Wider die sprachliche Apartheid!
Materialien und Gedanken zur sog. Rechtschreib-Reform

hier das Ergebnis jahrzehntelanger Mißwirtschaft und planvoller Volksverdummung:
Weltweiter Leistungstest: Deutsche Schüler fallen durch
Studie: Katastrophales Ergebis für deutsche Schulen * Ein  Niveau mit Brasilien

Berlin. Deutschlands Schüler haben beim weltweit größten Schulleistungstest "Pisa" ein katastrophales Zeugnis erhalten.
Im Vergleich mit 32 Industriestaaten landete die Bundesrepublik in allen drei Leistungskategorien - Lesen, Rechnen und Naturwissenschaft - jeweils auf einem der hintersten Plätze (20. bis 25.). Dies berichten "Spiegel" und "Focus" in ihren neuen Ausgaben. Spitzenreiter sind dagegen Finnland, Korea, Kanada und Japan. Arbeitgeberchef Dieter Hundt sprach von einer "neuen Bildungskatastrophe". Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Ludwig Georg Braun, sagte: "Schlimmer hätte es nicht kommen können." Beide verlangten radikale Reformen. Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) forderte, Deutschland müsse seine Kinder "besser und früher fördern". Die Kultusminister-Präsidentin Annette Schavan (CDU) kündigte massive Verbesserungen an und forderte eine Pflicht zur Fortbildung für Pädagogen.
Besonders erschreckend für die Schulforscher: Gut jeder fünfte deutsche Schüler (22,6 Prozent) erreicht bei der Lesekompetenz nur die niedrigste Leistungsstufe. Die Fähigkeit, einen Text zu lesen und den Sinn zu verstehen, gilt als eine der wichtigsten Voraussetzungen, um sich im Leben und Beruf zu Recht zu finden [sic!] und sich auch mathematische und naturwissenschaftliche Kenntnisse anzueignen. Eine Lehrlings-Einstellungsprüfung, wie sie bei den Kammern heute üblich sind [sic!], würden diese Schüler nicht bestehen.
Die Mehrzahl dieser leistungsschwachen Schüler ist männlich und stammt aus dem sozial schwachen Milieu. Aber selbst die besten deutschen Schüler lagen im Vergleich mit den Besten anderer Länder unter dem Durchschnitt. Und: In keinem anderen Land gibt es so krasse Diskrepanzen zwischen guten und schlechten Schülern wie in Deutschland.
Für die "Pisa"-Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wurden weltweit mehr als 260.000 Schüler im Alter von 15 Jahren getestet, darunter rund 10.000 Deutsche. Deutschland liegt auf einer Niveaustufe mit Russland und Brasilien. In einem Fall landeten die Deutschen sogar auf dem vorletzten Platz vor Mexiko. Alle Länder mit Spitzenleistungen haben Ganztagsschulen. Auch werden dort die Kinder nicht wie in Deutschland üblich als Zehnjährige auf verschiedene Schulformen verteilt. Sie besuchen mindestens bis zur neunten Klasse gemeinsam die Schule.
Aus: OBERHESSISCHE PRESSE Marburg, 3.12.2001

Aus technischen Gründen habe ich meine Themenseite in vier Module geteilt:

  1. Grundsätzliches. Tendenzen
  2. Mein Fax vom März 1995
  3. Nachträge und Ergänzungen zur Entwicklung ab 1996
  4. Bibliographische Hinweise und Links.

Zur Thematik finden Sie hier auch meine Analyse des DUDEN 1996 und 2000

Meine Seite wird sporadisch ergänzt und bleibt - auch nach der BGH-Entscheidung - bestehen als dokumentarische Basis für Diskussion und (konstruktive) Kritik. Hinweise und Kommentare an mich bitte per E-mail.
MR, den 17.5.99    W. NÄSER

1. Grundsätzliches. Tendenzen

We dir, tiuschiu zunge, wie stet din ordenunge (Walther von der Vogelweide)

Ist es uns vielleicht nur recht, daß wir uns eher einer Sprache bedienen, die uns nichts mehr bedeutet?
Sybil Gräfin Schönfeldt, ZEIT-Magazin 1989
(!)

Die breite Öffentlichkeit ist so gut wie gar nicht informiert. Deshalb werden viele erschrecken, wenn es nun zu einer Reform kommt, und zwar auch dann, wenn noch einiges geändert wird. Viele haben gar nicht mehr an eine Reform geglaubt, nachdem seit fast hundert Jahren alle Vorschläge gescheitert sind. Man wird uns, die Kultusminister, fragen: Was habt ihr denn da angestellt? Es wird große Aufregung und viel Streit, sogar erbitterten Streit geben, und es würde mich nicht wundern, wenn er mit der Schärfe von Glaubenskämpfen ausgetragen würde.
Kultusminister Hans ZEHETMAIR, ehemaliger Studienrat, im SPIEGEL v. 11.9.1995, zit. bei ICKLER (s.u.), S. 28

Denn die Deutschen lieben zwar ihre Rechtschreibung nicht, und noch weniger lieben sie irgendwelche Änderungen der gewohnten Schreibung. Aber wenn eine Neuerung nicht mehr abzuwenden ist, werden sie geradezu geil auf sie. Vielerorts stürzt man sich schon jetzt, zwei Jahre vor der offiziellen Einführung in die neue Orthographie, geradezu enttäuscht, daß die Änderungen so bescheiden ausgefallen sind.
Dieter E. Zimmer, Beschreibung eines Kampfes, Die ZEIT, 27.9.96, S. 57

Die Rechtschreibreform räumt nun mit einem großen Teil der Widersprüche auf. Damit die Anwender der geschriebenen Sprache nicht mehr soviel lernen müssen. Und mehr Zeit für die Biergärten haben. - Neue Presse Hannover,  13.7.99

Auch Ministern sollte man, eingedenk menschlicher Schwäche, das Recht auf Dummheit nicht absprechen. Wenn jedoch sechzehn unter ihnen sich in einem Club ohne Verfassungskompetenz treffen, um per Dekret über die Landessprache zu verfügen, so stellt sich die Frage, warum sie glauben, ihre Dummheit in den Dienst der Kultur stellen zu müssen. Mans Magnus ENZENSBERGER, FAZ 28.7.2000

Milliarden hat dieser Bankrott der deutschen Rechtschreibung gekostet, sie hat viele Tausende an Arbeitsstunden gefordert, sie hat in mehreren Schüben Berge von Büchern hervorgebracht, die innerhalb von kurzer Zeit überholt waren, und sie hat nie die Unterstützung der Bevölkerung besessen. Sie war das dümmste und überflüssigste Unternehmen in der deutschen Kulturpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg: ein gemeingefährlicher Akt. THOMAS STEINFELD, FAZ 26.7.2000

- "gehört sprachwissenschaftlich auf den Müll" (Peter EISENBERG)
- "Regelwerk von haarsträubender Unsystematik" (Werner H. VEITH)
- "Ein keineswegs rühmlicher Spezialfall deutscher Regelungssucht" (Manfred BIERWISCH, 4.8.98)
-
"eine Sonderform für Schüler und einige Beamte" (Jürgen HORBACH, DVA Stuttgart)
-
"Andere denken sich so einen Blödsinn aus und wir müssen es ausbaden" (Udo DIETRICH, Nauwalde)
- "eine Nivellierung nach unten" (Rolf GRÖSCHNER)
- "überflüssig wie ein Kropf" (Roman HERZOG)
- "gewaltsames Zurückdrehen der Sprachentwicklung" (Hans KRIEGER, 14.8.98)
- "Verhunzung unserer Sprache und unseres kulturellen Erbes" (Hilmar HOFFMANN)
- "staatlich legitimierte Legasthenie" (Mathias DÖPFNER, DIE WELT 1.8.98)
- "ein gigantischer Humbug" (Theodor ICKLER, FAZ 24.7.98)
- "Chaos und Murks auf Anordnung sogenannter Fachleute" (W. KEMPOWSKI)
- "Simplifizierung unserer reichen Sprache" (Siegfried LENZ)
- "Unsinn wird sich in der Schrift nicht durchsetzen" (Christian MEIER, Dt. Akademie für Sprache u. Dichtung)
- "Dies Kuckucksei sollte man zerstören" (Horst-Haider MUNSKE)
- "Die Rechtschreibreform hat in ein Chaos geführt, aus dem die Politbürokratie nicht mehr herausfindet."
   (D. GURATZSCH, DIE WELT 25.7.2000)

Was wir hier diskutieren, ist längst keine Tages-Aktualität mehr; es betrifft nichts weniger als einen seit Entstehung der deutschen Sprache, also seit mehr als 1.200 Jahren, kontinuierlich ablaufenden Prozeß eines dynamischen Wandels, der, verschiedenen linguistischen und außersprachlichen Gegebenheiten folgend, von den Sprachteilhabern vollzogen wird. Jede lebende Kultursprache wandelt sich nach eigenen Gesetzlichkeiten; administrative Eingriffe können einen solchen Wandel beschleunigen oder hemmen, ihn positiv oder negativ beeinflussen, sind jedoch stets künstlich und laufen daher den sprachnatürlichen Eigengesetzen zuwider.

Die von Theodor ICKLER (1997) völlig zu Recht als Schildbürgerstreich charakterisierte, ohne Not 1), wider besseres Wissen und gegen das Schreibvolk durchgepeitschte Rechtschreib-"Reform" trat erst dann ins Licht der Öffentlichkeit, als bereits gegen sie protestiert wurde; zuvor, als schon längst hunderttausende von Verlags-Broschüren die Buchläden überschwemmt hatten, war sie in den auch hier selektierenden Medien mehr oder weniger planvoll übersehen worden. Als ab Mitte 1996 Politiker, Dichter und andere Prominente aus welchen (z.T. auch opportunistischen) Gründen auch immer die Stimme des Protests und der Empörung erhoben, war im Grunde schon alles beschlossen, wurden von einer diktatorisch handelnden Kultusbürokratie nach "Siedler-Art" für die Schulen vollendete Tatsachen geschaffen. Und so mußte Roman HERZOGs später Ausspruch, die RS-Reform sei so überflüssig wie ein Kropf, als ebenso halbherzig wie (selbst) überflüssig erscheinen. Die Parallelen der Rechtschreibreform mit nationalsozialistischen Bestrebungen wurden zunächst verdrängt, später jedoch aufgedeckt.
------------------------------------
1) Es hätte keinen Mehraufwand bedeutet, weiter die alten Regeln zu lernen, und man hätte mindestens eine Milliarde DM für wichtigere Aufgaben verwenden können

Ich selbst war zutiefst schockiert über das, was in Heft 1 des "Sprachdiensts" von 1995 in Sachen "Jahrhundertwerk Rechtschreibreform" über den Köpfen der Leser/innen an teilweise ebenso Zweifelhaftem wie Unausgegorenem ausgekippt wurde. Aus diesem Schock (und entsprechender Wut) heraus entstand mein ebenso spontanes wie polemisches [hier verkürzt abgedrucktes] Fax, das ich am 29.3.1995 per PC an die Gesellschaft für deutsche Sprache sandte und das nie beantwortet wurde.

"Beispiel für Ermüdungserscheinungen in der Kulturpolitik" (M. NAUMANN)

Inzwischen sind rund vier Jahre vergangen. Wenn überhaupt, äußerten sich Prominente (s.o.) und Politiker viel zu spät; der massive Protest von Dichtern und Verlegern ließ die Kultusminister ungerührt; in Schulen und Universitäten regte sich Widerstand; zahlreiche Leserbriefe, Medien-Auftritte, Bürger-Initiativen und Publikationen vermittelten öffentlichen Unmut, parlamentarisch und juristisch wurde agiert; unterdessen verstrich kostbare Zeit, in der den engagierten Reformgegnern immer deutlicher werden sollte, wie ohnmächtig sie doch seien angesichts einer geballten Ladung aus durchsichtigen wirtschaftlichen Interessen, Opportunismus, Feigheit und Bequemlichkeit, jenem verhängnisvollen Cocktail, der schon am Ende der Weimarer Republik als tödliches Gift eine mit so vielen Hoffnungen und Idealen befrachtete Demokratie zum Erliegen brachte.

Demokratie kommt aus dem Griechischen und heißt "Herrschaft des Volkes". Demokratische Entscheidungen erfolgen entweder direkt (Volksbefragung, -abstimmung) oder aufgrund der Willensbildung der gewählten Volks-Vertreter. Die sogenannte Rechtschreibreform wurde ohne Rücksicht auf Meinungen und Befindlichkeiten des Schreibvolkes betrieben und quasi diktatorisch durchgesetzt. Dies ist gleichsam ein Lehrstück (oder besser gesagt: abschreckendes Beispiel) zutiefst undemokratischen Verhaltens und einer in 50 Jahren gewachsenen Republik unwürdig.

"Jahrhundertwerk" der Stümperei

"Esst mehr Krepps!" (= Eßt mehr Crêpes), Slogan (Sprachdienst 3-4/96) der Gesellschaft für deutsche Sprache. Motto der Interessengemeinschaft für Abriß-Linguistik

Braucht ein Volk Richtlinien, auch für die Sprache, dann sind alle, die es können, zur Mitarbeit aufgerufen und die Verantwortlichen gefordert, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln. Dann geht es um die Sache, die Politik hat außen vor zu bleiben.

Wer sich indessen mit den durch das Regel-"Werk" ("une réforme peu réfléchie") geschaffenen Fakten befaßt, fällt von einem Entsetzen ins andere. Zehn Jahre Arbeit für ein professoral gefeiertes (s.o.), armseliges Machwerk, vom handwerklichen Standpunkt nicht einmal auf Lehrlings-Niveau. Schreib-Reform als Trümmerhaufen des Sprach-Vandalismus: unausgegoren, unprofessionell und kulturlos, Brutstätte neuer Unklarheiten und Konfusionen, Vehikel dubioser Paradigmen, kleinkinderhaft-naiv verteidigt und nun korrekturlos durchgepeitscht zum alleinigen Wohle von Machterhalt und Wirtschaftlichkeit.

Es gehe um Existenzen, Verlage, Arbeitsplätze. Die Gegner wurden verlacht oder verteufelt. Viele, die etwas zu sagen hatten, gaben auf. An der Spitze einer riesigen Phalanx sehen sich die Schreib-Reformer im Recht. Die Mehrheit, sagen sie, woll(t)e die Reform. Nach anderen Erkenntnissen sind noch immer 84 Prozent der Bevölkerung dagegen. Mehrheit ist ein dehnbarer Begriff. "Mehrheit", sagt SCHILLER, sei "der Unsinn", Verstand sei "stets bei Wen'gen nur gewesen." (Demetrius, Mai 1804).

Die Reform: ein Kuckucksei, verharmlost mit Stereotypen. Schifffahrt, dass, Kuss, das sind doch Peanuts. Was regt ihr euch auf, nur wenige Wörter sind neu zu lernen, für die Kinder wird alles einfacher, es gibt weniger Ausnahmen, alles wird besser und schöner. Deutsch light. Deutsch für Kids. Cola durstig. Fußball hungrig. O-beraffengeil. Primitivität auf Anglo-Deutsch.

Ihr Erwachsenen, ihr könnt weiterschreiben wie gehabt. Das schafft Apartheid, trennt Schichten und Generationen. Wer will, schreibt an geraden Tagen alt, an ungeraden neu. Sprachliche Schizophrenie. Duales System aus Vernunft und Schwachsinn. Selbst die Wörterbücher driften auseinander, tausendfach.

Though that be madness yet there is method in it

Deutsch - das ist nicht einzig und allein Leben und Lernen in der Grundschule. Sprachlehrer, Autoren, Redakteure, sie bekommen Bauchschmerzen. Feinnervig registrieren sie, wie Sprache verfällt: partiell, aber zukunftweisend und mit System. Romanismen entstellt, Strukturen vernebelt, Nuancen raus, Anglo-Amerikanismen rein.1) Gewalt gegen Sprache. Kultur mit dem Rasenmäher. Sanierung mit der Abrissbirne. Trend-Setting in der Brave New World.
------------------
1) Yves Berger im "Figaro": "Nicht die französische Sprache bedroht die deutsche, sondern anglo-amerikanische Ausdrücke. Die sollte man eindeutschen."

Dasssatz, Gussstahl, Flussschifffahrt, Ausschusssitzung, grimmsche Märchen, helllicht, molierische Charaktere, Hawaiiinseln [wirklich!], Bessrung, Probe singen, Kultur auf "wieder Sehen"? Die Juden tun uns Leid (geschlafen, Herr Bubis? Hohes Gericht?). Missstände im Großen und Ganzen. Pä-dagogik schwer fallend, weil Sprache schwer beschädigt (ohne Ausweis). Ein Erlass mit grässlichen Fassetten, zum Haare Raufen, zum Mäuse Melken. Innovation als Beschiss.

Schrift schafft Bewußtsein
“Ein Wort hat nicht nur einen Klang, sondern auch ein Bild” (Ingo CESARO, Schriftsteller)

In der Sprache manifestiert sich das Denken, in der Schreibung das sprachliche Ordnen. Die Schrift ist das Kleid der Sprache. Kleider machen Leute. Kleider schaffen Bewußtsein. Geschmacklose Kleidung stößt ab, zerlumpte steht für Armut, Gleichgültigkeit, Ungepflegtheit. Schrift schafft Klarheit. Schrift ordnet, kategorisiert, dokumentiert Systeme, bezeugt kulturellen Reichtum. Orthographie vereinigt in sich Disziplin und Schreibkunst, ist nützlich und ästhetisch zugleich. Orthographie ist zeichengewordene Harmonie. Abgerissen und schäbig, ungepflegt und kulturlos, schnoddrig und barbarisch erscheint eine Sprache, deren Schreibung verkommt. Sie wird zum Muster ohne Wert. Schreib-Anarchie ist Kultur-Vandalismus. Kultur ist das, was übrig bleibt, wenn die Autos in der Garage und die PCs abgeschaltet sind. Kultur ist das, woran viele Generationen gearbeitet haben, was uns von primitiven Eroberern und schrillen Demagogen unterscheidet. Sprache ist Urgrund und höchste Form von Kultur.

Der Verfall zeigt sich erst auf den zweiten Blick. Wenn sich die Eindrücke gesetzt haben. Wenn hinter Fassade und Euphorie die Dürftigkeit der Reform hervorscheint. Wenn es um Anspruch geht. Wenn Kompromisse out sind.

Dann zeigt sich das Reform-Deutsch im wahren Licht: um wichtige Feinheiten und Signale ärmer, verkommt es in wesentlichen Elementen und mit höchstrichterlicher Billigung zur anspruchs- und charakterlosen Gebrauchssprache. Deutsch für Dummies. Deutsch light. Deutsch für Abwiegler. Deutsch für Kopfnicker. Deutsch zum Reihern. Ugly German.

Deutsch wäre mehr, wenn man es ließe. In mehr als 1200 Jahren gewachsen, schließlich zur Kunstform geworden, ist es fähig, alles Erlebte, Gefühlte, Ersonnene, Gedachte in einem Höchstmaß an Klarheit, Durchsichtigkeit, Deutlichkeit und Wahrhaftigkeit zu vermitteln, an den Hörer oder Leser zu bringen. Deutsch ist nicht einfach. Mark Twain hat es gesagt, und er wird immer wieder zitiert. Wahre Kunst ist nie einfach, rauh ist der Weg zu den Sternen. Doch jeder, der will, kann sie in Besitz nehmen, die Schönheit unserer Sprache, kann sich aufmachen auf den langen, steinigen Weg zur Vollkommenheit. Und dieser Weg lohnt sich.

In Schulen und Amtsstuben ist dieser Weg verbaut. Gesetzlich gesperrt. Die Lehrer tun uns Leid. Verwalten die sprachliche Müllkippe. Verkaufen Tee-nagern Sprach-Trabis als Lamborghinis. Kompromißlose Schreibung, optimale Differenzierung: sind nicht (mehr) erwünscht. Fast Food im pädagogischen Schnellrestaurant, wo immer weniger Kellner immer mehr verschlissen werden: überfüllte Klassen, keine Zeit für Grammatik, für Interpunktion, für Sprachbetrachtung, für Tiefe. Tiefgang ist unerwünscht, weil erkenntnisfördernd. Einfach ist schön. Wer Normen setzt, ist unbeliebt. Wer viel erlaubt, kriegt Stimmen. Nessessär und Portmonee. Nicht etymologisch denken. Deutsch ohne Geschichte. Das gab es schon einmal vor 25 Jahren. Damit konnte man sogar Professor werden. Und kann es wieder.

Nichts ist mehr, wie es war, und das Chaos ist perfekt

Die Bevölkerung ist verunsichert: was gilt (noch)? Was ist (wirklich) neu? Mutmaßungen haben Konjunktur: heißt es nun Fantom- oder Phantombild? Masse oder Maße? Was darf, was muß eingedeutscht werden? Welche Formulare, Bücher und andere Schriftstücke sind zu ersetzen? Bekomme ich (berufliche) Nachteile, wenn ich 'klassisch' weiterschreibe, zum Beispiel in Hausarbeiten oder Bewerbungen? Ist das Deutsch der Dichter wirklich veraltet?

Rettet die Sprache! Sprache darf - auch im Alltag - nicht verarmen. Unsere deutsche Sprache ist eben mehr als ein bloßes Werkzeug, ist unser kostbarster Besitz, das höchste Gut, das Gott uns geschenkt hat (Walter JENS). Ein Ringen um die Sprache muß immer enden in einer Lösung, die für alle ernsthaft an der Tradierung und Pflege sprachlicher Werte interessierten Sprachteilhaber akzeptabel ist und der Eigendynamik des Sprachwandels Rechnung trägt. Gedankenlosigkeit, Opportunismus und Apartheid töten eine Sprache.

Aufgeben ist falsch. Kompetenz, gesunder Menschenverstand und kulturelle Verantwortung müssen sich weiterhin gegen Inkompetenz, Starrsinn sowie politische und ökonomische Zwänge behaupten.

Keine Schreib-Diktatur! Was für die Autoren  ein "droit royal", kann den übrigen schreibenden Bürgern nur billig sein. Richter, heißt es, könnten "nicht gezwungen werden, Urteile nach der neuen Rechtschreibung abzufassen" (REUTERS, 31.7.98). Das "verstoße gegen die richterliche Freiheit". Nach den Regeln der Demokratie fordern wir, das Schreib-Volk, verantwortungsbewußte Sprach-Freiheit! Wir sind keine Bürger Zweiter Klasse! Sprache und Schreibung gehören dem Volk und nicht einer diktatorisch handelnden Kultusbürokratie! Wir lassen uns kulturelle und sprachliche Entfaltung nicht vom Staat vorschreiben und aufzwingen! Unsere Kinder sind uns zu schade dazu, durch staatliche Gewalt zu einem vernunftwidrigen Dummdeutsch erzogen zu werden! Wer lesen kann und nicht zu den bereits 4 Millionen Analphabeten in Deutschland gehört, schaue ins Grundgesetz! Wo Religionsfreiheit gilt, muß auch Sprachfreiheit herrschen! Und das bedeutet auch die Freiheit, bestmögliches Deutsch in Wort und Schrift zu lehren.

Qualifizierter Widerstand tut not. Alle für sprachlich-philologische Lehre und Forschung Verantwortlichen sind nun aufgerufen, in vernünftiger, gewaltfreier, wissenschaftlich unwiderlegbarer Weise auf die Schwächen der "Reform" hinzuweisen und allen zu Unterrichtenden sinnvolle Alternativen aufzuzeigen. Der - bisher immer noch eigengesetzlich ablaufende - Sprachwandel wird, so ist zu hoffen, die bereits in vielen jungen Köpfen festgesetzten Inkonsequenzen und Fehlschüsse der RS-Reform korrigieren: für die Sprachgeschichte ist jene möglicherweise doch nur ein Stolperstein auf dem Wege zur Vollkommenheit.

Jeder Mensch hat ein Recht auf Heimat.
Rechtschreibung ist ein Teil der geistigen Heimat.
Bekenntnis zur Rechtschreibung bedeutet nationale Identität
.

Jüngste Entwicklungen in Sachen doppelte Staatsbürgerschaft lassen (leider) den Verdacht aufkommen, daß die von kulturellen Traditionen mindestens partiell abrückende "Reform"-Schreibung Teil einer "Agenda" ist, mit der eine neue deutsche Nation "Modell 2000" auch sprachlich von eigener (Kultur-)Geschichte und Tradition abgekoppelt und zu einer Zweckgemeinschaft umstrukturiert werden soll, in der allein  die nackte Existenzsicherung und das "wo es mir gut geht, da ist mein Vaterland" die Hauptrolle spielen: da wird es egal sein, in welcher Schreibung Bezugsscheine, Sozial- und sonstige Hilfen beantragt und Minderheitenrechte eingeklagt werden.
---------------
"Ihr mutiger Schritt hilft hoffentlich zu verhindern, daß der Reichtum der deutschen Sprache auf ein für die Kommunikation gerade noch ausreichendes Mindestmaß reduziert wird. Es sollte daran erinnert werden, daß hinter dem erklärten Ziel der Reform, eine "benutzerfreundliche" Vereinfachung herbeizuführen, "Multi-Kulti"-Überlegungen durchschimmern", schreibt Brigitte Dufner (Konstanz) am 2.8.2000 an die FAZ.

Die Medien bleiben in der Verantwortung. "Die großen Kultursprachen", sagt Medien-Preisträger Wolf SCHNEIDER am 30. April 1994 vor der Gesellschaft für deutsche Sprache, "sind die großartigsten und bei weitem am mühsamsten errichteten Kunstwerke der Menschheit, erbaut und verfeinert in Hunderten von Generationen. Eines dieser Kunstwerke haben wir [...] vorgefunden ohne alles Verdienst. Also haben wir guten Grund, dieses grandiose Monument der Welterfahrung, der Gewitztheit und der Phantasie nicht den Schreihälsen und den Wortverdrehern auszuliefern, sondern uns redlich zu plagen, daß wir es vielleicht mit ein paar Verdiensten weitergeben können an die nächste Generation - damit sie mindestens dieselbe Chance hat wie wir, ihre Wünsche zu artikulieren, ihre Nöte hinauszuschreien und ihren Geist das Fliegen zu lehren." - Alle, die verantwortlich mit Sprachgebrauch und Sprachreform zu tun haben, sollten sich dies zu Herzen nehmen.

Ohnmacht, Besinnung, Ausgleich? Der Fall ist gelaufen. Der einzig erfolgreiche Volksentscheid wurde mißachtet. Die tägliche Praxis zeigt, wie in den zunehmend schlampiger formulierenden Medien unsere Sprache "erfolgreich" zerstört wird; wie sich die Verhältnisse geändert haben, ist mir selbst in diesen Tagen bewußt geworden, während ich meine zwischen 1978 und 1981 selbsterstellten DaF-Übungstexte ins Netz schrieb: heute, in der Zeit der body lotions, des have a break, des come in and find out, der fehlkonstruierten Appositionen und Partizipialkonstruktionen, der falschen Kasusrektionen (sie bestehen auf die Lösung ...) usw.; ja, es könnte einem schlecht werden ob dieser sprach"kulturellen" Leistungen und der sprachverachtenden Gleichgültigkeit, die selbst von hochgestellten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, den VIPs, ebenso dreist wie schamlos an den Tag gelegt wird.

Viele sind müde. Sie haben genug gekämpft. Andere reiben sich auf in - bisweilen kleinlich wirkenden - Wortgefechten und Überempfindlichkeiten, kämpfen einen sinnlos erscheinenden Kampf gegen die Windmühlen obrigkeitlicher Willkür und Mißachtung kultureller Ideale und Bestrebungen - in einem Land, das sich doch, wie man erstaunt vernimmt, wieder auf seine Werte besinnen soll. Als in Schleswig-Holstein der Volkswille mit Füßen getreten wurde, besann man sich: auf die Aktienwerte der Verlage, die ihre Neuschrieb-Wörter- und Schulbücher absetzen wollten.

Wir haben noch etwas Zeit: bis 2005. Geben die "betonköpfigen" Kultusminister nicht nach, dann sollen die von Augst & Co. initiierten "ortho"graphischen Segnungen endgültig Gesetz werden, dann bleibt - auch im öffentlichen Leben, d.h. auch der universitären Lehre - keine Alternative mehr, dann ist die Unkultur sanktioniert - oder nicht? Das liegt ganz an uns, an denen, die etwas genauer hinschauen, Sprache bewußt verwenden und vermitteln, weiter als Kunstwerk ansehen und schützen.

Überraschend für viele - auch für mich - beschließt Ende Juli die FAZ, vom 1. August 2000 an wieder in alter Schreibung zu publizieren. Dieser Schritt möge uns allen eine Ermutigung sein, weiter zu kämpfen gegen eine Verballhornung unserer Sprache (als eines in über 1.200 Jahren gewachsenen Kunstwerks) und uns nicht einschüchtern zu lassen von all jenen, die jetzt enttäuschtes Wutgeheul anstimmen und, zeitgleich mit der Kampagne gegen rechte Gewalt - die FAZ in eine ultra-konservative Schublade zu stecken versuchen.

Gleichzeitig ist dies aber auch ein Appell gegen alle Bestrebungen, im Kampf gegen die Rechtschreibreform ein irgendwie geartetes nationalistisches oder gar braunes Süppchen zu kochen. Ich lehne deshalb Motti wie etwa "deutsch sein und deutsch schreiben" entschieden ab - das wäre ein Faustschlag für alle Ausländer, die unsere Kultur erwerben und unsere schwere Sprache erlernen wollen. Daß sie sie nach wie vor größtenteils nach der "klassischen" Schreibung lernen und dabei gut zurechtkommen, gibt Anlaß zur Hoffnung.

Marburg, Lahn / W. Näser, 23. Oktober 2006 (zuletzt: 7. November 2001)


=> Teil 2: Mein Fax vom März 1995
=> Teil 3: Ergänzungen zur Entwicklung ab 1996
=> Teil 4: Bibliographische Hinweise und Links

Konzeption: (c) Wolfgang Näser 05/99 ff.
Stand: 12.8.2004