J.S. BACHs, viele Orchesterkonzerte und kammermusikalische Ereignisse, auch äußerst wertvolle und interessante Freilicht-Opernaufführungen wie die von MONTEVERDIs Orfeo oder Carl ORFFs Die Kluge in der einzigartigen Bad Hersfelder Stiftsruine. Auch konnte ich Organisten wie Guy BOVET oder Matthias EISENBERG (beides exzellente Improvisatoren!) verewigen, den liebenswerten Pianisten Jörg DEMUS und den weltberühmten Trompeter Ludwig GÜTTLER mit seinen Virtuosi Saxoniae. Unvergessen Peter SCHREIER mit Schuberts Winterreise; obwohl extrem erkältet, gestattet er die Aufnahme; das auf der Stadthallen-Bühne nur anderthalb Meter vor ihm stehende kleine Mikrofon dokumentiert, wie beispielhaft diszipliniert dieser Kammersänger seine Stimme auch in körperlicher Indisponiertheit einsetzt und wie diese Stimme bis zum Ende durchhält, bravourös und mit Wärme Geist, Form und Aussage des Werkes vermittelt.

Besonderes Gewicht hatten die vielen Aufnahmen von Sakralorgeln. Ein großes Orgelwerk mit seinem gewaltigen Ton- und Klangspektrum von höchsten Mixtur-Pfeifen bis zum 32-füßigen Subbaß übt eine große Faszination aus. Bereits Anfang 1983 verwende ich zu derartigen Aufnahmen die sog. OSS-Technik mit Jecklin-Scheibe, und es gelingen beispielweise in der Marburger Kugelkirche oder der Bad Hersfelder Stadtkirche beispielhaft schöne Mitschnitte hervorragend gestalteter Orgelkonzerte.

Durch die Mitschnitte hatte ich Gelegenheit, beim wiederholten Hören tiefer in die klanglichen und melodischen Strukturen einzudringen, die ausübenden Künstler näher kennenzulernen und, wie es eine Ostberliner Solistin formulierte, sie bisweilen auch tonmeisterlich zu betreuen. Nun endlich konnte ich im Sinne eines sehr ernstgenommenen Amateurtums einer Tätigkeit nachkommen, die ich mir schon während der Schulzeit sehnlichst gewünscht hatte. Im Laufe der folgenden Jahre trat ich nicht nur der Neuen Bachgesellschaft bei, sondern Ende 1984 in München anläßlich seiner Tagung auch dem Verband Deutscher Tonmeister.

Es ist ein sehr schönes Gefühl, Klangereignisse mit einer Technik zu dokumentieren und zu bearbeiten, die man teilweise selbst konstruiert hat. Technik als Hilfe, als Mittel, nicht als Selbstzweck, auch wenn die hier beigefügten Fotos das Gegenteil vermuten lassen. Denn: was kann alle Technik bewirken, wenn ihre Benutzung nicht einem der Kunst verpflichteten Wollen und Handeln gehorcht?

Als ich am 12. August 1988, müde von einem neuen und weiteren Arbeitsschwerpunkt, nämlich den ersten zweieinhalb Monaten intensivster Computer-Arbeit, in der Bad Hersfelder Stiftsruine sitze, direkt vor dem Orchestergraben mit dem RSO Prag, das zweieinhalb Meter hohe Stativ mit dem bescheidenen Eigenbau-Mikrofonsystem neben mir, und als dann vorn auf der Bühne die wunderschöne Beate BERTHOLD beginnt, BEETHOVENs "heroisches" Klavierkonzert Nr. 5 in Es-Dur zu interpretieren+), da fühle ich, daß das alles nicht umsonst war: es ist, als ob Gott zu mir spricht in dieser Musik. Die Musik als Trösterin. Was wären wir ohne sie.  
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+) Hier der (bearbeitete) Schluß meiner damaligen Aufnahme! 
*) Zusammen mit dem Cassettenrecorder-Aufsatz schrieb ich die ursprünglichen Texte zu Musik und Amateurfunk kurz nach meinem PC-Beginn im Frühsommer 1988 (zunächst als "Übungen" unter Word 4.0) und adaptierte sie später für meine Homepage (die Bilder wurden ab Frühjahr 2002 integriert).
Zum benutzten Equipment und Berichten aus der Aufnahme-Praxis mein separater Text "Low-cost Live Recording"

Stand: 22.11.2014