Apparative Feldforschung und Sprachdokumentation an der Schwelle zum neuen Jahrtausend

von Wolfgang Näser (1996 ff.) *)

Die Sprache ist kein Wegwerfartikel: deshalb verdient sie es, technisch, wissenschaftlich und künstlerisch optimal aufgezeichnet und dokumentiert zu werden. Wenn innerhalb der Sprachwissenschaft apparative Feldforschung betrieben wird - und das immerhin schon seit 1899 - , so ist es recht und billig, daß sich unsere Wissenschaft hier am neuesten Stand der Technik orientiert. In der letzten Dekade (1987-1996)  eroberte die digitale Tonaufnahme und -wiedergabe auch den sog. Consumer-Bereich, damit einen preislichen Rahmen, der auch kleinere Institute oder sogar Privatpersonen keineswegs überfordert. Andererseits bietet die analoge Aufnahmetechnik auch weiterhin relativ unkomplizierte Mittel und Verfahren, mit denen sich gesprochene Sprache in allen Varietäten (z.B. Dia-, Sozio-, Ergolekte) praktisch verlustfrei dokumentieren und archivieren läßt. Dies befreit die apparative wissenschaftliche Sprachdokumentation endgültig von dem althergebrachten Nimbus der Exklusivität und räumt gleichzeitig auf mit dem Vorurteil, man könne nur mit teuersten vollprofessionellen Studio-Geräten in der sprachwissenschaftlichen Phonetik dokumentieren und archivieren. Aus Trends, Erkenntnissen und Technologien, vor allem aber auch aus der täglichen Arbeit heraus lassen sich kreative Möglichkeiten ableiten, die, herstellerunabhängig und kostensparend in Selbsthilfe °) genutzt, die auditive Feldforschung bereichern können.

Die apparative Feldforschung besteht im wesentlichen aus Dokumentation und Analyse; erstere gilt als tragendes Fundament. Nur optimal Aufbereitetes bringt optimale Erkenntnisse. Apparative Sprachdokumentation geschieht in der Regel "vor Ort", also beim Sprecher daheim oder am Arbeitsplatz, immer in seiner individuellen sprachlichen Umwelt, dem Untersuchungs-"Feld". Wer "ins Feld" geht, benötigt ein Equipment, das entsprechende Bedingungen aushält. Dem heutigen Sprachforscher stehen vielfach bessere, kleinere, leichter handhabbare und größtenteils billigere Geräte zur Verfügung als seinem Vorgänger vor etwa 40 Jahren, der mit Aufnahmewagen und Toningenieur anreisen mußte, um studioreife Aufnahmen zu gewinnen. Die Studio-Qualität gilt unverändert und mehr denn je als dokumentarisches Arbeitsziel, nur sie gewährleistet ein naturgetreues akustisches Abbild und damit ein in jeder Hinsicht authentisches Dokument der Sprachwirklichkeit. Das bedeutet nicht nur hundertprozentige Verständlichkeit der Information, sondern vielmehr auch die Summe der bei der Sprachproduktion anfallenden akustischen Daten: zum einen den gesamten Sprachfrequenzgang einschließlich der höchsten Formanten, zum anderen die suprasegmentalen Komponenten wie Druckstärke, Akzent und Tonhöhe. Die Aufnahme muß frei sein von unnatürlichem Störgeräusch (Rauschen, Brummen, Kratzen o.ä.) und elektrisch bedingter Verzerrung (Klirr); alle Teile des Frequenzspektrums müssen gemäß dem natürlichen Amplitudengang des Sprachflusses dokumentiert werden, also linear unverzerrt. Ebenso ist eine Laufkonstanz der Mechanik anzustreben, die alle natürlichen Schwebungen der Stimme unverfälscht erfaßt und reproduzierbar macht: die menschliche Sprache in ihrer Universalität ist ja nicht allein Informations-, sondern auch Gefühlsträger. Die (elektro-)akustische Sprachaufnahme muß die in Stimme und Sprechakt verkörperte, erkennbare Persönlichkeit des Sprechers mitdokumentieren. Das impliziert ein über das Technische, apparativ-Nüchterne hinausweisendes künstlerisches Moment: der aufnehmende Explorator muß hierfür intuitiv begabt sein und fähig zu schöpferischer Improvisation, wenn es darauf ankommen sollte, bei der Sprecheraufnahme unter Umständen besondere Wege zu finden, um der dokumentierten Persönlichkeit optimal gerecht zu werden. Das erfordert auch die Fähigkeit, einen über das rein Zweckmäßige hinausgehenden menschlichen Kontakt zur Gewährsperson zu finden, der sowohl zu fruchtbarer Kommunikation (Interaktion) führt wie auch - seitens des Befragten - zu hilfreicher Einsicht in die wissenschaftliche Zielsetzung und zu einer Bereitschaft, über das Punktuelle der Aufnahme hinaus an der wissenschaftlichen Arbeit Anteil zu nehmen.

Die der Schwelle zum nächsten Jahrtausend zustrebende Tonaufnahmetechnik bietet grundsätzlich alle Möglichkeiten, die genannten Ziele optimal zu realisieren. Andererseits erfordert (vor allem im peripheren Bereich) unsere spezielle Wissenschaft auch weiterhin besondere ingenieurmäßige bzw. aufgabenspezifische (Teil-)Lösungen, die innerhalb der Unterhaltungselektronik und der professionellen Studiotechnik entweder nicht realisiert oder zu horrenden Preisen angeboten wurden. Die von der Industrie vorgestellten Innovationen sind stets kritisch auf ihren performativen "Mehrwert" hin abzuklopfen.

DIE DIGITALISIERUNG ERSCHLIESST NEUE DIMENSIONEN

Dank der Einführung des Transistors um 1955 und der Integrierten Schaltung (IC) um 1960 wurde inzwischen ein Grad von Miniaturisierung erreicht, der schon um 1980 zu einem Mini-Cassettentonbandgerät (incl. Stromversorgung und Mikrofon) im Filzschreibergehäuse führte: es ermöglicht immerhin "Telefonqualität", während das nur seifenschalengroße Analog-Spulengerät "Nagra SN" auf 3,81 mm breitem Cassettenband Studioaufnahmen erstellt. Die "Mini-Nagra" ist allerdings inzwischen antiquiert, hat doch die hochintegrative MOS-Technologie mit hunderttausenden oder gar Millionen aktiver Bauelemente pro Chip ebenfalls nur seifenschalengroße digitale Tonaufnahmegeräte hervorgebracht, deren Tonköpfe rotieren (helical scan, DAT-Prinzip) oder festmontiert sind und vielspurig abgetastet werden (DCC). Eine dritte Recorder-Variante arbeitet mit ca. 2,5 Zoll großen, magneto-optisch beschriebenen und (wie CDs) optisch gelesenen Mini-Discs (MDs). Für eine Stunde Stereo-Ton in höchster Qualität verwendet das DAT-Verfahren wie die CD etwa 600 Megabytes (MB); DCC reduziert die Datenmenge auf ein Viertel und die MD gar auf ein Fünftel. Die nach dem so. PASC-Verfahren (en)codierende MD erreicht dennoch die Klangqualität eines guten Analog-Cassettenrecorders und bietet aufgrund ihres titelorientierten, schnellen Zugriffs und ihrer verschleißfreien Abtastung beste Voraussetzungen für Lehrbetrieb, Laboranalyse und lange Lebensdauer. Der bereits in meinem Aufsatz von 1987/89 (s.u.) angedeutete und inzwischen stationär verwirklichte CD-Recorder wird bis zur Jahrtausendwende auch als Walkman oder Porti erhältlich sein. Interessanterweise sind im Digitalbereich bislang die Aufnahmestunden-Materialpreise meist umgekehrt proportional zur erzielbaren Qualität: DAT bietet 3 Stunden Studio-Qualität im Standard-Play-Modus (und 6 Stunden gute Analogcassettenrecorder-Qualität im long play mode) für rund 13 DM (Uni-Preis), DCC  ("Oberklasse I") 1.5 Stunden für etwa 15 DM, die Mini-Disc ("Oberklasse II") 60 Minuten für rund 18-20 DM; die ebenfalls Studio- oder Referenzqualität bietende, per Laser "gebrannte"  Audio-Selbstaufnahme-CD bietet pro "Rohling" 60-73 Minuten Stereo-Audio für (Stand: 4/98) nur 2 DM. Eine 1996 prototypisch vorgestellte, 1997/8 in den Markt eingeführte (Mehrschichten-)Langzeit-CD(-ROM), die sog. DVD, wird mehr als 10 Gigabytes an Information fassen und realisiert dementsprechend 13 oder mehr Stunden Studio-Qualität auf verschleißfreiem, langzeitig archivierbarem Tonträger. Für immer noch HiFi-konforme Archivqualität ließen sich mit 5-facher Datenreduktion (PASC, -> MD) auf dieser "Super-CD" nicht weniger als 70 (oder mehr!) Stunden Stereo- oder 140 (!) Stunden Mono-Programm unterbringen; reduziert auf die schon 1987 projektierte Datenkompression mittels 4-Bit-Rate, würde eine solche CD mindestens um die 1000 (tausend !) Stunden Audio-Information in Telefonqualität speichern.

Ein absolutes Novum ist die - schon um 1980 als Utopie erahnte - Schallaufzeichnung auf starre Festkörper-Speichermedien; der Fortschritt in der Chip-Herstellungstechnologie (Packungsdichte bis in den Gigabyte-Bereich hinein) führte ab ca. 1995 zu Diktiergeräten und Telefon-Anrufbeantwortern, die auf solchen VLSI-Chips schmalbandige Tonmitschnitte (Telefon-Qualität) bis ca. 60 Minuten ermöglichen. In Form extern einsteckbarer Karten können solche solid state media auch per Computer und Extrem-Datenreduktion (z.B. Real Audio) zur Tonaufnahme und -wiedergabe verwendet werden. Im Gegensatz zu (mechanisch gesteuert) rotierenden oder sonstwie transportiert abgetasteten Tonträgern sind Festkörperspeicher unempfindlich gegen Vibration und haben praktisch keinen Verschleiß, wenn man von der beim Einstecken bzw. Herausziehen anfallenden Reibung an der Oberfläche und der Kontaktierung absieht, der ggf. durch optische  bzw. induktive Daten-Übernahme (Interface) und einen Caddy-Lademechanismus (wie in CD-Geräten) begegnet werden könnte.

Wir sehen, daß die mittlerweile schon nahezu völlig digitalisierte Audio-Verarbeitung unser Denken und Handeln in völlig neue Dimensionen führen und Exploratoren, Dokumentatoren und Archivare zwingen wird, sich völlig neue Arbeitsformen anzueignen.

FORTSCHRITTE UND NACHTEILE DER MINIATURISIERUNG

Um die Kleinheit und Zuverlässigkeit der erwähnten Geräte zu erreichen, wurden mittels neuer Metall-Legierungen und Kunststoffe kleine und dennoch präzise arbeitende Laufwerke geschaffen; wo immer möglich, wurde Mechanik durch Elektronik ersetzt. Die Temperaturfestigkeit elektronischer Bauteile in Consumer-Geräten reicht heute von etwa -20° bis +85° C; das gestattet apparative Feldforschung unter nahezu allen Klimabedingungen. Der Stromverbrauch solcher Mini-Recorder richtet sich nach Packungsdichte und Verbrauch ihrer Elektronik und damit auch nach dem für Aufnahme und Wiedergabe nötigen Energiebedarf. Nachteile konsequenter Miniaturisierung liegen im thermischen Bereich (Wärmestau im Gerät, Gefahr für sensible Bauelemente), auch lassen sich ultrakleine Geräte umso schwerer bedienen, je mehr an Tasten, Knöpfen, Schiebern dort auf klein(st)em Raume angeordnet sind. Nicht selten sitzt der heutige Sprachforscher (oder Tonmeister) vor einem mikroskopisch anmutenden, an Kleinheit das Mikrofon übertreffendem Gerät und sieht sich außerstande, damit eine allen Gesetzen der Effizienz und Ergonomie entsprechende Aufnahme herzustellen; dies ein deutlicher Beweis dafür, daß die Industrie Anforderungen und Bedürfnisse wissenschaftlicher auditiver Sprachexploration immer mehr außer Acht gelassen hat. Da ist es ein nur schwacher Trost, daß sozusagen als letzter "Bolide" der semi-professionellen Analog-Cassetten-Recorder SONYs "TCD-5M" noch immer produziert und (für inzwischen rund 1800 DM) verkauft wird. Die logarithmisch fortschreitende, kaum noch nachvollziehbare Technologie-Entwicklung und die entsprechenden marktpolitischen Grabenkämpfe lassen heute keine verläßliche Prognose mehr zu dahingehend, wie lange sich die 1963 in den Markt eingeführte herkömmliche Audio-Kompaktcassettentechnik behaupten wird; für wissenschaftliche Applikationen ist dies insofern vital, als mit Datenerhebung, Auswertung, Archivierung, Publikation, Vertrieb und Didaktik entsprechende logistische Fragen verknüpft sind. Schulen und wissenschaftliche Institutionen müssen jetzt entscheiden, welches Verfahren sie schwerpunktmäßig in den nächsten 2 Dekaden anwenden: langfristig vorausschauend vor allem im Hinblick auf Archivierung und Kompatibilität. Denn niemand vermag heute, 1996, vorauszusagen, welche Tonaufnahme- und -wiedergabegeräte es im Jahre 2020 in wie auch immer gearteten Schulen,  Studios und Labors gibt und ob nicht die gesamte auditive Dokumentation und Reproduktion bis dahin auf die schon um 1980 visionär angedeuteten Festkörperspeicher verlagert worden ist. Jedoch wird auch dies (wie derzeit die Frage der Mini-Disc als PC-Massenspeicher) von rein lobbyistischen, marktpolitischen Erwägungen abhängen.

Entwicklung und Gebrauch der peripheren Ausrüstung (Mikrofone u.a.) verlaufen analog. Die schon 1928 (durch Georg Neumann) begonnene und angewandte Kondensator-Mikrofontechnik wurde derart miniaturisiert, daß höchstwertige Elektret-Kapseln kleiner sind als Mini-Pillen und, eingebaut in Sonden oder superminiaturisierten Hör-Hilfen, die Medizin in Forschung und Therapie unterstützen. In absehbarer Zeit wird der gesamte menschliche Hörapparat durch elektronische "Devices" ersetzt werden können, so wie man derzeit auch daran arbeitet, Augapfel und Netzhaut durch ein hochauflösendes elektronisches Bildaufnahme- und -verarbeitungssystem zu ersetzen.

Was Lautsprecher und Kopfhörer betrifft, also die zum Abhören und Beurteilen nötigen Komponenten, so hatte man zwar schon um 1945 HiFi-konforme Prototypen, doch brachten erst die sogenannten Elektrostaten Schallwandler, die selbst steilflankige Signalanteile weitestgehend originalgetreu abbildeten; der schon um 1984 von Magnat vorgestellte Ionen-Hochtöner sollte eine Revolution einläuten, verschwand jedoch bald wieder aus der High-End-Szene; andere Konzepte wie der flache Manger-Wandler überlebten. HiFi-konforme Kopfhörer gab es schon um 1950 (der Beyer DT 48 wird sogar heute noch von einigen Tonmeistern und Ohrenärzten verwendet), die für den sog. Walkman und seine Nachfahren entwickelten Im-Ohr-Miniaturhörer sind jedoch insofern unergonomisch, als sie sich nur ungenau positionieren lassen und öfter herausfallen. Anspruchsvolles Abhören erfordert zwar hochqualitative Schallwandler, doch auch und gerade ein phonetisch geschultes und ausgeruhtes Gehör. Trotz allem technischem Fortschritt ist und bleibt das Ohr das empfindlichste und selektivste akustische Meßinstrument.

Auch akustische Zusatzgeräte gehorchen den modernen Trends; um 2000 oder kurz danach ist möglicherweise die gesamte Signalverarbeitung vom Mikrofon über Mischpult, Verstärker, Aufnahme- und Wiedergabegerät sowie Schallwandler digitalisiert. Die im phonetischen Labor vorgenommene Analyse ist ohnehin schon um 1985 vom mechanischen Sonagraphen zum PC-kompatiblen Prozeßrechner übergegangen, dieser markiert den Anfang einer Entwicklung hin zur verzögerungslosen Echtzeitverarbeitung (real time processing) mit ad-hoc-Sonagrafie und -Transkription; die mittlerweile (1998) zur Pentium-II-Technologie mit 400 MHz Prozessortakt und ultraschnellen RAM-Speichern bis 128 MB gereifte PC-Technik wird in kürze geeignete Hardware-Plattformen zur Verfügung stellen.

Mit der rasanten technologischen und performativen Entwicklung stellen sich Fragen nach neuen Dokumentations- und Evaluationsformen ebenso wie nach der möglichen Weiterarbeit mit konventioneller analoger Technik; weltweite Sparmaßnahmen vor allem im Wissenschaftssektor erzwingen ein Abwägen zwischen Vernunft und Überschuldung. Andererseits kommt es bekanntlich, wie es kommen muß - der Fortschritt ist nicht aufzuhalten. Das gilt für die Höchstgeschwindigkeitkeits-Datenautobahn ebenso wie für die Audiotechnik. Wissenschaft und Schule sind jedoch gut beraten, innerhalb der im Jahre 2000 rund hundert Jahre alten auditiven Sprachdokumentation und -präsentation auch die überkommenen Technologien (Schallplatte, Analogtonband, Kompaktcassette) weiterhin verfügbar (und damit auch kopier- und konvertierbar) zu (er)halten.

---------------------------------------------------------

*) teilweises Update von: Digitale Sprachaufnahme? Der technische Stand der apparativen Feldforschung und Sprachdokumentation im Jahre 1987. In: FELDBUSCH, Elisabeth (Hg.): Ergebnisse und Aufgaben der Germanistik am Ende des 20. Jahrhunderts. Festschrift für Ludwig Erich Schmitt zum 80. Geburtstag, Hildesheim u.a.: Olms 1989, S. 417-437); s. auch meinen ZPSK-Aufsatz von 1983
Stand: April 1998. Änderungen vorbehalten

°) Möglichkeiten apparativer Selbsthilfe sowie Details zu Mikrofontechnik und portabler Aufnahmeausrüstung werden im o.g. Aufsatz beschrieben.

Änderungen vorbehalten. Alle Rechte: Wolfgang Näser, (c) WN 050796 * Stand 16.10.2k