Wider die sprachliche Apartheid!
Materialien und Gedanken zur sog. Rechtschreib-Reform

2. Mein Fax vom März 1995

(nachträgliche direkte Ergänzungen (ab 18.2.98) sind durch E gekennzeichnet)

Dr. Wolfgang Näser                                                         35039 Marburg, den 29.3.1995 [...]

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Gesellschaft für deutsche Sprache
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Betr.: Sprachdienst, Heft 1/95, S. 1 ff. u.a.: Rechtschreibreform; mein Telefax vom 21.3.1995

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ich beziehe mich nochmals auf o.a. Publikation; meinem - zugegebenermaßen in ziemlicher Wut entstandenen - o.a. Telefax (dessen Inhalt ich jedoch nicht zurücknehme) möchte ich einige Bemerkungen zu dem in S. 1 ff. erwähnten bzw. vorgeschlagenen "Regelwerk" (welche Anmaßung) folgen lassen, damit nicht etwa der Eindruck entsteht, es sei (in meinem Fax Nr. 1) von einem "Hobbyphilologen" in der "Stehbierhalle" argumentiert worden. Obzwar, wie dem Schlußblatt zu entnehmen ist, die GfdS mit dem bei FALKEN erscheinenden, ebenfalls von Prof. Dr. H. Zabel maßgeblich betreuten Heft klar Partei ergreift für diese Rechtschreibreform, kann ich es mir nicht vorstellen, daß von dem Gros der theoretisch und vor allem praktisch mit der deutschen Sprache Befaßten, also vor allem seitens der Philologen, diese Bestrebungen widerspruchslos akzeptiert oder gar mitgetragen werden. Ich denke an Gymnasiallehrer/innen, die möglicherweise Bauchschmerzen bekommen werden, sind sie erst einmal per Dekret dazu verurteilt, das Reform-"Werk" in die Praxis umzusetzen und die Schlüssigkeit bzw. Logik der Änderungen zu begründen. Ich denke an Lektor(inn)en [...], die ein so "verbessertes" Deutsch an lernwillige Ausländer zu vermitteln haben.

Die S. 7 ff. publizierten Beispiele möchte ich nicht in Bausch und Bogen verdammen, die Gesamtheit dieses "Regelwerks" kann ich jedoch nicht als adäquate "Errungenschaft" ansehen, die eines derartigen Aufwandes (zahlreiche teure Tagungen) würdig gewesen wäre.

Nun zum einzelnen:

1. Umlautschreibung: dies kann ich akzeptieren, andererseits verstehe ich nicht, warum das so unbekannte Wechte "reformiert", die Eltern aber in der alten Schreibung belassen werden. Hatten die Reformer da Angst vor der eigenen Courage? Und warum die Alternativen aufwendig/-wändig? So schafft man neue Unsicherheiten! Wenn schon Regel-Werk, dann bitte ein klares ohne Ausnahmen !!!

2. Konsonant(en) nach Kurzvokal: Karamell und nummerieren mag logisch aussehen, doch Packet? Was haben sich die selbsternannten Experten bitteschön dabei gedacht? Die ohnehin schon angloamerikanisch orientierte Jugend wird es wie das englische packet aussprechen, also 'päcket. Durch das intervokalisch präskribierte /ck/ kann nicht mehr auf die traditionelle Aussprache geschlossen werden. Außerdem, meine Lieben, ist Packet in der Nachrichten-Technik ein Fachterminus: siehe Packet Radio. War denn im Kreise der erlesenen Profi-Reformer kein Fachsprachler? E: Packet wurde zurückgenommen.

Tollpatsch und Stuckateur, Zigarrette und Zigarrillo sind akzeptabel, letztere beiden Beispiele erfordern vom Schreiber jedoch genau das, was Sie S. 15 als nicht voraussetzbar postuliert haben: "sprachhistorische [...] Kenntnisse". E: Tolpatsch 'Tölpel' wurde entlehnt aus ungar. talpas 'breiter Fuß [...], zu talp 'Sohle'; daher die Schreibung /l/ korrekt (!); zum Suffix -atsch vgl. (österr.) Ballawatsch 'Bredouille', Klumpatsch, Lulatsch; Zigarrette wurde zurückgenommen.

3. /ss/ statt /ß/: akzeptiere ich bis auf die Konjunktion daß, deren /ß/ gegenüber dem von Schreibschwachen oft fälschlich verwechselnd gesetzten das eine deutlichere Signalwirkung hat als /ss/. Ich fürchte, daß die in meinem ersten Fax angeführte Opposition von Buße/Busse bald nicht mehr erkannt wird, wenn sich die Tendenz /ß/ -> /ss/ weiter durchsetzt. Gegenüber dem Telex-Verkehr, wo es kein /ß/ gibt, sollte diese Graphie als unterscheidendes Sprachsignal beibehalten werden. Für einen Ausländer ist es egal, ob er naß lernt oder nass. Missverständnis mit /ss/ wird zu neuen Wortspielen reizen (-> engl. Miss 'unverheiratete Frau').

4. Roheit -> Rohheit: kann ich akzeptieren, verstehe aber nicht, wie Sie als Adjektiv roh belassen, jedoch wenig später rauh in rau (ohne -h) verschlimmbessern. [...]

[...]

6. rauh -> rau: wie, bitteschön, sehen die "obliquen Kasus" aus? Deklinieren Sie rau wie blau? Gratulation zur neugeschaffenen Rechtschreibfalle. Alle Legastheniker lassen grüßen.

7. é/ée -> /ee/: nichts einzuwenden, desgleichen bei /ph/ -> /f/ wie im Italienischen (Sinfonia 'Hirtenmusik'; im Unterschied zur (anders strukturierten) 'Sinfonie' mit 3- oder 4Sätzigkeit)

8. Frigidaire - > Frigidär, Nécessaire -> (Extremform) Nessessär: Frigidär erinnert mich zu sehr an Pensionär. Außerdem ist die franz. Originalform ebenso ein Warenzeichen wie etwa (das von der Firma Telefunken erfundene) Magnetophon. Nessessär erinnert mich zu sehr an das Ungeheuer von LOCH NESS, als daß ich es akzeptieren könnte. [...]

Spaghetti: im Italienischen signalisiert /gh/ die Aussprache [g] vor /i/ und /e/, so wie beim Karosserie-Designer Ghia oder dem Firmennamen Ghielmetti [E: vgl. auch Ghetto]. Dinghi -> Dingi usw.: hier ist generell zu fragen, inwieweit importierte Begriffe und Namen aus fremden Kulturen und/oder Sprachen in der Original-Schreibung belassen werden sollten. Im Dritten Reich (oder, nach neuester Sprachregelung, während des Nazi-Terrorregimes) hieß es Neuyork; die Spanier schreiben Nueva York. Dann könnten wir auch z.B. San Franzisko schreiben und Schikago analog zu Moskau für MOCKBA/Moskwa. [...]

Fassette erinnert mich zu sehr an Faß und führt zu sprachlicher Verdummung; es schadet niemandem, wenn er weiß, woher das Wort kommt. Das gilt sowieso allgemein: etymologische Kenntnisse sind durchaus keine bildungsmäßige Überfrachtung. Jugendlichen, die hunderte von Fußballstars auswendig herbeten können, schadet es z.B. nicht zu wissen, daß das unpersönliche man nicht mit Mann gleichzusetzen ist. [...]

9. Bouclé -> Bouklee: ist Ansichtssache (vgl. oben): wie sollen wir fremde Kulturbegriffe behandeln? Alle eindeutschen? Dann bitteschön auch Schampanjer (Champagner) oder Neeglischee bzw. (hessisch) Neeklischee für Négligé. [...]

10. essentiell -> essenziell: hat hier das Italienische (nazione, nazionale) Pate gestanden? Dann bitte aber auch Nazion für Nation. Oder klingt das zu sehr nach Nazi?

11. /th/ -> /t/; /ph/ -> /f/; /rh/ -> /r/: ist konform zum Italienischen (z.B. Fiat Ritmo). Dann sehe ich aber auch nicht ein, warum noch Rytmus statt Ritmus. Wie liegt die Logik? Was haben wir von dem /y/, wenn wir schon Oxid sagen statt Oxyd? Welches Konzept (wenn überhaupt eines) lag hier zugrunde?

Portmonee: nee (siehe mein Fax Nr. 1). Dieses Wort könnte quasi als Paradebeispiel die totale Vereinfachung unserer Sprache mit allen Möglichkeiten verkörpern. Nur: was wird dann aus unserer Sprache? Eine Proleten- oder Stehbierhallensprache? Unsere Sprache hat Tradition. Manchmal ist es schwer, zur Tradition zu stehen. Andere tun es, schämen sich nicht dafür. Im 16. Jahrhundert wollten die Bilderstürmer alle sakrale Kunst entfernen. Sie hatten gottseidank nicht überall Erfolg. Sie wie die Ornamentik der Kunst wirken manche Graphien unserer Sprache. Sollen alle Verzierungen abgeschliffen werden? Auch das ist "ein weites Feld". Nachdenken ist gefragt.

12. radfahren -> Rad fahren: dies, meine Lieben, ist ein Rückschritt. Auf Grund wurde schon einmal als umständlich empfunden und durch aufgrund ersetzt. Jetzt marschieren wir 'backwards into the future'. Nahestehende Menschen werden zu nahe stehenden. Die Begriffsabstraktion wird verwässert und mit einer möglichen konkreten Anwendung konfundiert. Nahe stehende, also in der Nähe stehende? Das ist ganz nahe liegend. Warum in die Ferne schweifen. Gibt es noch höher wertige Vorschläge? [...]

soviel hatte konjunktionale Funktion (soviel ich weiß, ist...). Es sollte nicht konfundiert werden mit "so viel kann ich nicht lernen".

13. Ich-Form, 17-jährig: akzeptiert. Nur sollte es einheitlich gelten. Alternativen verwirren nur. Die meisten Fachsprachen haben auch eine feste Orthographie und Semantik. [...]

Wenn Sie Hair-Stylist und Rush-Hour ihrer Bindestriche berauben, jedoch 4silbig usw. um Bindestriche (4-silbig) bereichern, kommen Sie vor wie ein moderner Finanzpolitiker, der glaubt, in der Kunst des Umverteilens den Stein der Weisen gefunden zu haben. [...]

14. In Bezug auf: ich wäre dafür, in bezug auf und mit bezug auf zu schreiben, denn beides ist präpositional (=bezüglich +Gen.) gemeint.

15. Im Großen und Ganzen: den ReformerInnen ist offenbar entgangen, welches Sprachbewußtsein der Regelung zugrundelag, klein zu schreiben. Schon mein Deutschlehrer, der selige Oberstudienrat Georg Bonin, hat mir beigebracht, daß im stillen etwas anderes bedeutet als im Stillen (=in, bei der Tätigkeit des Stillens). Im allgemeinen ist adverbiell gemeint im Sinne von 'allgemein', während das Allgemeine und das Besondere substantivisch fungieren. [...]

16. Zu wahrer Höchstform laufen die ReformerInnen auf, wenn mehrwortige feste Begriffe wie das Schwarze Brett künftig ihrer Eindeutigkeit beraubt wer- den. Sollen wir jetzt auch schreiben die rote Armee (wie niedlich, es war die rote und nicht die grüne) oder das tote Meer (meinen Sie damit einen Ozean nach der Umweltkatastrophe?)

Die GfdS u.a. haben nicht davor gescheut, sich auch der deutschen Interpunktion anzunehmen: vielleicht deshalb, weil sich - im Gegensatz zu ihren Sekretärinnen (die S.3 erwähnte "Frau Verwaltungsangestellte" wird es bestätigen) - einige professorale Wissenschaftler nur rudimentär mit ihr auskennen.

17. Herausgekommen ist lediglich eine Änderung (Komma entfällt vor nebenordnendem und als Hauptsatzeinleitung auch bei unterschiedlichem Subjekt); die in den Sätzen (1) bis (3) angeführten Fälle bieten nichts Neues. Was allerdings die absolut häßliche Konstruktion Sie, um bald zu einem Erfolg zu kommen, schritt alsbald zur Tat soll, ist mir schleierhaft. Ist das etwa der künftige, innovative Stil der professionellen Linguistik-Yuppies? Der kreativ-dynamischen JungreformerInnen? Dann GUTE NACHT, DEUTSCHLAND.

18. Worttrennung am Zeilenende: hier muß ich zunächst ganz dumm fragen, ob es auch eine vergleichbare WT im Zeilen-Inneren gibt. Und nun Glückwunsch: Sie haben ein lästiges Relikt gekillt: nämlich "Trenne nie /st/, denn es tut ihm weh". Dieser Merksatz überfordert eindeutig die mit allerhand Computerprogrammen und Video-Clips vollgestopften Jungsprachlerner-Gehirne. In deren Namen meinen allerherzlichsten und tiefempfundenen Dank. Und, o Freude, wir trennen jetzt Ba -cke; nach solchen Regelungen le -ckten sich die Kids schon früher alle zehn Finger. Ja, die GfdS ist Spitze, ist wirklich Zu -cker. [...]

19. hin-auf -> hi-nauf: na, wer sagt's denn? Endlich können wir aufatmen und die lästige Etymologisiererei hat ein Ende. Oder nicht? Warum die Alternativen? Etwa Manschetten (s.o.) und/oder doch noch ein Bißchen Ehrfurcht vor der Tradition? Pädagogik und Helikopter seien auch an anderen als den "kritischen" Stellen trennbar, sagen Sie (S. 16). Wie, bitte, dürfen wir unbedarften Traditionalisten dies verstehen? Ach, vielleicht so: *Mit einem H -elikopter reiste der Sprachreformer zu einem Pädagog -ikkongreß*. Ja, das sieht doch schön aus, gell?

AUSBLICK
Welch ein bedeutendes Reformwerk. In tiefer Ehrfurcht verneigen wir, die Hobby-Philologen, uns vor der Großtat, schier endlos in teuren Hotels und bei kargem Verzehr das bedeutsame Vorhaben auszusitzen, eine in die Jahre gekommene, total verrostete deutsche Rechtschreibung zu verschlanken und zu revitalisieren. Alle unsere guten Wünsche gelten den rüstigen Verlegern und Druckereien, die vor der schier unfaßbaren Aufgabe stehen, in nur wenigen Jahren alle deutschsprachigen Lehrwerke, Lexika und Wörterbücher neu zu drucken und abzusetzen. Unser Mitgefühl gilt dem Heer namenloser Müllwerker, das hernach beschäftigt sein wird mit dem Entsorgen der Millionen Bücher antiker Rechtschreibung. Oder gehen diese Bücher etwa ins Ausland, als Entwicklungshilfe für deutsche Kolonien wie Blumenau? Dort liebt man nämlich die deutsche Sprache, wie man sie ererbt hat von den Vätern...

Weiterhin alles Gute und viel Erfolg bei allen Reformvorhaben wünscht mit freundlichen Grüßen
gez. Wolfgang Näser



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=> Teil 3: Ergänzungen zur Entwicklung ab 1996
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(c) Wolfgang Näser 17.05.1999