Wider die sprachliche Apartheid!
Materialien und Gedanken zur sog. Rechtschreib-Reform

3. Nachträge und Dokumentation
zur Entwicklung ab 1996

[1] Zur Terminologie-Bildung "Philosophischer Fakultätentag (korrekt: Tag der Philosophischen Fakultäten): eine noch "schönere" Mißbildung ist "Deutsch als Fremdsprachenphilologie" (korrekt: "Philologie des Deutschen als Fremdsprache"). Hier zeigt sich Mangel an Sprachbewußtsein ebenso wie bei der "Alzheimer Krankheit" [...]

Wie aktuell und berechtigt meine Kritik ist, zeigt ein zufällig in der FRANKFURTER RUNDSCHAU (Regionalteil "Frankfurt & Hessen", S. 25) vom 30.4./1.5.98 entdeckter Artikel "Wie kommt der Henninger Turm nach Henningen? - Magazin 'Focus' verlegte das traditionelle Frankfurter Radrennen in ein 250-Seelen-Dorf in Sachsen-Anhalt".
Statt nun die einzig richtige Antwort zu geben "Weil wir in Frankfurt schon jahrelang in unseren Broschüren systematisch den verdeutlichenden Bindestrich (Henninger-Turm) weglassen", sinniert die Autorin Anne LORENC vierspaltig und, wie sie vielleicht denkt, geistreich über die Namens-Verschleppung, ohne "den Wald vor lauter Bäumen" zu sehen.
Weniger spaßig ist das hier exemplarisch zutagetretende Phänomen, daß innerhalb weniger Jahre ein sprachliches (Teil-)Bewußtsein, ein Sensorium verlorenging, nämlich der Blick für die Rolle bzw. Funktion adjektivischer und substantivischer Elemente in komplexen Ausdrücken und das Kriterium, wann ein komplexer Ausdruck als echtes Kompositum zu gelten hat.

[1] Der Bindestrich in Henninger-Turm signalisiert: es handelt sich um ein echtes Kompositum, das auch zusammengeschrieben werden kann: Henninger hat hier als Marken-Name dieselbe Funktion wie Shell in Shell-Tankstelle; das Morphem -er ist hier irrelevant, weil nicht konstitutiv. Phonetisch wird dieses Kompositum realisiert durch initialen Akzent auf Henninger, also dem kompositionellen Erstglied. Dem Wortbildungsmuster folgen: die Alzheimer-Krankheit, das Hohner-Akkordeon, das Berliner-Grammophon (= von Emile B. erfundene G.), die Rottweiler-Hündin usw.; man stelle sich die semantische Unschärfe vor, wäre  hier der Bindestrich weggelassen und ist (z.B. für einen Ausländer) der vielbeschworene Kontext nicht verfügbar!

[2] Spreche ich gleichmäßig betonend 'Henninger 'Turm, so signalisiere ich bereits auf der phonetischen Ebene, daß es sich hier um einen als komplexen Ausdruck realisierten Eigennamen handelt, der besteht aus einem Herkunfts-Adjektiv (Henninger = aus Henningen kommend) und dem von diesem bestimmten bzw. semantisch abgegrenzten Basis-Substantiv Turm. Auf die Bestimmungsfrage "Was für ein Turm" lautet die tiefenstrukturell interpretierende Antwort "der in Henningen angesiedelte, befindliche Turm". Diesem Muster folgen: die Berliner Straße, das Frankfurter Würstchen, die Frankfurter Rundschau, die Münchener Freiheit.

[2] Es geht hier nicht darum, irgendwelchen verschrobenen Purismus-Bestrebungen und sprachlicher Romantisiererei das Wort zu reden. Selbstverständlich leben wir in einer modernen, technologisch orientierten Welt. Nachrichtentechnik und Computerwesen spielen in ihr eine immer größere Rolle und prägen neue, weitgehend internationalistisch ausgerichtete Begriffe. Wer sich mit dem PC befaßt (dessen Beherrschung heute wichtiger ist als der Kfz-Führerschein), darf sich nicht - wie i.J. 1997 per Leserbrief ein Mitglied des "Pegnesischen Blumenordens" - beklagen über "ein Handbuch voll unverständlicher Fachbegriffe", in denen es nachzuschlagen gelte, und "Betriebsanweisungen" (korrekt: Bedienungsanleitungen, Handbücher), für die man erst "einen Sprachführerschein ablegen" müsse. Video-Karte, Controller, Diskette, Scanner, CD-ROM, Real Audio, Browser u.a. gehören zum Informations-Alltag wie Dolby, DAT, Analogrecorder, Live-Aufnahme usw. im Audio-"Geschäft". Und: wer funkt, geht nach dem Senden auf stand-by; "ich schalte jetzt meinen Empfänger auf Bereitschaft" klingt linkisch und altfränkisch. Wörter wie CD-Brenner können sich durchsetzen, müssen es aber nicht. Fachsprachen haben eigene Gesetze; international fungiert als Kommunikations- und Fachsprache weiterhin das Englische, und das ist gut so: denn  enter command ist allemal kürzer als [Bitte] Geben Sie einen Befehl ein.

Die Rechtschreib-"Reform" und damit ihr sog. Regel-"Werk" ("Chaos und Murks auf Anordnung sog. Fachleute", W. KEMPOWSKI) ist dort zu kritisieren, wo die ohnehin beobachtbare Inkonsequenz der deutschen Rechtschreibung durch zusätzliche Konfusion "bereichert" werden soll: z.B., wenn differenzierende Sprachsignale wie Groß-/ Kleinschreibung, Bindestriche, Graphemvarianten usw. aufgegeben oder schlampig benutzt werden. Wenn mir auf meinen Einwand, "Rückfront" sei als "Rück-Vorderseite" in sich selbst widersprüchlich und daher ein sprachlicher Nonsens, ein als "Linguist" tätiger Professor entgegnet, man dürfe nicht "etymologisch denken", dann bedeutet das für mich eher ein Alarmzeichen als wenn irgendjemand ein (berechtigtes) Fremdwort verwendet. Ebenso ist es beim total gedankenlosen Umgang mit der (regelhaft und logischerweise kasuskongruenten) Apposition (immer mehr hören wir sprachliche Blähungen wie "das Haus Richard Wagners, dem großen Komponisten ...) und bei geradezu lächerlichen Wort-Prägungen wie dem schon zitierten "Philosophischen Fakultätentag", wie "Reparaturversuchen des beschädigten Autos" usw., die von denen, die es qua Beruf(ung) besser wissen müßten, allzu oft unreflektiert weitergegeben werden.

[3] Die Rechtschreibreform-Gegner stoßen nicht überall auf Gegenliebe, das zeigt folgender im Internet publizierter Leserbrief (Hervorhebungen von mir). Nils S.-P. aus Karlsruhe/Baden schreibt am 30.6.97 wie folgt:

Liebe Leute!
Wer von diesen Menschen, die mit unreflektierter Mitläufermentalität den Gegnern der Rechtschreibreform hinterher rennt, hat sich eigentlich schon mal die Mühe gemacht, den neuen Duden zur Hand zu nehmen und etwas darin zu blättern? Nur Wenige, schätze ich. Dann würden nämlich diese Horrorgeschichten vom Füsiker, vom Facktor und vom Meis endlich aufhören. Die Gegner machen, je nach Stand der Intelligenz, verschiedene Fehler:
Die "Intellektuellen" nutzen bewusst einen alten demagogischen Trick: Sie suchen sich die spektakulärsten Fälle, die ihre Meinung bestätigen, und werfen diese in Diskussionsforum, um zu warten, bis sich der wütende Mob darauf stürzt. Dieser, bestehend aus dem "einfachen Volk" fällt bekanntlich gerne auf populistische Maßnahmen herein. Ein weiterer Fehler: Viele Menschen betrachten das Thema mit purer Nostalgie. Sätze wie "Das sieht aber so hässlich aus!" oder "Daran kann ich mich nicht gewöhnen!" sind unsachlich und eines intelligenten Menschen nicht würdig. Stichwort: mangelnde Flexibilität. Selbstverständlich muss jede Neuerung überprüft werden, aber die guten müssen dann auch übernommen werden, eine Verfahrensweise, die sich gerade Deutsche(wieder) zu eigen machen sollten. Dazu ein Zitat."Als die ersten Vierbeiner sich aufrichteten, um auf zwei Beinen zu gehen, ist sofort ein Deutscher herbeigeeilt, um eindringlich zu warnen. Es sei gefährlich, es drohe der Sturz vor allem den Kindern und Alten; auch unsolidarisch gegen die anderen Vierbeiner. Auch theologisch bedenklich, denn es wende das Antlitz ab von der Erde, dem mütterlichen Grund." Meine Bitte an alle Gegner der Reform: Erst informieren, dann nachdenken und dann erst meckern.
Tschüss, euer Nils

Dieser Text spricht nicht nur Bände, er widerspiegelt zugleich den wieder einmal deutlich werdenden Trend, dem Zeitgeist zu folgen. In diesem Sinne ist automatisch und per se alles das gut und fortschrittlich, was neu ist. Wer sich gegen jede Art solcher Innovationen auflehnt, ist von gestern, repräsentiert die Alten. Dem Populismus, den Nils S.-P. den Reformgegnern vorwirft, frönt er nicht weniger selbst, ganz abgesehen davon, daß er uns - nach Art der Volksverhetzer - sein Zitat ohne Quellen-Angabe zum Fraße vorwirft.

[4] Bezüglich aller Einwände, eine "verfaßte", also staatlich dekretierte und wider jede fachliche bzw. didaktische Vernunft oktroyierte Rechtschreibreform sei per se unantastbares geltendes Recht und Widerstand dagegen so etwas wie Anarchie, zitiere ich, dem mutigen Hanauer Kollegen Günter LOEW (s. unten WELT 22.7.97) folgend, aus der Hessischen Verfassung:

Artikel 11: (1) Jedermann hat das Recht, seine Meinung frei und öffentlich zu äußern.
Dieses Recht darf auch durch ein Dienstverhältnis nicht beschränkt werden, und nieman-
d[em] darf ein Nachteil widerfahren, wenn er es ausübt. [...]

Artikel 146: (1) Es ist Pflicht eines jeden, für den Bestand der Verfassung mit allen ihm
zu Gebote stehenden Kräften einzutreten.

Artikel 147: (1) Widerstand gegen verfassungswidrig ausgeübte öffentliche Gewalt ist
jedermanns Recht und Pflicht
.
[...]
Diese Rechte, die durch die hessische Verfassung garantiert werden, sind laut Artikel 142
GG
aufgrund der Tatsache, daß sie sich mit den Artikeln 1-18 GG in Einklang befinden,
nicht von Artikel 31 GG betroffen, der besagt, daß Bundesrecht Landesrecht bricht.

Ungeachtet solcher Bedenken begrüßt die rheinland-pfälzische Staatssekretärin Doris AHNEN am 4.8.97 ebenso euphorisch wie zukunftsfroh eine per Erlaß oktroyierte Neuregelung.

[5] In HESSEN wird per Eil-Beschluß am 29.7.97 die Durchsetzung der RS-Reform vorerst gestoppt. Dies verbreitet sich wie ein Lauffeuer in allen Medien und ist der Tagesschau sogar einen (positiv wertenden!) Kommentar wert. Außer Hessens Kultusminister HOLZAPFEL äußert sich sein Münchener Kollege ZEHETMAIR: er habe zur RS-Reform vor dem bayr. Parlament eine "Regierungserklärung" abgegeben und sei auf einhellige Zustimmung gestoßen. Daß die Entscheidung des Wiesbadener Verwaltungsreichts möglicherweise "Signalfunktion" hat, wird einhellig vermutet. Doch Holzapfel kontert, läßt nicht locker. An vielen Schulen läuft die Reform bereits "auf Hochtouren"; die Zeit arbeitet gegen die Reform-Opponenten (WELT 5.8.97). Der, wie man früher sagte, "preußische Kadaver-Gehorsam" greift Platz. Viele "kleine Rechtschreib-Diktatoren" sorgen als "willige Vollstrecker" in "vorauseilendem Gehorsam" dafür, daß frühzeitig genug unumkehrbare Tatsachen geschaffen werden.

Zu Hessen als schulischem "Entwicklungsland" (rund 10 Prozent der Stunden fallen aus!) klare Presse-Worte in der WELT vom 4.2.1998. Da macht es wenig Eindruck, wenn der vielgestaltigen, zunehmend peinlichen Misere nun schon aus Eltern-Ressourcen abgeholfen werden muß und wenn im altehrwürdigen Marburger Gymnasium Philippinum (nach seinem Selbstverständnis humanistisch) mit romanistisch geprägter Direktorin inzwischen auch Portmonee geschrieben wird, ohne daß die angeblich doch so engagierten Deutsch-Lehrer Kompetenz und Zivilcourage haben, gegen die von Holzapfel (Hohl-Zapfel?) erlassenen Richtlinien anzugehen ...

[...] Teil der Medien-Strategie (zuletzt: Pro und Contra, ARD 28.8.97) ist es, zum Thema RS-Reform stets harmlose und mehr oder weniger einsichtige Beispiele (Schifffahrt, in Bezug auf, Trennung von /st/ [Moderatorin: "im 19. Jahrhundert ging das nicht wegen dem Blocksatz"]) anzuführen, um die berechtigten Argumente der Reform-Gegner ad absurdum zu führen.

[6] Schul- und Wörterbuchverlage wurden in Sicherheit gewiegt und haben schon 8/97 rund 300 Millionen Mark für die Produktion didaktisch unverantwortbaren Schrotts (Bücher und CDs) verpulvert, bis 5/98 (lt. ZDF 12.5.98) schon unglaubliche 650 Millionen! Das sog. Breitenstein'sche Kartoffel-Theorem wird hier in der Variante "NUN SIND ERLASS UND REGELN DA, NUN MÜSSEN SIE AUCH BEFOLGT WERDEN" reaktiviert; das Argument, die RS-Reform schon aufgrund dieser Kosten durchzuführen (um Verlage zu retten, Makulatur und Gesichtsverlust zu vermeiden), hieße, das Pferd vom Schwanz her aufzuzäumen und (wieder einmal) Opfer und Täter (Verursacher) zu verwechseln. Wer den Schaden tatsächlich angerichtet hat, muß zahlen. Scheiterte die Reform, so müßte konsequenterweise das, was der Öffentlichen Hand an Verlust entstanden ist, von der Kultusminister-Konferenz (den Schreibtisch-Tätern) ersetzt werden.

[7] DIE RS-REFORM - EIN UNWESENTLICHES REFÖRMCHEN?
Gerade hier setzt Dieter E. ZIMMER von der ZEIT an: ebenso parteiisch wie arrogant-distanzierend versucht er, die Reform-Gegner in ihre Schublade zu stecken und als unverbesserliche, ewig-gestrige Prinzip-Nörgler abzustempeln. Die derzeit so jubilierenden Reformgegner hätten unrecht. "Sollte die Reformbefugnis den Kultusministern entwunden und de facto niemandem mehr zugestanden werden, wird alle Orthographie, die uns doch so lieb ist, mit der Zeit verdampfen", meint Zimmer - hoffentlich zu Unrecht.

[8] Am Montag, dem 18.8.97, widmet sich gar das ARD/ZDF-TV-Morgenmagazin dem heißen Thema. KMK-Vorsitzender Prof. Wernstedt wird als Studio-Gast mit Live-Anrufen konfrontiert. Ein Anrufer meint (und dies paßt sehr gut ins Bild), die Reform gehe ihm noch nicht weit genug. Die schon lange angestrebte Kleinschreibung (ein alter Hut, wir finden sie schon im Großen dt. Wörterbuch der Brüder Grimm) gebe es ja in vielen Sprachen.

Vielleicht ist es nicht so müßig, darüber zu sinnieren, warum sich die von bedeutenden Philologen des 19. Jahrhunderts realisierte gemäßigte Kleinschreibung nicht durchsetzen konnte, warum nicht nur Eigennamen, sondern alle Substantive mit entsprechender Satzteilfunktion (wieder) großgeschrieben werden. Die Reform, meinen ihre Befürworter, verletze oder beeinträchtige keinesfalls die Ausdrucksfähigkeit; und, gäbe es "Zweifelsfälle", so entscheide immer der sprachliche Kontext. Den Sprach(be)nutzern müsse eingeräumt werden, sachlich fundierte Alternativ-Schreibungen (z.B. ansträngend) zu praktizieren. Also doch sprachliche Anarchie? Dürfen wir - analog - dann auch in Ortschaften so (schnell) fahren, wie wir es nach gesundem Menschenverstand für richtig halten?

[9] DER KAMPF GEGEN DIE RS-REFORM IST KEIN "POPULISMUS", SONDERN BÜRGERPFLICHT
Wie u.a. die im WELT-Artikel vom 23.8.97 angeführten Beispiele und der in einem Leserbrief angeführte Fall "Die Juden tun uns Leid" verdeutlichen, würde eine erschreckend unreflektierte Rechtschreib-Reform nichts anderes bedeuten als sprachliche Unkultur und damit die intellektuelle Entmündigung all derer, die sich mit einem hohen Maß von Verantwortung für die kontinuierliche Verfeinerung und kulturgeschichtliche Bewahrung unserer Sprache einsetzen. Wir müssen jetzt kämpfen, damit uns unsere Kinder nicht später denselben Vorwurf machen, den wir schon gegen unsere Eltern erhoben: politische Untätigkeit. Für das Dritte Reich (das nationalsozialistische Regime) wird allzuoft ein Befehls-Notstand geltend gemacht. Es gilt abzuwarten, wie hierzulande, im Zeichen der sog. freiheitlich-demokratischen Grundordnung, mit beamteten Rechtschreibreform-Gegnern in deren Berufsfeld verfahren wird. Wir müssen alles daran setzen, sprachlich gesehen kein Viertes Reich zu bekommen.

[10] KEINE ANGST, DA WÄRE JA NOCH DIE ALTERNATIV-SCHREIBUNG
Obsiegte die KMK, so gäbe es zwei "legale" Rechtschreibungen für ein [Sprach-]Volk. Das hätte die Welt noch nicht gesehen, könnte man sagen, gäbe es nicht schon analoge Beispiele in anderen Ländern.

Die Schüler schrieben dann [möglicherweise] Schlossstraße, Schlussstrich; der blaue, raue Pullower; der schwer_Beschädigte mit dem schwer_beschädigten Auto, der in einem hohen Haus wohnte, appellierte an das hohe Haus; die grünen Fahrzeuge der roten Armee; die alte Orgel der alten Aula; im Allgemeinen (i.A.) liefern wir am gleichen Tag /Im Auftrag (i.A.) ... Nach der Kur am toten Meer schrieb er über die Ölpest und das tote Meer. Nach dieser Nacht war er benommen: Dusseligkeit oder Kussseligkeit? Sie keuchten mächtig, die Schlossergesellen nach der Schlossersteigung; diese Nassauer sind doch nass (=verrückt), die machen ein Fass auf, ohne an andere Fassetten des Lebens zu denken; das Nessessär verlor er am Loch Ness: ganz schön kess; sie muss ihn kurz halten, den frisch gebackenen Ehemann (warum / wofür / wozu?)

Die Reform-Gegner und Sprach-Bewahrer (sie schützen, wie man sagen könnte, die Sprache vor den Exzessen einer wildgewordenen Kultus-Bürokratie und der Gleichgültigkeit praxisferner Linguisten) würden sich besinnen und weiterhin differenzieren wie gehabt. Als bewußte Sprach(be)nutzer denken sie nicht nur an Wortfugen (Schloßstraße, Schlußsatz, Ausschußsitzung, Kußseligkeit, Heißschub [von Jet-Triebwerken], Baßsaite, Flußsand, Eßsitten, Freßsucht, Gußstahl, Imbißstube, Mißstände [s.o.]), naßschleifen, Nußschale, Prozeßsteuerung [in der Fertigung]), an Eigennamen (Alte Aula [Marburg], Totes Meer, Rote Armee, Neunte Sinfonie) und Termini (das Hohe Haus = Parlament; das Blaue Band, Schwarze Loch, der Zweite Weltkrieg), an graphemdifferenzierte Lexeme (Facette vs. Faß; Nécessaire vs. Loch Ness vs. keß). Auch unterscheiden sie weiterhin in der Getrennt- und Zusammenschreibung: kurzhalten (Gegenteil von verwöhnen) vs. kurz halten (für kurze Zeit anhalten); das frisch gebackene Brötchen für den frischgebackenen Ehemann.

ES DARF KEINE VERSCHIEDENEN ORTHOGRAPHIEN GEBEN, EINE FÜR GEHOBENE SPRACHKULTUR UND EINE FÜR DEN PLEBEJISCHEN SPRACH-ALLTAG

Damit hätten wir in praxi die von mir befürchtete Sprach-Apartheid - von allerlei Zwischen-Lösungen abgesehen. Die armen Oberstufen-Lehrer müssen ohnehin bereits mit verschiedenen Farben korrigieren. Das eine ist falsch nach der alten, das andere nach der neuen Rechtschreibung. Konfusion nach Minister-Art. Didakto-Masochismus. Als gäbe es Lehrer im Überfluß für eine derartige "Beschäftigungs-Therapie".

[11] SCHWEIZER KÄSE
Mag das - vermeintlich - "einfachere" Deutsch auf den ersten Blick hin für Schüler und Jugendliche Erleichterungen bringen, so gewinnt es im Reform-Gewand letztendlich reduzierte Qualität. Denn jeder graphem(at)ische Signalverlust bedeutet sprachliche Verarmung. Zum Erscheinungbild der von den SCHWEIZERN initiierten alleinigen Universal-Graphie /ss/ folgender Zeitungs-Ausschnitt aus der NZZ v. 29.8.97:

"Schliessung der Bank Rinderknecht
Die EBK entzieht die Bewilligung wegen «Missständen»

Die Eidgenössische Bankenkommission (EBK) hat der Zürcher Börsen- und Vermögensverwaltungsbank Rinderknecht die Bewilligung entzogen. Die Bank musste somit die Geschäftstätigkeit einstellen und soll liquidiert werden. Als Grund nennt die EBK vor allem führungsmässige Missstände. Die EBK rechnet auf Grund der geringen Grösse der Bank nicht damit, dass die Schliessung andere Banken stark in Mitleidenschaft ziehen könnte."

Lesen Sie auch folgenden Kurztext aus der TITANIC-Themenseite der Marburger Universitätsbuchhandlung ELWERT:
Viele Passagiere hatten den Zusammenstoss mit dem Eisberg überhaupt nicht bemerkt. Ein Überlebender berichtete später, er habe nur bemerkt, wie das Schiff ein wenig schwankte, dass die Maschinen gestoppt wurden und dass eine beängstigende Stille einkehrte. Er habe von seiner Kabine aus rennende Füsse gehört, sich schnell angezogen und sei an Deck gerannt. Dort habe er einige Passagiere gesehen, die fröhlich mit dem abgesplitterten Eis, welches auf dem Vordeck lag, spielten. Der Eisberg war demnach höher als das Vordeck der Titanic. Wenn man nun bedenkt, wie gross die Eismasse unter Wasser gewesen sein muss, ist es erstaunlich, dass das Schiff überhaupt an dem Eisberg vorbeikam.

Folgende Beispielsätze mögen, wenn auch teilweise ein wenig "an den Haaren herbeigezogen", den Unsinn der "Totaloperation" ß > ss verdeutlichen, vor allem, wenn ad hoc von einem unkonzentrierten Muttersprachler oder einem Ausländer (vor)gelesen werden müßte:

  1. Bei den Russen russen die Kamine aber stärker, habe ich gesehen.
  2. Sollen wir den Kultusministern noch die Füsse küssen?
  3. Herr Gross, ich habe mir den Fuss am Amboss gestossen.
  4. Ich hasse diesen Frass, das ist kein Genuss.
  5. Der Schlüssel passt nicht in das grosse Schloss.
  6. Bei diesem Massstab werden die Missstände noch deutlicher.
  7. Draussen ist eine Messstelle für den Schadstoffausstoss.
  8. Es war heiss in der Imbissstube, das Eis zerfloss.
  9. Fresssucht und Genusssucht schliessen einander aus.
  10. Gussstahl wird grösstenteils für Grossserien verwendet.
  11. Heissschub ist der Turbinenausstoss in der Startphase.
  12. An unserem Floss flossen drei Äste vorbei.
  13. Das Ausmass der Wasserschäden im Kellergeschoss war grösser als angenommen.
  14. Durch den Schoss schossen starke Schmerzen: die Entzündung meldete sich zurück.
  15. Auf den Gassen und Strassen gab es Schieben und Stossen.
  16. Mönche, die küssen, müssen dafür büssen.
  17. Verstösse mit Bussen werden mit Bussgeldern geahndet.
  18. Wir zahlen in Massen, nicht in Massen für den Strassenbau .
  19. Noch ein Mass vom Fass, im Saufen ist er gross .
  20. Gruss und Kuss von Jochen Mass aus dem Obergeschoss .
  21. Sex muss in Massen genossen werden.
  22. Den Grosskopfeten entgingen die Missklänge bei den Misswahlen.
  23. Die wirtschaftlichen Einbussen schufen grössten Verdruss.
    (c) WN 3/98

Schweizer und Reformwütige werden einwenden, in obigen Beispielen (ohnehin Konstrukten) sei der Kontext zu bemühen.  Auf jeden Fall werden, wie [21] zeigt, neue Lach-Erfolge ermöglicht, und die in [6,7,10,11] auftretenden Fach-Termini und andere Wörter mit Dreifach-/s/ wirken ganz sicher nicht ästhetischer als in der konventionellen Graphie mit Wortfugen-signalisierendem /ß|s/.

Für unbedarfte Hauruck-Reformer und "Rasenmäher-Pädagogen" ist die Ersetzung des 'antiken' /ß/ durch /ss/ eine Lappalie. Daß meine obigen Bedenken jedoch Substanz haben (können), erfuhr ich am 5.8.98 sehr aussagekräftig, und zwar beim (zufälligen) Abhören einer Blindenhörbücherei-Cassette: ERICH VON DÄNIKEN, Beweise, Band 4 (DBH Marburg 3429-4); auf Seite 2 heißt es:   [=> Real Audio zum Mithören]

"Hier wurden die Auserwählten eindeutig mit neuen, korrekten Massen vertraut gemacht. Was war schon eine Elle, die Länge des zum Abmessen angelegten Unterarms, der länger oder kürzer sein konnte? Die Masse der Gerechten: das waren geeichte Messbänder, die von da an Gültigkeit hatten."

Im nach Schweizer Orthographie gedruckten Text liest der muttersprachlich-deutsche Sprecher Massen und Masse jeweils mit kurzem /a/ *) - man glaubt es kaum - und vermittelt somit dem Hörer einen völlig falschen Eindruck! Nun wird umso deutlicher, daß hier "umkodiert" werden muß - und dabei auch Muttersprachlern Fehler unterlaufen können! - , was einer sprachlichen Ökonomie zuwiderläuft.
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*) zur geradezu lächerlichen Frage, wie "Maß" im Oktoberfest auszusprechen (jetzt!) und zu schreiben sei, vgl. die Meldungen in verschiedenen Tageszeitungen (z.B. Dolomiten) v. 17.9.98

Es ist zu fragen, wie solche Phänomene z.B. im Ausländer- oder Anfängerunterricht zu behandeln sind und ob es Sinn hat, zunächst partiell einem Trend Vorschub zu leisten, der langfristig eine Total-Substitution des differenzierenden /ß/ herbeiführt.

[12] WIDER EINE MINISTERIELL VERORDNETE PROLETARISIERUNG DER DEUTSCHEN SPRACHE
Gerade das - ohne schriftliche Tradition undenkbare - sprachliche Kunstwerk manifestiert sich auch und gerade in Schreib-Differenzierungen; es besteht Anlaß zur Sorge, daß eine qua Minister-Erlaß 'ausgedünnte' Sprache künftig raffinierte Wortspiele, differenzierende (kontrastierende) Neuschöpfungen und damit erweiterte dichterische Ausdrucksformen nicht mehr zuließe.

Wenn nun die Sprach-"Reformer" verzichten auf

  1. exakte Fremdwortschreibungen,
  2. morphologisch gerechte Worttrennungen,
  3. bedeutungsdifferenzierendes, konsequentes 2) Getrennt- und Zusammenschreiben,
  4. syntaxkonforme, sinngemäße Interpunktionsregeln etc.,

um proletarischer Gleichmacherei und gesellschaftlicher Anbiederung zu frönen, ist das ebenso dumm wie lächerlich. Gerhard AUGST 1), ebenso hartnäckig wie störrisch und uneinsichtig als Leiter der seit 1977 beim IdS Mannheim arbeitenden Reform-Kommission, begründet in der GEW-Zeitschrift "Erziehung und Wissenschaft" (H. 1/1997, S. 20 f.) die neue Trenn-Regel "Inte-resse" damit, die bisherige (Inter-esse) werde doch nur "dazu missbraucht, Bildung zu demonstrieren". Th. ICKLER würde dies so interpretieren: "Man darf darin einen Nachklang der emanzipatorischen Rasenmäherpädagogik sehen: Wer es besser weiß, soll aus diesem Besserwissen keinen Vorteil ziehen können, damit alle die gleichen Chancen haben." (a.a.O. S. 45)
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1) Prof. Dr. Gerhard Augst und Prof. Dr. Burkhard Schaeder erstellten 1996 im Auftrag der Kultusministerkonferenz eine Handreichung für Lehrerinnen und Lehrer zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung.
2) Hier vor allem geht es wild durcheinander, z.B. neugeboren / neu eröffnet; gleichbedeutend / gleich denkend; gutartig /gut gesinnt usw.

Was Forschung und Lehre angeht, aber auch den Umgang mit unverzichtbaren Bildungsinhalten, so haben privilegierte Universitäts-Professoren wie Gerhard AUGST ein Höchstmaß an öffentlicher Verantwortung. Wenn der Herr Professor meint, eine (fremd-)wortbildungskonforme Trennung (Segmentierung) werde mißbraucht, um Bildung zur Schau zu stellen, dann handelt er nicht nur töricht; er diskreditiert seinen in der Gesellschaft noch immer sehr hoch angesiedelten Stand, er begibt sich der Würde, der auf Kompetenz gründenden Autorität, die bislang mit dem Berufsbild des Hochschullehrers assoziiert wurde. Zwingen uns professorale Sprachreformer hier zum Umdenken?

Der Alt-68er und "Salon-Sozialist" AUGST mißversteht ein sozialistisches Bildungskonzept, das idealerweise hinzielt auf die allseitig gebildete Persönlichkeit, wofür innerhalb einer weitgehend klassenlosen, auf Chancengleichheit basierenden Gesellschaft reaktionäre Bildungs-Barrieren abzureißen wären. Ganz abgesehen von jeder politischen Couleur und Ideologie ist eine vielseitige, solide, fundierte Bildung unverbrüchliches Recht aller Teile eines Staatsvolkes. Die am Bildungsprozeß beteiligten Forscher und Lehrer und alle sonstwie politisch und gesellschaftlich Verantwortlichen haben Wissen und Energie dafür einzusetzen, daß dieses Ziel realisiert wird.

LES TERRIBLES SIMPLIFICATEURS
Dagegen besteht die Strategie der Demagogen im Weglassen und Vereinfachen. Dem Volk, meinen sie, müsse alles "mundgerecht" angeboten werden (und das muß schon in der Grundschule beginnen). Augst und andere "Progressive", die nicht müde werden in ihrem Kampf gegen den BILD-Journalismus, erliegen als Rechtschreib-"Reformer" den Tendenzen, die sie bekämpfen. Als Elefanten im kulturellen Porzellan-Laden, als ideologische Bilder-Stürmer rauben sie wesentlichen Teilen der Bevölkerung die Chance, ihr wertvollstes Erbe, die Sprache, in allen Situationen und Anforderungen optimal einzusetzen und sich als intellektuelle Wesen auch sprachlich mit einem Höchstmaß an Würde und Kompetenz zu verwirklichen. Und eine solche Würde und Kompetenz besteht eben nicht im Nachbeten eines primitiven, mit neuesten Amerikanismen durchsetzten Szene-Wortschatzes und im Anwenden einer sogenannten Rechtschreibung, die bei jenen Philologen, die ihren Namen verdienen, Abscheu und Brechreiz hervorruft.

Damit kommen wir zurück zum Apartheids-Vergleich. Ein auch außerhalb des Wahlkampfes und damit wirklich auf das Wohl seiner Jugend bedachter Staat darf es nicht zulassen, daß durch sogenannte "Reformen" ein Zwei-Klassen-Bildungssystem zementiert oder wiederhergestellt wird und damit das zum sprachlichen Proletariat abgestempelte Fußvolk mit einer durch inkompetente, banausenhafte Ausdünnung gewonnenen Primitiv-Rechtschreibung abgespeist wird.

[13] "Neue Rechtschreibung: Grünes Licht aus Kassel" titelt Marburgs OBERHESSISCHE PRESSE vom 6.9.97. Das bedeutet die erfolgreiche Abwehr des oben erwähnten Eil-Beschlusses vom 29.7. Ob die Schulen die neue Rechtschreibung schon jetzt lehren, sei ihnen freigestellt, heißt es sinnig; Pflicht werde dies "erst ab 1998". Solche ebenso absurden wie volksverdummenden "Schonfristen" erinnert an jene, die, in US-Todeszellen einsitzend, noch ein wenig auf die Hinrichtung warten "dürfen".

[14] Inzwischen haben einige Institutionen Erklärungen zur RS-Reform abgegeben, so z.B. die Deutsche Gesellschaft für Sprachwissenschaft (DGfS); hier heißt es u.a.: "Die vorgeschlagene Reform entspricht [...] nicht dem Stand der sprach- wissenschaftlichen Forschung. Die DGfS distanziert sich entschieden von gegenwärtigen populistischen und wenig sachkundigen Bestrebungen zum Stop der Reform."

Die in Wiesbaden ansässige Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS, s.a. obiges Fax) erklärt in ihrem SPRACHDIENST H. 4-5/97 S. 166:

"Angesichts des derzeitigen heftigen Streits um die Rechtschreibreform stellt die Gesellschaft für deutsche Sprache noch einmal fest, daß sie zwar nicht offiziell an der Erarbeitung der neuen Rechtschreibregeln mitgewirkt, aber immer fördernd und kritisch an der Diskussion um die Reform in den letzten Jahrzehnten teilgenommen und dem 1996 in Wien beschlossenen Regelwerk grundsätzlich zugestimmt hat. Dieses Regelwerk stellt notwendigerweise einen Kompromiß dar; er ist das Ergebnis fachwissenschaftlicher Überlegungen, bei denen Stellungnahmen zahlreicher Institutionen - auch der Gesellschaft für deutsche Sprache - und Einzelpersonen berücksichtigt wurden.

[...] Viele Probleme, die derzeit in der Öffentlichkeit diskutiert werden, ergeben sich nicht aus den neuen Rechtschreibregeln selbst, sondern aus unterschiedlichen Darstellungsweisen und aus Mißverständnissen. Die Gesellschaft für deutsche Sprache ist sicher, daß die amtliche "Kommission für die deutsche Rechtschreibung", in der auch ein Vertreter der Gesellschaft für deutsche Sprache mitarbeitet, die strittigen Fragen schnell klären wird, wobei es vor allem darum geht, den Wörterbuchredaktionen Empfehlungen für die einheitliche Umsetzung der neuen Regeln zu geben."

[15] Günter LOEW von der Lehrerinitiative gegen die Rechtschreibreform Hessen formuliert 9 Punkte zur Rechtschreibreform. Der vom 2.9.97 datierte Text (Hervorhebungen von mir, W.N.) lautet folgendermaßen:

1. Die politische Öffentlichkeit, vor allem aber unsere mit vermeintlich viel wichtigeren Dingen beschäftigten Politiker selbst, haben die sog. Rechtschreibreform anfangs völlig unterschätzt und beginnen jetzt erst allmählich, den darin enthaltenen sozialen Sprengstoff wahrzunehmen. Wie ernst die Sache ist, haben die meisten von ihnen anscheinend jedoch noch immer nicht begriffen, sonst würden sie die "Reform" sofort stoppen, statt die Dinge einfach weiter treiben zu lassen und in ihrer sattsam bekannten Art nach Kompromißlösungen zu suchen oder sich gar der Illusion hinzugeben, durch ein paar Nachbesserungen könne das sprachzerstörerische Machwerk doch noch die vielzitierte "gesellschaftliche Akzeptanz" finden.

2. Es scheint allerdings so, als hätten die Kultusminister mit ihrem Versuch, dem deutschen Volk über die Schule mit dieser Reform auch noch eine ganz neue, von Experten am Reißbrett entwickelte Orthographie aufzuzwingen, einen unsichtbaren Rubikon überschritten, nämlich die Grenze des politisch Zumutbaren.

3. Bei dem Versuch, ihre Herrschaft auch noch über die Sprache und die Orthographie auszudehnen, sind die Kultusminister nämlich in einen Bereich vorgestoßen, der für die Politik bisher tabu war und nach Meinung der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung auch weiterhin
tabu bleiben soll.

4. Im Widerstand gegen die Rechtschreibreform artikuliert sich nicht nur der Protest gegen die als unzumutbar empfundenen Eingriffe von Sprachwissenschaftlern in die deutsche Orthographie, sondern auch das Bestreben, dem immer weiter um sich greifenden Machtanspruch der Politik eine unverrückbare Grenze zu setzen.

5. Insofern ist der Protest gegen die Rechtschreibreform auch als Warnung an alle Politiker zu verstehen.

6. Wir Reformgegner halten es ebensowenig für hinnehmbar, daß die deutsche Sprache und ihre Rechtschreibung irgendwelchen Expertengruppen ausgeliefert werden, die sich einbilden, sie verbessern zu können, in Wirklichkeit aber durch ihre Selbstüberschätzung ein Chaos anrichten.

7. Nach unserer Überzeugung ist nur der Souverän, die deutsche Sprachnation selbst, dazu berechtigt, die deutsche Orthographie zu regeln, und diese orientiert sich dabei einzig und allein am Sprachgebrauch.

8. Zur Regelung der Orthographie bedarf es nur einer vertrauenswürdigen Institution, welche die Nachfolge des DUDEN antritt und dessen - trotz aller Einwände - höchst anerkennenswerte Arbeit in gleichem Geiste fortsetzt. Der Duden selbst kommt als ein privates, Im Wettbewerb mit anderen stehendes Unternehmen für diese Aufgabe aus rechtlichen Gründen wohl nicht mehr in Frage.

9. Wir schlagen dafür die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt vor. Sie sollte sich nach unserer Meinung darauf beschränken, ein reines Orthographielexikon auf der Basis der bisherigen und immer noch gültigen Rechtschreibung zu entwickeln, das den Wörterbuchverlagen als einheitliche und zuverlässige Grundlage für die Entwicklung ihrer ja weit umfassenderen Lexika dienen kann.

Das Statement zeigt ganz klar, daß die Rechtschreibreform über das rein Sprachliche hinaus längst zu einem Politikum geworden ist: sicherlich mitverantwortlich dafür, weswegen viele der Involvierten mit Zähnen und Klauen dagegen ankämpfen, ihr Gesicht zu verlieren - sofern noch vorhanden.

Von zentraler Wichtigkeit als Diskussionspunkt ist These [7], wo vom Souverän, der deutschen Sprachnation, gesprochen und die orthographische Entwicklung und Normsetzung vom Sprachgebrauch abhängig erklärt wird.

Der Sprachgebrauch des "Souveräns" richtet sich freilich heute wie nie zuvor nach den Medien. Wenn irgendeine V.I.P. sagt, das mache keinen Sinn, ist es so sicher wie das Amen in der Kirche, daß innerhalb nur weniger Tage oder allenfalls Wochen mindestens die halbe "Sprachnation" diesen vielmalig durch die Medien lancierten Unsinn durch häufiges Nachplappern "verinnerlicht" hat und die von mir "inkriminierte" Abweichung daher - möglicherweise normativ - Teil des Sprachgebrauchs geworden ist. Das gilt auch für Realisieren = erkennen und vieles andere (teils s.o.). Abweichend von LOEW plädiere ich für eine Institution, die in Abwägung kultureller Traditionen und Perspektiven und unabhängig von Eintagsfliegen des Alltagssprachgebrauchs eindeutige und für alle gültige Sprachnormen setzt. Wer auch immer sich in der Öffentlichkeit der deutschen Sprache und Schrift bedient, muß sich auf bestimmte Leitlinien verlassen können und die Gewißheit haben, im Zweifelsfall eine bündige, wissenschaftlich einwandfreie, logische und in jeder Hinsicht zuverlässige Auskunft zu bekommen.

[16] In SPD-regierten Niedersachsen wird die RS-Reform vorläufig ausgesetzt. Ministerpräsident Schröder: Die neuen Lehrbücher könnten weiterverwendet werden - mit der Maßgabe, "daß die dort verwendete neue Schreibweise nicht gilt". Zu dieser Absurdität -> die WELT v. 21.10.97. ÖSTERREICH will, wie wir gleichzeitig erfahren, auf Biegen und Brechen an der RS-Reform festhalten: Sturheit gegen Gesichtsverlust.

[17] Während alle Betroffenen der angekündigten Bundestagsdebatte zur RS-Reform entgegensehen, gab es bereits 18 Gerichtsentscheidungen und das ersehnte BGH-Urteil ist weit: kluge Verschleppungstaktik.Nach der Wende von 1989 ("Wir sind das Volk") nun das angesichts deutscher Trägheit (lieber alles hinnehmen, es wird schon richtig sein) fast unvorstellbare zweite Aufbegehren ("Wir sind das Rechtschreib-Volk"): diesmal gegen demokratisch-bundesdeutsche Gesetzgebung. Demokratisch, wenn wider alle Vernunft durchgepeitscht und möglicherweise aus Steuermitteln propagiert?

Was bedeutet hier "Volk"? Will, müssen wir uns auch kritisch fragen, ein inzwischen aus vielen Nationalitäten bestehendes Volk mehrheitlich die alte, dem abendländischen Kulturerbe verhaftete (und daher auch weitgehend die Fremdwortschreibung respektierende) Schreibung behalten oder schert es die "breite Masse" (und damit auch eine inline-skatende, baseballmützenbedeckte Jugend) einen Dreck, mit wie vielen /f/ oder /s/ ein Wort geschrieben wird oder woher "Nessessär" kommt, Hauptsache, der Arbeitsplatz ist sicher und die Kohle stimmt? Inwieweit ist die RS- Reform ein akademisches, ein kulturelles und/oder ein "politisches" Problem? Inwieweit ist der Umgang mit dem Bewährten und dessen leichtfertige Aufgabe ein Indikator für die weitere sozio-kulturelle Entwicklung eines immer stärker kosmopolitisch als national-bewahrend orientierten "Deutschland"s?*)

Die Verantwortung liegt bei denen, die qua Mandat den Volkswillen "repräsentieren". Und auch bei jenen, die jetzt durchhalten müssen, auch wenn es schwerer (und unbequemer) wird. Denn das Blatt wendet sich; Niedersachsens mutiger Ministerpräsident Gerhard SCHRÖDER, als einziger couragiert genug, in seinem Lande die RS-Reform auszusetzen, wird als "Wahlkämpfer" in die Ecke gestellt und zum Außenseiter gemacht. Edmund STOIBER, oberster Repräsentant eines bisher als traditionsbewußt und kulturvoll bekannten Landes, erklärt im Schulterschluß mit seinem Kultusminster die RS-Reform als ebenso harmlos ("Wir haben Kleists Novellen daraufhin untersuchen lassen und es sind nur drei Änderungen herausgekommen") wie notwendig.

*) "Multi-Kulti ist nicht immer schön": Das TV-Morgenmagazin vom 6.5.1998 berichtet von der mehr als besorgniserregenden Situation in Berliner Schulen, wo sich die Klassen aus teilweise 75% oder mehr Ausländern rekrutieren und die Deutsch-Kenntnisse so miserabel ausfallen, daß sich die Lehrerschaft außerstande sieht, die ministeriell verordneten Lehrpläne zu verwirklichen. Es werden hier und anderswo bereits - sprachbezogene - Quotierungen gefordert, die, wie es die Praktiker sehen, jedoch nicht durchsetzbar seien. In solchen Verhältnissen dürfte die Frage einer wie auch immer gearteten Rechtschreibung zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken (oder besser: verkommen) sein.

[18] Nachdem Wochen vergangen sind mit der ebenso zerrigen Diskussion um Renten- und Steuerreform, meldet sich in der ZEIT vom 14.11.97 erneut Dieter E. ZIMMER zu Wort und stellt mit der ihm eigenen Arroganz Integrität und Kompetenz der Reformgegner in Frage: sie suchten im Grunde nur "Schutz gegen jegliches Umlernen". Auch der Erlanger Germanist Horst Haider MUNSKE, der immerhin den Schneid hatte, wie der ebenfalls couragierte Ministerpräsident Gerhard SCHRÖDER aus der Reform-Phalanx auszuscheren, bekommt hier sein Fett weg. Das mittlerweile in über 500.000 Protest- Unterschriften in Erscheinung getretene "Rechtschreibvolk" wird in elitär-arroganter Weise als inkompetent, nörglerisch und trottelhaft apostrophiert.

[19] VOLKES STIMME ?
Welche polemische Blüten die RS-Reformdiskussion treibt und welche Argumente von eingeschworenen Befürwortern vorgetragen werden, mögen exemplarische zwei E-Mails verdeutlichen, aus denen ich hier zitieren möchte (der Name wurde auf Wunsch des E-mail-Autors v. 22.11.2000 (!) gelöscht):

[20.11.97]
Sehr geehrter Herr Näser,

eins vorweg: ich bin Maschinenbauer. Und da Germanistik eine nicht produktive Wissenschaft ist, kann ich verstehen, daß man Sie als Freizeitbeschäftigung ganz nett findet, aber mehr auch nicht. Ich kann das so ruhig sagen, weil ich davon ausgehe, daß Sie soviel von Isaac Newton wissen, wie ich von Ludwig Uhland (Erfinder der Gleichnamigen Straße!).

Die Deutsche Sprache läßt sich nicht beweisen, sondern nur verstehen. Eigentlich kann jeder kann schreiben wie er will. [...]

"Wir Lehrer gegen die Rechtschreibreform und für eine einheitliche, systematische Rechtschreibung" Ehrlich gesagt glaube ich, daß Sie in einem Elfenbeinturm leben, zu hoch bezahlt sind und zu wenig für Ihr Geld arbeiten. In dieser Arbeitszeit als Beamter kümmern Sie sich wahrscheinlich mehr um die Rechtschreibreform, als um Ihre Studenten. Und warum sind Sie gegen die Rechtschreibreform? Weil Sie lernen müßten! Warum bin ich dafür? Weil so´n bißchen lernen am Arsch dran vorbei geht. Aber für die Kinder ist es einfacher zu lernen, diese Rechtschreibreform. Wenn Sie was gegenteiliges behaupten, können Sie sich zwar im Fachkreis toll profilieren (wie eigentlich alle, die dagegen sind) aber den Schülern bringen Sie (ja wirklich Sie selbst), die Rechtschreibung nicht näher.

[...] Aber die ganzen Probleme würden kaum bestehen, könnten die Bayern richtig Deutsch reden. Aber die, die können es ja nicht mal richtig sprechen, geschweige denn schreiben. Schönen Gruß nach Bayern. [...]

[25.11.97]
[...] Sie in Ihrem Elfenbeinturm sollten mir einmal Gehör schenken. Sie und Ihresgleichen haben die deutsche Sprache nicht gepachtet. Und ich glaube auch, daß Sie in den letzten zehn Jahren nicht im Schuldienst waren (vielleicht in Bayern, aber dazu später), denn dann wüßten Sie, wie es tatsächlich um die deutsche Sprache (nicht Rechtschreibung!!) bestellt ist. Ja, diese Legastheniker kennen Sie ja zu genüge, verteidigen Sie ja die Bayern. [...] Sie als Staatsdiener oponieren gegen den Arbeitgeber, daß sollte ich mir mal erlauben. Und ganz im Ernst gesagt: Ihre Pension kostet mich mehr als die gesamte Rechtschreibreform. Und wenn Sie meinen, dem sei nicht so, verzichten Sie doch einfach auf Ihre Pension. Deutsch ist kein Kulturgut von wenigen, sondern von der "Mehrzahl Deutsch Sprechender", zu denen die Bayern nicht gehörenn, denn sonst könte ich den "Bullen von Bad Tölz" durchgängig verstehen. Es gibt und gab auch hervorragende Germanisten in USA, deswegen bezeichne ich nicht Texas als eine Hochburg des Germanistentums. Nun denken Sie mal über meine Worte nach!! (Gott was hasse ich die Worte, Sie müssen im NAZI-Reich geboren sein, oder?)

Bis die Tage
[Hervorhebungen von mir, WN]

Jeder möge sich aus diesen "Ergüssen" seinen eigenen Vers machen: auch dahingehend, ob sie möglicherweise die Mehrheit der Reform-Befürworter aus der "arbeitenden Bevölkerung" repräsentieren. Wenn ja, wäre noch viel Bildungs- und Aufklärungsarbeit nötig, um der "breiten Masse", die, wie Dieter E. ZIMMER (s.o.) ja meint, von den der deutschen Sprache innewohnenden Gesetzlichkeiten und Bauprinzipien nichts oder nur wenig versteht, die Notwendigkeit und Berechtigung des Protestes gegen die RS-Reform klarzumachen.

[20] Anfang 1998 erscheint im Leibniz-Verlag Matthias Dräger (St. Goar) als Eigendruck Stephanus PEILs Wörterliste: "Die Änderungen der Rechtschreibung - Ein Vergleich ausgewählter Beispiele aus dem Duden  (21. Aufl., Mannheim 1996) in Gegenüberstellung zur bisherigen, immer noch gültigen Rechtschreibung". Peil ist Grundschullehrer, kommt aus der Praxis und weiß, wovon er schreibt; seine Beispiele verdeutlichen einmal mehr die Hirnrissigkeit der "Schlechtschreibreform", der PEIL folgende Mängel attestiert:

  1. Sprachliche Rückschritte:
    Schwund an Wörtern, Lesefreundlichkeit und -verständnis; Mehrbedarf am Nachschlagen von Wörtern; Erhöhte Zahl von Schreibfehlern; Wörterbuch-Chaos;
  2. Demokratische Rückschritte (Rechtschreibung durch Erlaß):
    75 bis 90% der Bevölkerung gegen die Reform; Volksvertretungen werden bevormundet bzw. entmündigt;  Kultusminister wollten sogar Volksbegehren verbieten;
  3. Rechtliche Rückschritte:
    Kultusminister sind als Exekutive nicht berechtigt, Orthographie per Erlaß zu ändern; Wiener Absichtserklärung ist kein völkerrechtlich bindender Vertrag; nach Wörterbüchern differierende Korrekturen schaffen rechtliche Probleme;
  4. Haushaltsrechtliche Rückschritte:
    keine Kosten-Neutralität; Haushalt bestimmt durch wirtschaftl. Interessen der Verlage; Kosten-Nutzen-Rechnung wurde außer Acht gelassen, lexikologische Qualitätsprüfung vernachlässigt (Chaos in den Wörterbüchern); neue Schulbücher unterlagen nicht dem sonst üblichen Zulassungsverfahren
  5. Pädagogische Rückschritte:
    Fehlende Motivation bei Lehrern, Eltern und Schülern; Wörterbuch-Chaos verunsichert Lehrer und macht sie hilflos; die Einheitlichkeit der Orthographie wird zerstört; der Mangel an sicheren Regeln behindert die Ausbil-  dung eines Sprachgefühls; die RS-Reform bläht das Regel-Werk unnötig auf (um ca. 30 %); die Vielzahl von Schreib-Varianten widerspricht dem Wesen der Orthographie: sie wird unlehrbar.

Ausgehend von der PEIL-Liste und ihren Beispielen, widme ich dem DUDEN 1996 und damit den durch diese "Bibel der Konfusion" geschaffenen, schwerverdaulichen Fakten einen speziellen, laufend ergänzten Text.


[21] EIN AUSSCHUSS PRODUZIERTE AUSSCHUSS
Die am gleichen Tage in Mannheim stattfindende Anhörung über die Kompromißvorschläge für die Rechtschreibreform war am 23.1.98 auch Haupt-Thema der ARD-Tagesthemen; zum Ergebnis u.a. die WELT vom 24.1.98; der im zugehörigen TV-Interview schon etwas zerzaust und chaotisch wirkende Gerhard AUGST muß schließlich seinen Bankrott erklären: hierzu die WELT vom 26.1.98.

Die Mittelhessische Anzeigenzeitung (MAZ) meldet am 15.2.98:

"Kultusministerkonferenz: Rechtschreibreform soll nicht mehr geändert werden
(rs). Die Kultusministerkonferenz (KMK) will nach Informationen des Nachrichtenmagazins »Focus« die Änderungsvorschläge der Zwischenstaatlichen Kommission zur Rechtschreibreform mißachten. Im März 1996 hatte die KMK selbst die Kommission mit einer Überarbeitung der Reform beauftragt. In einem internen KMK-Papier heißt es jetzt aber laut »Focus«, sofortige Änderungen des neuen Regelwerks seien nicht erforderlich. Kommissionsmitglied Peter Eisenberg zeigte sich gegenüber dem Nachrichtenmagazin entsetzt über das Vorgehen der KMK. Er erklärte, wenn die Kultusminister die Vorschläge der Kommission nun nicht annehmen, dann hätten sie zwölf Professoren ein Jahr lang an der Nase herumgeführt. Die Kommission habe die gröbsten Fehler der Fassung von 1996 beseitigt, das hätten alle sprachwissenschaftlichen Institutionen auch anerkannt."

Der hier erwähnte prominente Linguist Peter EISENBERG, Inhaber des Lehrstuhls für deutsche Gegenwartssprache an der Univ. Potsdam und Träger des Deutschen Sprachpreises der Henning-Kaufmann-Stiftung, verläßt als zweiter prominenter Germanist die Rechtschreibkommission; warum, untersucht Kurt REUMANN in der FAZ vom 18.3.98.

Schon vor dem Arbeitsbeginn der Kommission habe E. 1997 das Reform-Regelwerk kritisiert: es erreiche nicht den Stand der Forschung und gehöre daher, wissenschaftlich gesehen, "auf den Müll".  Nach einigem Hin und Her auf Betreiben des KMK-Vorsitzenden WERNSTEDT dennoch in die Kommission berufen, habe sich E. "auf einige schnell zu bewerkstelligende Änderungen in den Schreibweisen" konzentriert; am wichtigsten sei ihm die "Wiederbelebung von 500 bis 800 Wörtern" gewesen, die als differenzierende Lexeme der Reform zum Opfer gefallen waren (z.B. das wird mir schwerfallen 'ich werde mich schwertun damit' vs. sie ist gestern schwer gefallen 'schwer gestürzt'; der frischgebackene ('neue') Professor aß die frisch ('jüngst, gerade erst') gebackenen Semmeln).

Daß damit einige der neugeschaffenen Regeln hätten geändert werden müssen, das sei E. klar gewesen. Obzwar Eisenbergs Argumente auf klar faßbaren grammatischen Fakten beruhten, hätten sich mehr und mehr Kommissionsmitglieder und erst recht die Kultusminister von solchen Reparaturversuchen distanziert. [...]

Eisenberg habe dies als "Verhöhnung der Kommission und ihrer Arbeit" empfunden. Was die Kommission angehe, sei es allerdings fraglich, ob er "die Bereitschaft der anderen Kommissionsmitglieder zu Korrekturen nicht überschätzt" habe. "Einige von ihnen arbeiten so eng mit Wörterbuchverlagen zusammen, daß Reformgegner ihnen wiederholt Interessenverquickung vorgeworfen haben."

Als "Außenseiter" bezweifle Eisenberg, daß dem Staat "das Recht zusteht, die Rechtschreibung vorgreifend zu regeln". Hierin unterscheide er sich von den übrigen Kommissionsmitgliedern, "die von den Kultusministern wiederholt bei Versuchen gebremst werden mußten, noch tiefer und aggressiver in die Schriftsprache einzugreifen".

Bildungspolitiker, meint Reumann, hätten in diesem Zirkel die Verhältnisse "auf den Kopf gestellt". Die Mehrheit der Sprachwissenschaftler teile nämlich E.s zweifel an einem vorgreifenden Regelungsrecht des Staates, das auch auf die Mehrheit der Schriftsteller und Kournalisten "ungebührlich", ja sogar "hoffärtig" wirke. "Darin liegt der tiefere Grund für die allgemeine Kritik: Die Sprache gehört nicht den Kultusministern."

[22]  DIE (VORLÄUFIG?) LETZTE RUNDE
"Münzen einer Währung werden vom Staat geprägt, die Schreibweise eines Volkes aber nicht."
Der Bevollmächtigte der Kläger, Rolf GRÖSCHNER, vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Mai 98   Der "Casus belli" ist nun Sache der BGH-Richter (s.o. und Zeitungsartikel unten). Man bemüht sich um juristische Neutralität und inhaltliche Abstinenz; alles bestens, wäre da nicht die ob ihres Verlustes immer rabiater aufbegehrende Papier-Lobby. Denn nicht weniger als 650 Millionen DM wurden seit dem Vorpreschen derer, die vollendete Tatsachen schaffen wollten, in Gestalt von Wörter- und Schulbüchern, Konversions-Software und CD-ROMs in den Sand gesetzt. Und es geht um Aktien!

Am 12.5.98 waren, wie es heißt, alle wichtigen Interessenvertretungen zur Anhörung geladen; die Verfassungsrichter konnten sich "schlau machen", sie sind nicht zu beneiden. Die Situation ist verfahren. Folgt die ultima ratio der Ökonomie oder der Kultur? Wird auch hier wieder die Arbeitsplatz- und Existenzfrage erpresserisch ins Spiel gebracht?

Um Objektivität und Sachgerechtheit bemüht sich Jörg MENZELs kurzer Aufsatz "Von Richtern und anderen Sprachexperten - Ist die Rechtschreibreform ein Verfassungsproblem?" (Neue Juristische Wochenschrift 17/1998, 1177-1184), wo Verf. nicht nur die Geschichte der "normativen" Schreibung referiert, sondern auch interessante Zitate beifügt wie z.B. J.W.GOETHEs Ansicht zur "Unwichtigkeit einzelner Schreibweisen": hier heißt es in Anknüpfung an Jean PAULs "Wortklauberei":

"Mir, der ich selten selbst geschrieben, was ich zum Druck beförderte, und, weil ich diktierte, mich dazu verschiedener Hände bedienen mußte, war die konsequente Rechtschreibung immer ziemlich gleichgültig. Wie dieses oder jenes Wort geschrieben wird, darauf kommt es doch eigentlich nicht an; sondern darauf, daß die Leser verstehen, was man damit sagen wollte. Und das haben die lieben Deutschen bei mir doch manchmal getan." (Gespräche 1817-1832, Bd. 23 Gesamtausgabe 1950, S. 796)

GOETHEs (authentischer?) Ausspruch vermag freilich nur auf den ersten Blick zu überzeugen; heute, in einer Zeit logarithmisch ausufernder Fachwissenschaften, entsprechenden Terminologien und einer um äußerste Genauigkeit und Differenziertheit gemühten Nomenklatur, gelten andere Voraussetzungen und Gesetzmäßígkeiten; sprachliches laissez-faire ist out - falls nicht durch die KMK qua RS-Reform sanktioniert.

An der "Front", dort also, wo teilweise sehr emotional und heftig diskutiert wird, wo Eltern und Kinder unmittelbar mit Reform und Konsequenzen konfrontiert sind und wenig Interesse besteht an Meister GOETHEs Denkprotokollen, gelten andere Argumente. Am 16.5.98 findet sich in der Passauer Neuen Presse folgender Leserbrief:

Jahrelanges Gezerre
"Als ich in der Mittwochausgabe die Abbildung der fünf sehr ernst dreinblickenden Bundesrichter sah, konnte ich mir ein mitleidiges Lächeln nicht verkneifen. Das schon jahrelange Hin- und Hergezerre über die überflüssige und kostspielige Rechtschreibreform spiegelt einmal wieder das Strohkopfvolumen unserer Politiker. In einem vom Sturm gepeitschten, überladenen Boot machen sie sich nur Sorgen über ihre naß gewordenen Schuhe. Voller Sarkasmus könnte man auch sagen: ,Alles muß seine Ordnung haben`." Max Schmidmeier, Deggendorf
© Passauer Neue Presse

Die SCHWERINER VOLKSZEITUNG und andere Presse-Organe veröffentlichen am 21.5.98 u.a. als AP-Meldung die Resultate einer Umfrage: hier heißt es u.a.:

"2 151 [Kinder] sollten im Auftrag der Zeitschrift "Eltern" einmal aufschreiben, wie ein Brief an den Regierungschef aussehen könnte. [...] Das Gros der Briefeschreiber (57 Prozent) ist gegen die Rechtschreibreform. Einer von ihnen meint: "Du mußt sofort die Rechtschreibreform stoppen, sonst streiken wir Schüler und schreiben grundsätzlich, wie es uns gerade einfällt. Zum Beispiel: Liper dikker Kannstler Koool. Du müssteßt direckt ferhienderen, daßß wier fallch schreipen."

Nicht ganz so kraß, dafür wesentlich beredter äußerte bereits die Schülerin Johanna REBLING ihre Bedenken.

[23] DAS ENDE?

Bergab geht alles schneller. In den Medien schrumpft die Reformgegner-"Titanic" zu einem Schiffsmodell, dessen "Versenkung" unmittelbar ins Haus steht. Der österreichische Verfassungsgerichtshof hat "Grünes Licht" gegeben. Bereits Anfang Juli verlautet, die Bundesregierung rechne mit einem JA zur Reform, am 6. Juli verkündet FOCUS bereits das Karlsruher Urteil, bereitet das Schafott für die Reformgegner. Feine und grobe Gemeinheiten gibt es genug, das zeigte schon die Fußball-WM.

Kurskorrekturen allenthalben. Die Reform-Gegner sehen sich von der politischen Prominenz im Stich gelassen - Variante alltäglicher Erfahrung. Schleswig-Holstein bleibt Fels in der Brandung, beharrt auf dem Volksentscheid am 27.9.; Schleswig-Holstein: eine künftige Sprachinsel?

7.7.98 - ein historisches Datum. Aufgrund der Indiskretion, das BGH-Urteil über Bonner Kanäle (und FOCUS, s.o.) vorzeitig  "verkünden" zu lassen, wird - nach einer FOCUS-Eilmeldung - heute überraschend die Verfassungsbeschwerde zurückgezogen; der Jenaer Juraprofessor und Verfahrensbevollmächtigte der Reformgegner, Rolf Gröschner, legt sein Mandat nieder.

"Mit Empörung nehmen die Beschwerdeführer zur Kenntnis, daß gut informierten politischen Kreisen die für den 14. Juli 1998 angekündigte Entscheidung ... bereits vollständig bekanntgegeben wurde, nicht jedoch den Beschwerdeführern selbst."

Diese überraschende Wendung beherrscht am selben Abend nicht nur die Rundfunk- und Fernsehnachrichten, sondern am 8.7. auch die bedeutenden Tageszeitungen (WELT u.a.); alles ist wieder offen, doch nur zum Schein. Die Fakten sind geschaffen: mindestens 80 Prozent der 3,7 Millionen Grundschüler in Deutschland lernen schon nach den neuen Regeln, sie sind für viele der rund 12,5 Millionen Schüler längst Realität.

Wenige Tage vor dem Stichtag, konnte noch spekuliert werden:

  1. der BGH bricht das Verfahren ab;
  2. der BGH zieht die Verfahrensherrschaft an sich und verkündet
    a) ein für alle überraschendes, weil an gänzlich unökonomischen Prinzipien orientiertes Urteil;
    b) das bereits am 30.6. durchgesickerte, im "öffentlichen [Lobby-]Interesse" liegende Urteil;
  3. in Schleswig-Holstein kommt es am 27.9. zu keinem Volksentscheid, denn wegen der Verpflichtung der Länder zur "Bundestreue“ kann der BGH einen nur in Kiel vorgesehenen Volksentscheid verhindern.

14.7.98 Total Reform-angepaßt und "fortschrittlich" (oder eher: naßforsch) befaßt sich die "taz" mit dem Problem: Normen ade, Grenzgänger würden gesucht, aus und vorbei sei die Zeit der "Oberlehrer", der Orthodoxie.

"Es gibt nicht mehr den einen Gott, weder in der Rechtschreibung noch anderswo."

So heute die taz, in der Zeit der Kopftücher, der weltweit wachsenden Fundamentalismen.

ES GESCHAH AM HELLLICHTEN TAG oder "Aktenzeichen 1 BvR 1640/97"

12.oo: Die Reform kommt, Karlsruhe hat entschieden. Das BVG, die "Krone unseres Rechtsstaats" (Schmidt-Jorzig 11.7.98) hat den Gordischen Knoten durchschlagen: die deutsche Sprache als Kunstwerk.
siehe hierzu:
- Wolfgang Roth: Zur Verfassungswidrigkeit der Rechtschreibreform

Das Neue ist gut - das Neue ist gut - das Neue ist gut ... (usw.): siehe G. ORWELL, Animal Farm

Die Medien handeln im Tempo der Zeit: das Thema verblaßt, die Kritik ebbt ab, Abwiegler und Verharmloser weisen der (nun höchstrichterlich sanktionierten) RS-Reform den Weg in die Normalität. In Klassenzimmern und Amtsstuben stolpern Duckmäuser, Radfahrer und sonstwie politisch Korrekte, "willige Vollstrecker" (M.RIEBE 12.5.97), über die eigenen Füße: wer ist schneller bei der Falschschreibreform?

Und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt  oder:  Mensch*), werde besentlich
In Schleswig-Holstein droht Heide Simonis (SPD): es bestehe die Möglichkeit, ein per Volksentscheid zustandegekommenes Gesetz durch ein neues zu korrigieren. "Gesetzgeberische Maßnahmen gegen ein so zustande gekommenes Gesetz behält sich die Landesregierung vor."
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*) hier: das Mensch (Bedeutung: siehe Mundartwörterbücher)

[24]  GIBT ES EIN LEBEN NACH DER REFORM?

20.7.98  Der Staatsrechtler und Reform-Gegner Rupert SCHOLZ hofft auf eine "Gegen-Reformation". Die Stuttgarter Zeitung meldet, die sog. Zwischenstaatliche Rechtschreibkommission wolle Zweifelsfälle bei der neuen Orthographie beseitigen. "Nachdem das Bundesverfassungsgericht den Weg für die neue Rechtschreibung freigegeben habe, sollen Unsicherheiten abgebaut werden, sagte Klaus Heller vom Institut für Deutsche Sprache in Mannheim als Geschäftsführer der Kommission in einem dpa-Gespräch. Das betreffe teils unzureichend interpretierte Regeln wie in einigen Bereichen der Getrennt- und Zusammenschreibung, teils auch lexikographisch unterschiedliche Darstellungen in Wörterbüchern."

28.7.98  Namhafte deutsche Schriftsteller haben zu einem Boykott der Rechtschreibreform aufgerufen und eine Revision der RS-Reform eingefordert. Unsinn, so Christian MEIER, Präsident der Dt. Akademie für Sprache und Dichtung, werde sich in der Schrift ohnehin nicht durchsetzen.

3.8.98  
DIE WEISHEITEN DES KONFUSIUS 
Wieder einmal widmet sich das TV-Morgenmagazin der RS-Reform. Reform-"Experte" Gerhard AUGST (s.o.) soll telefonische Anfragen beantworten; eine ältliche Quasselstrippe ("meine Großmutter hat Tür noch mit th geschrieben") fordert Schreibfreiheit: warum nicht "Froide" statt "Freude"; die Reform, sagt Augst, bringe Erleichterung für Schüler und "wenig schreibende Erwachsene"; es sei ja alles nicht so schlimm; auf den möglichen Sonderweg Schleswig-Holsteins angesprochen, appelliert er ganz lieb an die Bevölkerung: sie möge doch vor der Abstimmung in die Broschüren hineinsehen. Moderatorin Inka SCHNEIDER kontert seltsam: immerhin seien rund 70 Prozent der Bevölkerung (woher hat sie die Zahl?) dagegen, die Mehrheit wisse allerdings nicht, worum es eigentlich gehe.

Als erlösendes Korrektiv kurz vor Neun der Schriftsteller Ralph GIORDANO: Schiffahrt mit drei f: nur über seine Leiche. Er könne und wolle bis zu seinem - hoffentlich fernen - Ende weiter schreiben nach der alten Orthographie. Die RS-Reform bringe keine Erleichterung, sondern eher Konfusion, außerdem sei sie autoritär, geheim und ohne Mitsprache der Bevölkerung durchgesetzt worden, das gefalle ihm überhaupt nicht. AUGST sei nur ein Professor; rund 600 Professoren und Autoren hätten sich gegen die RSR ausgesprochen. Seine Prognose: die neue Schreibweise werde sich "auf Dauer nicht durchsetzen."

4.8.98 Manfred BIERWISCH analysiert in der Berliner Zeitung die Reform, einen "keineswegs rühmlichen Spezialfall deutscher Regelungssucht", und resümiert u.a.:

"Allerdings ist die Rechtschreibreform in einem prinzipiellen Sinn unvollendet. Und das läßt in mehrfacher Weise hoffen. Erstens ist die Reform, die vermutlich mehr Fehler als Vorteile hat, dennoch kein Unheil. [...] Die Reform, die fortgeschrieben werden muß, das wissen auch die Reformer, könnte so ein nicht mit Zwang besetzbares Vorfeld haben. Orthographie als Probierfeld für Toleranz und Bürgersinn, das ist sicher zu hoch gegriffen, aber eine schlechte Perspektive wäre es nicht für eine mißratene Reform."

8.9.98  ZUR NACHAHMUNG NICHT EMPFOHLEN
Mitten in der sog. heißen Phase des Bundeswahlkampfes wächst der Unmut über den dubiosen, bewußt irreführenden Stimmzettel der schleswig-holsteinischen RSR-Volksabstimmung. Das Hamburger Abendblatt schreibt dazu:

"Die Abstimmungsvorlage pro Rechtschreibreform nahezu wortgleich mit dem Kontra-Entwurf der Volksinitiative und damit absichtsvoll verwirrend zu formulieren, ist schäbig und hinterlistig. Die Abstimmenden mögen sich nicht hinters Licht führen lassen."

27.9.98  KLARES NEIN ZUR RSR IN SCHLESWIG-HOLSTEIN
Es ist geschafft
. Und es geht weiter. Das ARD-Morgenmagazin vom 28.9.98 kann es nicht fassen. "Ist wirklich das letzte Wort gesprochen?" fragt Inka Schneider. Und ihr Moderations-Kollege: "Die armen Kinder tun mir leid. Jetzt müssen sie wieder lernen, wie man im Altertum geschrieben hat." Der Zeitungs-Informationsdienst Paperball registriert für den 28.9.98 nicht weniger als 52 Artikel, von denen Sie sechs in dieser Dokumentation wiederfinden: mit einer Sprachlenkung, die in fast allen Fällen die 'armen' Schüler zu Opfern der RSR-Gegner, zu den "eigentlichen Verlierern" hochstilisiert.

KINDER ALS OPFER?
Wehrlos sind Kinder auch dann, wenn man sie als Opfer mißbraucht. Die Reform-Befürworter in Schleswig-Holstein bieten ein Lehrstück: auch im Verkaufen von Halbwahrheiten und Verdrehen von Tatsachen. Opfer? Ja und Nein. Die Kinderchen sind im lernfähigsten Alter, können hunderte von Hits und Medienstars herbeten, schlagen am Computer die Erwachsenen um Längen. Da macht es nichts, mal schnell einige Regeln wieder umzulernen. Wir müssen ja alle ständig umlernen; ich denke, das ist modern und Flexibilität ist angesagt. Gravierender zählt, daß die Kinder mißbraucht und belogen werden. Von denen, die nicht verlieren können. Die zu feige sind, die Schuld zu suchen in der kulturlosen, unausgegorenen Rechtschreibreform und ihrer undemokratischen Durchsetzung.

SCHLECHTE VERLIERER
Viele Deutsche sind es offenbar noch immer gewohnt, alles Neue, sobald es von irgendwoher beschlossen wird, ganz wie zu Kaisers und Adolfs Zeiten mit den Händen an der Hosennaht auszuführen, und sei es ein noch so großer Unsinn. Widerstand regt sich selten, weil inopportun. Hat er - wider Erwarten - Erfolg, sehen sich viele überfordert. Nach mehr als 50 Jahren noch immer Kücken der Demokratie? Gelebte Demokratie bedeutet auch unangenehme Niederlagen. Im Umgang mit solchen Niederlagen zeigt sich noch mehr an Lern-Defizit als bei der Orthographie.

Schlechte Verlierer sind schlechte Demokraten. Fairness kennen sie, wenn überhaupt, nur aus dem Fremdwörter-Duden. Unsicherheit kaschieren sie am besten mit naßforsch-arrogantem Auftreten. Stefan KOCH vom Mannheimer Morgen (29.9.) sieht in Schleswig-Holstein ein "Gewirr von Halbwissen und ideologisch gefärbten Emotionen, wie sie die Argumente der Rechtschreibgegner weitgehend prägen"; Kinder und Lehrer würden hier "zu Opfern einer Auseinandersetzung gemacht, die längst an Schubkraft verloren hat." KOCH schließt mit der süffisanten Hoffnung: "Warten wir die nächste Bürgerinitiative in Schleswig-Holstein ab, die für die Wiedervereinigung mit dem Rest der Welt ein Volksbegehren anstrengt." KOCH kann sich in der Gewißheit sonnen, es nicht mit den Mächtigen zu verderben. Und das scheint nach wie vor zu zählen, auch nach dem Wechsel.

21.10.98 Die Kieler Initiative gegen die Rechtschreibreform fordert die Landesregierung auf, die Arbeit der Kultusministerkonferenz so lange durch ihr Vetorecht zu blockieren, bis diese einlenke und die Reform auch in den anderen Ländern stoppe. Nach der Geschäftsordnung der KMK sei nämlich für alle Beschlüsse Einstimmigkeit erforderlich.

22.11.98
(1) Nach einer Meldung von AP (Köln) wollen neun von zehn Unternehmen ihren Schriftverkehr und die Firmenpublikationen nicht auf die neuen Rechtschreib-"Regeln" umstellen. Dies ergebe sich aus einer Umfrage, die in 350 Mitgliedsbetrieben der AG Selbständiger Unternehmen im Auftrag des Magazins "Impulse" durchgeführt wurde.
(2) In Bremen sind die für ein Volksbegehren gegen die RSR nötigen 5000 Unterschriften gesammelt worden.

8.12.98 Pressekonferenz der Bremer Initiative "Wir gegen die Rechtschreibreform" (Tel. 06741-1720, Fax -1749). Theodor ICKLER (Uni Erlangen) stellt sein neues Projekt vor: "Einheitliche Wörterbücher, auch ohne Monopol. Ein rein orthographisches Wörterbuch der allgemein üblichen Rechtschreibung".

9.12.98 Wie der Weser-Kurier meldet, handelt es sich hier - alternativ zum DUDEN 1996 - um ein Regelwerk und Wörterverzeichnis, das im kommenden Frühjahr als Buch (500 S.) erscheinen solle. Darin seien 20 Seiten Regeln und 60.000 lexikalische Einträge enthalten.

11.12.98 Nach einer Meldung der Süddeutschen Zeitung wollen bayrische Reformgegner ihre Landesverfassung ändern. Ein neuer Artikel 141a soll hierin fest verankert werden mit dem Wortlaut

"Sprache und Schrift als zentrale Bestandteile der Kultur dürfen nicht zum Gegenstand staatlich
angeordneter Veränderungen werden. In den Schulen wird die allgemein übliche Rechtschreibung
unterrichtet. Als allgemein üblich gilt die Rechtschreibung, die in der Bevölkerung seit langem
anerkannt ist."

Damit Friedrich DENKs Initiative (50.000 Anti-Stimmen) nicht erfolglos bleibt, will die bayrische Initiative "durchstarten" und - parteiunabhängig - ein (neues) Volksbegehren in Gang setzen, wofür zunächst 25.000 Unterschriften nötig sind.

14.12.98 Das Münchner Kabinett beschließt: Vom 1. Januar 1999 an gelten die reformierten Schreibregeln für alle Bediensteten des Freistaats im Schriftverkehr.

16.12.98 Die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen beschließen in Frankfurt einvernehmlich nach intensiver Beratung, die Reform der deutschen Rechtschreibung weitestgehend und in einem Schritt umzusetzen. Termin: 1. August 1999.

13.1.99  
SPRACHE: POLITISCHE VERFÜGUNGSMASSE ?
Doppelpaß ohne Sprachprüfung? Deutsche ohne Sprach- und Geschichtsbewußtsein? Jüngste Entwicklungen in Sachen doppelte Staatsbürgerschaft lassen den Verdacht aufkommen, daß die RSR Teil einer "Agenda 2000" ist, in der die Qualität des "Vaterlandes" allein an materiellen Dingen und Rechten gemessen und nationale Gemeinsamkeit zur Verfügungsmasse verworfen wird. Damit wird die RSR nun ein deutig zum Politikum und zu einer Angelegenheit, die über das rein Fachliche weit hinausgeht. Somit sind alle, die es angeht, dazu aufgerufen, die angesprochenen Trends aufmerksam zu beobachten und eine für alle, die sich weiter in Deutschland heimisch fühlen und nicht (wie im Dritten Reich als kulturelle Flüchtlinge!) auswandern wollen, bedrohliche Entwicklung abzuwenden.

12.3.99
UNTER DIE GÜRTELLINIE
Ein getroffener Hund bellt. Wie geschmacklos und widerlich dieses Gebell sein kann, zeigt der Kommentator Ulrich REINEKING in der Bremer TAZ vom 12.3.99 in "Urdrüs wahrer Kolumne":

Bereits vor Monaten hatte ich Gelegenheit, den Uralt-Lavendel-Duft der Tapetentisch-Aktivisten gegen die Rechtschreibreform in der Obernstraße zu riechen und irgendwo war das Aroma ähnlich wie beim CDU-Tischlein "Kanacken raus".  [...] Wird dem Philologen alter Schule dieser Lebenssaft seiner Kümmerexistenz entzogen, erschlägt er sich ganz gern selbst mit Meyers Konversationslexikon. Schade, daß diesem Gelump jetzt die schmähliche Niederlage im Volksbegehren erspart bleibt!

Dieser journalistischen Schande für das "progressive" Bremen ist wohl nichts hinzuzufügen.

24.3.99
AUS FÜR DIE REFORMGEGNER?
Der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts in Berlin hebt ein anderslautendes Urteil der untergeordneten Instanz auf und bestätigt damit die Rechtschreibreform. Diese, so die Richter, "verletze die betroffenen Schüler nicht in ihren Grundrechten". Auch sei kein spezielles Gesetz zur Einführung der Reform an Schulen nötig (Az. 6 C 8.98). Doch in Berlin kämpft man weiter. In sechs Monaten sammelte der hier gegründete «Verein für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege» über 33 000 Unterschriften für die Zulassung eines Volksbegehrens. (dpa, 13.4.99).

14.7.99
VOLKSWILLE WIRD MISSACHTET
Daß unser - vor kurzem so überschwenglich (oder -schwänglich?) gefeiertes Grundgesetz mittlerweile zu einem "Schweizer Käse" degeneriert und Recht nur noch das ist, was den Machterhalt fördert (vgl. auch den Verlauf des Kosovo-Krieges), daran haben wir uns gewöhnen müssen. Und so wird innerhalb unserer Demokratie (griech.: 'Herrschaft des Volkes') der Volkswille auch in Sachen Rechtschreibreform mit Füßen getreten und - wohl von allen Fraktionen - in Schleswig-Holstein nach der Sommerpause ein Gesetzesentwurf eingereicht werden, der das - ebenso mühsam wie teuer erkämpfte - Ergebnis des Volksentscheides von 1998 annullieren soll (-> SZ 14.7.99). Somit wird, rechtzeitig zum Beginn der "Berliner Republik", auch in der Schriftsprache die (mentale) Gleichschaltung vollzogen sein; alle, die verantwortlich mit Anwendung, Lehre und Erforschung der Amts- und Literatursprache zu tun haben, werden sich fügen (und die z.T. so lächerlichen Reform-Regeln nachbeten) müssen. Wir dürfen gespannt sein, welches Recht als nächstes unterlaufen wird.

20.9.99
Das oben Befürchtete wird Realität; zur neuen Politposse aus der Bildungs-Demokratur die taz:
"Man kann von den Gegnern der neuen Rechtschreibung halten, was man will. Wer möchte schon mit dem schrillen Mathias Dräger für das "ß" kämpfen? Das Votum des Kieler Landtages aber sendet eine andere, verheerende Botschaft aus: Eure Meinung, euer Wille ist uns scheißegal!, haben die Volksvertreter dem Wahlvolk zugerufen. Besonders schlimm ist dabei, dass Grüne und SPD mitgeholfen haben, das Kieler Plebiszit zu verhöhnen - für das sie im Bund werben. Das führt zu - wie hieß es doch gleich? - Politikverdrossenheit."

26.7.2000
Die wohl schönste Meldung seit Jahren: Die FAZ will (lt. dpa) die alte, d.h. traditionelle Rechtschreibung vor der Reform, ab 1.8.2000 wieder einführen.

Mein Kommentar zur Mainpost vom 28.7.2000:
Wer seit Jahren unerschrocken gegen die Rechtschreib-"Reform" kämpft, darf die Entscheidung der FAZ als Sieg verbuchen. Andererseits ist damit die von mir befürchtete sprachliche Apartheid Realität geworden. Die Medien-Elite kehrt zurück zu einem von proletenhaften Amputationen befreiten Deutsch, doch bleibt die "Reform"-Sprache kraft ministerieller Willkür Lehr- und Praxisnorm an deutschen Bildungsanstalten und wird weiterhin "Albtraum", "Dasssatz", "Flussschifffahrt" oder "die Juden tun uns Leid" geschrieben. Das heißt, diejenigen, die durch Begabung und geistigen Besitzerwerb eine schlechte soziale Situation mehr als kompensieren könnten, werden per Erlaß davon abgehalten, das dafür nötige kommunikative Werkzeug zu erwerben. Das ist Sozial-Frevel in einer Weise, die man längst überwunden glaubte.
Interessant, daß nun plötzlich wieder "Kritiker" wie FDP-Chef Gerhardt und einige Literaten aus der Versenkung auftauchen und ihren "Unmut" bekunden. Sie hätten das auch zwischen 1998 und 2000 tun sollen, dann wäre es Mut gewesen; jetzt ist es Sommer-Theater.

28.7.2000
Hans Magnus Enzensberger schreibt in der FAZ:

Auch Ministern sollte man, eingedenk menschlicher Schwäche, das Recht auf Dummheit nicht absprechen. Wenn jedoch sechzehn unter ihnen sich in einem Club ohne Verfassungskompetenz treffen, um per Dekret über die Landessprache zu verfügen, so stellt sich die Frage, warum sie glauben, ihre Dummheit in den Dienst der Kultur stellen zu müssen. Nach ihren Verlautbarungen zu schließen, die gewöhnlich die linkische Gangart der Bürokratie bevorzugen, ist es mit ihrer Beherrschung der deutschen Sprache nicht weit her. Das erklärt vielleicht, warum sie sich von selbsternannten Experten haben über den Tisch ziehen lassen, denen selbst die Autoren von Trivialromanen an Sprachgefühl und historischer Delikatesse weit überlegen sind. Als sie ihre blamable Reform verkündeten, habe ich, der Deutlichkeit halber, von Sesselfurzern gesprochen. Ich bedaure, mich in diesem Fall nicht höflicher ausdrücken zu können, und beglückwünsche die F.A.Z. zu dem Entschluß, die Reform der Pfuscher zu ignorieren. Zu hoffen ist, daß andere ihrem Beispiel folgen.

3.5.2004
"Kultusministerkonferenz will zwei Rechtschreibungen einführen

Erste Ergebnisse der Besprechungen der Rechtschreibkommission mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung dringen nach außen. Sie lassen zumindest vorläufig nichts Gutes für die Einheit der Rechtschreibung erwarten. Wie die Präsidentin der Kultusministerkonferenz Doris Ahnen heute der Bild-Zeitung sagte, wollen die Kultusminister Anfang Juni beschließen, daß einerseits die Änderungen durch die Reform nicht zurückgenommen werden, andererseits in Zukunft „weitere Schreibmöglichkeiten erlaubt“ sind, also bisherige Schreibweisen wieder zugelassen werden. Als Beispiele nannte Ahnen „leidtun“ neben „Leid tun“, „allein stehend“ neben „alleinstehend“, „vor kurzem“ neben "vor Kurzem"."
(Quelle: http://www.deutsche-sprachwelt.de/nachrichten/neues_detail.php?id=46):

Also doch Apartheid. "PISA" war noch nicht genug. Armes Deutschland.

August 2004:
SPIEGEL-Verlag und Axel Springer AG kehren zur klassischen Rechtschreibung zurück.

Hierzu folgende Links:
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,311777,00.html
http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,311190,00.html
http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,311176,00.html
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,306567,00.html
http://www.spiegel.de/forum/0,1518,306704,00.html

Siehe auch: Fragen und Antworten zur erneuten Rechtschreibreform-Diskussion (anläßlich eines Interviews im UniRadio Berlin-Brandenburg 11. August 2004)

(wird fortgesetzt)


=> Teil 1: Grundsätzliches. Tendenzen
=> Teil 2: Mein Fax vom März 1995
=> Teil 4: Thematische Links

(c) Wolfgang Näser 12.8.2004