Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002
Zuckmayer, Carl (1896-1977), aus: Über die musische Bestimmung
des Menschen (1970)
in: Ein voller Erdentag. Betrachtungen, S. 118-120
VORBEMERKUNG: Z. wird am 27.12.1896 als Sohn eines Flaschenkapselfabrikanten in Nackenheim/Rheinhessen geboren. Nach der Mainzer Gymnasialzeit Freiwilliger (zuletzt Leutnant) im 1. Weltkrieg. 1918/19 Studium der Naturwissenschaften in Frankfurt/Main und Heidelberg. 1920 Volontär und Regieassistent in Berlin; (mißglückte) Uraufführung seines ersten Dramas "Kreuzweg". Freier Schriftsteller. 1924-1925 mit Bertolt Brecht Engagement am "Deutschen Theater" in Berlin. 1925 erster Erfolg mit der Komödie "Der fröhliche Weinberg", eines derben Sittenspiegels seiner rheinhessischen Heimat. Das mit dem Kleist-Preis ausgezeichnete Stück wird größter deutscher Theatererfolg in den 20er Jahren. 1926-1938 in Henndorf bei Salzburg. 1928 Georg Büchner-Preis. Veröffentlichung des Räuberstückes "Schinderhannes" und der Zirkuskomödie "Katharina Knie". Drehbuch für den "Blauen Engel", in dem Marlene Dietrich die Kabarettsängerin Lola spielt. 1930 "Der Hauptmann von Köpenick", wo - mit historischen und sozialsatirischen Zügen - preußischer Bürokratismus, "Kadavergehorsam" und Militarismus karikiert wird. 1933 Aufführungsverbot für seine Stücke im NS-Deutschland. 1939 ird sein Haus von der Gestapo beschlagnahmt, Z. emigriert über die Schweiz und Kuba in die USA, USA, wo er als Drehbuchautor in Hollywood tätig war. 1946 Amerikanischer Staatsbürger; (bis 1947) Angestellter des US-Kriegsministeriums zur Untersuchung des kulturellen Lebens in Deutschland und Österreich. 1946 "Des Teufels General" in Zürich uraufgeführt. Die Hauptperson General Harras (im Film: Curd Jürgens) lehnt sich an die Biographie des Ex-Weltkrieg-1-Piloten, -Kunstfliegers und -Flugzeugfabrikanten Ernst Udet an, der als Generalluftzeugmeister 1941 Selbstmord begeht 1) und mit einem Staatsbegräbnis geehrt wird. 1950 "Der Gesang im Feuerofen", 1952 "Herr über Leben und Tod" , 1955 "Das kalte Licht", 1958 "Der trunkene Herkules" 1959 "Die Fastnachtsbeichte". 1955 erhält Z. das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und wird 1957 Ehrendoktor der Universität Bonn. 1958 Übersiedlung in die Schweiz, 1960 Auszeichnung mit dem "Großen Österreichischen Staatspreis" für sein Gesamtwerk. 1966 Lebenserinnerungen "Als wär's ein Stück von mir". Am 18.1.1977 stirbt Z. mit 80-jährig in Visp (Kanton Wallis, Schweiz).
Unser Textauszug entstammt einer zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 1970 gehaltenen Ansprache. Der 74jährige Dichter [Bild links] reflektiert über etwas, das uns Menschen nur selten bewußt ist: daß und wie wir mit unseren Stimmbändern wahre Wunder erzeugen können - ein kostbares Geschenk der Geschöpflichkeit am Ende einer langen Evolution. Gerade in unserer heutigen, immer nüchterner, technokratischer, unmenschlicher werdenden Zeit, da Plan, Erfolg, Profit zu alleinigen Gradmessern werden, sind diese Worte es wert, gelesen und diskutiert zu werden. W.N.
So wie wir für den Verstand, für das rationale Denken und Handeln, einen physiologischen Ort seiner Ansiedlung und seiner funktionellen Dynamik erkannt haben, nämlich das Gehirn und das Zentralnervensystem, erweist sich gleichfalls ein physiologisches, anatomisch nachweisbares Organ, als Instrument und Symbol unserer leiblich-seelischen Existenz und ihres ursprünglichen Ausdrucks. Es ist kein zweckbestimmtes, kein funktionelles, kein arterhaltendes Organ, es ist rein um seiner selbst willen in uns angelegt und mit uns entwickelt, - seit Jahrhunderttausenden, seit der Geburt des Menschengeschlechtes überhaupt.
"Die menschliche Kehle", so erfahren wir durch das Nachlaßwerk eines großen Meisters der Singkunst, Frederick Husler, - "birgt in sich ein Toninstrument, das nur vorhanden ist, um Schönes hervorzubringen. Es ist ein kleines Feld, nicht viel mehr als eines Fingers Breite, in einem körperlichen Innern. Vor allem die Fähigkeit der Stimmbänder, sich in gleichgeteilte (aliquote) Segmente ordnen zu können, macht sie zu einem vollkommenen Musikinstrument." Dies mag anatomisch und physiologisch keine neue Entdeckung sein, doch anthropologisch und im Hinblick auf menschliches Verhalten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erschließt sich damit eine Erkenntnis von tief erregender Bedeutung.
Der Mensch, jeder Mensch, ist also durch dieses sehr kleine, auf sehr komplizierte Art in seinem Gesamtorganismus eingespannte Toninstrument zu seiner einfachsten, primitivsten, und schließlich reinsten und schönsten Äußerung begabt: zum Singen, und dieses wiederum hat auch biologisch und genetisch keinen anderen Sinn und Zweck, als den der Hervorbringung des Schönen in seiner ursprünglichen Gestalt. Das ursprüngliche Singen wird nicht, wie das Sprechen, von jedem einzelnen neu gelernt, es ist einfach da, es wird mit uns geboren. Das Kind kann singen, wenn auch ohne Harmonik, bevor es sprechen kann. Es singt "vor sich hin", seiner selbst noch unbewußt. Gesang, nicht nur Laut, Ruf oder Schrei, war vor der Sprache vorhanden, mit welcher der Mensch von den Dingen, durch Namengebung, Besitz ergreift und seiner eigenen Identität, des Du und des Ich, gewahr wird.
Sprache, ihre Erwerbung und Entwicklung, hat in hohem Maße mit Auge und Hand zu tun, das heißt, im wörtlichen Sinn, mit dem Anschauen und Begreifen der Gegenstände. Sprache dient immer der Mitteilung und Verständigung, womit sie zu ihrem vornehmsten Gebrauch, dem Zwiegespräch, zu reifen vermag. Aber auch der Monolog, das Selbstgespräch, setzt einen imaginären Partner voraus, und das Gebet, die Anrufung, einen unsichtbaren, unbekannten - eine angenommene oder erahnte höhere Instanz. Hier aber findet die Sprache wieder zu ihrem Vorstadium zurück, in dem sie sich psalmodierend 2), wie fast in allen frühen und in allen dauerhaften Liturgien, über den Zweck der Verständigung erhebt und sich dem Urgesang neu vermählt.
Mit dem Singen, auch dem der "stummen Natur", verbinden wir die Vorstellung von etwas Schönem. Der Wind kann singen, wenn er durch die Wipfel der Bäume oder die gespannten Saiten einer Äolsharfe 3) streicht. Wüstenreisende haben den Sand singen gehört. Quellwasser, wenn es hervorsprudelt und über Steine läuft, erzeugt ein klingendes Murmeln, das wir als märchenhaft empfinden. Die singende Grotte wird im frühen Glauben von Nymphen bewohnt. Der Regen singt im Gras, das verebbende Meer singt an den Klippen, sogar die Stille singt in unseren Ohren. Dies alles wird durch die wechselseitige Berührung mit anderen Gegenständen und durch die Schwingungen der Luft hervorgebracht. Der Mensch aber singt aus sich selbst, aus seinem eigenen Leibe, wozu ihm außer jenem kleinen Instrument in den Stimmbändern das Zwerchfell und die Atmungsorgane Resonanz und Schwingung verleihen. Er singt aus seiner eigenen Bewegung und Bewegtheit, um seinem Empfinden Ausdruck zu geben: dem Jubel, der Klage, dem Mut, der Furcht, der Anbetung und der Feier.
Singen und Sagen wurden von altersher in dieser Reihenfolge
genannt. Das Wort war im Anfang von allem Erkennen.
Gesang war im Anfang von allem Sein. Das Singen ist ein
kreatürliches Verhalten, das uns auch in der Tierwelt begegnet.
Wir hören die Vögel singen, und es scheint mir gewiß, daß
ihr Gesang, über seine vitale Bedeutung als Lockruf, Liebesruf,
Revierbehauptung hinaus, in seinen Wiederholungen und Variationen einer
Spielfreude Ausdruck gibt, - so in den "Nachahmungsliedern" der
Spottdrossel
und anderer Vogelarten. Wir wissen heute, daß meerbewohnende
Säugetiere, wie bestimmte Arten der
Delphine
und Wale, vielleicht
auch
einige
Fischarten singen, - daß heißt Laute hervorbringen, welche
nicht nur der Mitteilung und Verständigung dienen. Wir finden die uralten
Fischermärchen vom "singenden Frosch" durch die Forschung bestätigt.
Das will sagen, daß im Tier, unserem geschöpflichen Bruder, etwas
angelegt sein mag, was im Menschen zur Erfüllung drängt, - einer
Erfüllung, wie sie durch den reinen Logos
4), den konstruktiven Verstand allein nicht
erreicht wird.
Anmerkungen:
1) Trotz diverser Recherchen und "Enthüllungen" sind die genauen Umstände seines Todes noch immer ungeklärt.
2) Psalmodieren "ist eine Art langsamen, klangvollen Sprechens, wobei immer mehrere Silben hintereinander auf dem gleichen Ton folgen. Psalmodieren hat Anteile vom Singen, ist aber kein Singen. Sie werden eine starke Resonanz in Ihrem Kopf spüren, ohne dass Sie auch nur eine Silbe mit psalmodieren." (http://www.iltrillo.org/articolo12de.html).
3) Es handelt sich dabei um einen länglich-schmalen Resonanzkasten, über den eine beliebig große Anzahl gleichgestimmter, aber unterschiedlich dicker Darmsaiten gespannt ist. Streift ein Luftzug die Saiten, so fangen sie an zu tönen. ... Der Klang ist von zauberischer Wirkung, da, je nach Windstärke, die Akkorde von zartestem Pianissimo zum rauschendsten Forte anschwellen und´wieder verhallen." (http://www.swr.de/swr2/sendungen/musikstunde/archiv/2003/11/29/)
4) . . . . . . . . |
Am Anfang war das Wort, und das Wort
war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott.
Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht,
was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.
Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht
begriffen. Evangelium nach Johannes, Kapitel 1, Verse 1 - 5 . . . |
Logos (griechisch logos: Wort, Vernunft, Begriff). "In der antiken sowie später besonders in der mittelalterlichen Philosophie und Theologie bezeichnet der Logos die göttliche Vernunft, die dem Universum als Ordnungsprinzip zugrunde liegt. [...] Frühchristliche Theologen entwarfen [...] ein explizit an der Begrifflichkeit Platons und der Neuplatoniker ausgerichtetes Konzept, in dem der Logos dem göttlichen Willen oder den in Gottes Imagination vorhandenen Ideen (den platonischen Formen) entspricht. Die Fleischwerdung Christi wird demzufolge als Inkarnation dieser göttlichen Attribute verstanden." (aus: Enzyklopädie Encarta, Microsoft 2003). |
Wird ergänzt * HTML / Layout W. Näser, MR, 5.3.2002 * Stand: 16.1.2k5