Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002
Mann, Thomas (1875-1955): Späte Texte (1941, 1948) => Vorwort zu Text 1
1. Ansprache zu Heinrich Manns siebzigstem Geburtstag
(1941)
[Auszug]:
Freiheit, Wahrheit, Recht, Menschlichkeit der Geist wagt es, wagt es wieder, diese Worte auszusprechen, er schämt sich nicht länger, wie er glaubte, es tun zu müssen, solange sie selbstverständlich schienen. Da sie in äußerster Gefahr sind, wird ihm bewußt, daß sie sein tägliches Brot, seine Lebensluft, sein Leben selbst sind, und er begreift, daß er für sie kämpfen muß und selbst untergehen. Du, lieber Heinrich, hast diese neue Situation des Geistes früher geschaut und erfaßt, als wohl wir alle; du hast das Wort »Demokratie« gesprochen, als wir alle noch wenig damit anzufangen wußten, und die Totalität des Menschlichen, die das Politische einschließt, in Werken verkündet, die vornehmste Kunst und Prophetie sind in einem. Empfinden wir nicht Bücher wie den Untertan, den Professor Unrat, die Kleine Stadt heute als vollendete Prophetie?
Wenn Genie Vorwegnahme ist, Vorgesicht, die leidenschaftliche Gestaltung kommender Dinge, dann trägt dein Werk den Stempel des Genialen, und über seine Schönheitswagnisse hinaus ist es ein moralisches Phänomen. Ich sprach von einer Vereinfachung und Verjüngung des Geistes, - deine Kampfschriften gegen das schlechthin Infame, das jetzt seinen blutigen Schaum schlägt, diese Kampfschriften in ihrer Mischung aus literarischem Glanz und einer - ich möchte fast sagen: märchenhaften Simplizität, einer menschheitlichen Volkstümlichkeit, sind das großartigste Beispiel dafür. Die Schul-Lesebücher der Zukunft, glaube ich, werden sie einer Jugend bieten, die das Leiden, den sublimen Haß nicht mehr nachempfinden kann, aus dem sie kamen, und der doch das Herz dabei höher schlagen wird. Diese Zukunft, diese Jugend werden kommen, wir wollen uns dessen versichert halten.
Unsere Deutschen glauben zu sehr an den kruden Erfolg, an die Gewalt, an den Krieg. Sie glauben, es gelte nur eiserne Tatsachen zu schaffen, vor denen die Menschheit sich schon beugen werde. Sie wird sich nicht davor beugen, weil sie es nicht kann. Man mag über die Menschheit noch so bitter-zweifelhaft denken - es ist, unter aller Erbärmlichkeit, ein göttlicher Funke in ihr, der Funke des Geistes und des Guten. Den endgültigen Triumph des Bösen, der Lüge und der Gewalt, kann sie nicht hinnehmen - sie kann damit einfach nicht leben.
Die Welt, die das Ergebnis vom Siege des Hitler wäre, wäre ja nicht nur eine Welt universeller Sklaverei, sondern auch eine Welt des absoluten Zynismus, eine Welt, die jedem Glauben an das Gute, das Höhere im Menschen Hohn spräche, eine durchaus dem Bösen gehörige, dem Bösen untertänige Welt. Das gibt es nicht, das wird nicht geduldet. Die Revolte des Menschentums gegen eine Hitler-Welt vollkommener Negierung dessen, was im Menschen zu Geiste strebt - diese Revolte ist die gewisseste der Gewißheiten; sie wird eine elementare Revolte sein, vor der »eiserne Tatsachen« zerbröckeln werden wie Zunder.
Vor einem Menschenalter, lieber Bruder, gabst du uns den Mythos vom Professor Unrat. Hitler ist kein Professor - weit davon. Aber Unrat ist er, nichts als Unrat, und wird bald ein Kehricht der Geschichte sein. Wenn du, wie ich vertraue, die organische Geduld hast, auszuharren, so werden deine alten Augen sehen, was du in kühner Jugend beschriebst: das Ende eines Tyrannen.
Kehricht: der, auch: das; -s (geh.) mit dem Besen zusammengefegter
Schmutz, Unrat
krud: roh, ungekocht;
Mythos, (auch:) Mythus, der; , ...then (bildungsspr.):
Überlieferung, überlieferte Dichtung, Sage, Erzählung
Negierung, die; , -en: das Negieren.
Prophetie, die; , -n (geh.): Voraussage eines zukünftigen
Geschehens durch einen Propheten ; die --- erfüllte sich
sublim: verständlich; nur einem sehr feinen Verständnis,
Empfinden zugänglich
Zynismus, der; , ...men: zynische Art, Haltung: jmds. Z.
unerträglich finden
2. Ein Brief (in: Texte und Zeichen 1956, 639 f.)
1550 San Remo Drive, Pacific Palisades, California, 9. Februar
1948
Lieber Herr S.,
ich bin Ihnen herzlich dankbar für Ihren Brief und Ihren Aufsatz,
die Professor J. mir zustellte, und die zusammen das Beste und Erfreulichste
sind, was mir - ich weiß nicht, seit wann, aus Deutschland gekommen.
Ihre gute, kluge und rein bemühte Gedankenarbeit ist so überaus
sympathisch, und wenn Sie sich und die es mit Ihnen halten, mit Ihnen sich
bemühen, auch "ein verlorenes Häuflein" nennen (mit Recht, wie
ich weiß), so kann eine Stimme wie die Ihre doch gar nicht umhin, einen
mit Hoffnung zu erfüllen und einem gerade den Glauben zu geben, den
Sie verlangen, nämlich daß dem deutschen Geist eine tätige
Rolle zufallen wird beim Aufbau der Welt, auf die wir hoffen.
Sehr vieles ist meinem eigenen Denken und Fühlen verwandt und vertraut in Ihren Erörterungen, besonders alles, was darin gegen den Dünkel, die Bigotterie endgültigen Wahrheitsbesitzertums gesagt ist und für die "Bewahrung der Tendenz zum Fortschritt", für eine Religiosität also, die im Gehorsam besteht und in ständiger Achtsamkeit auf Veränderungen im Bilde der Wahrheit.
In den noch schlecht verstandenen Joseph-Romanen heißt das "Gottesklugheit" - die Klugheit des Menschen nämlich, seinen Willen mit demjenigen Gottes zu vereinen und nicht in Zuständen verharren zu wollen, "über die Er mit uns hinauswill." Diese Renitenz ist das, was ich Gottesdummheit nenne, eine Verfassung, die notwendig zu Katastrophen führt, und worin die Katastrophe denn auch schließlich als Ausweg gewollt wird. In ihr lebt seit langem, was wir die "westliche Welt" nennen wollen, obgleich die Einsicht in das vom Weltgeist Geforderte nachgerade ziemlich weit nach Westen, bis an den Atlantik reicht. Die Demokratie will nicht wissen, daß sie nur in der Gestalt des Sozialismus überhaupt noch moralische Existenz hat. Eher, daß sie es zugibt, wirft sie sich dem Faschismus in die Arme, der das eigentliche Hinter die Schule Laufen, gedopte Pflichtvergessenheit ist, und zündet die Welt an. Es ist sehr höflich von Ihnen, daß Sie in der Parole vom "Jahrhundert des kleinen Mannes", der nur ein "verlorenes Häuflein" folgt, das Bekenntnis der westlichen Welt sehen. Die andere vom "American Century", viel Gottesdummheit beinhaltend, ist ungleich populärer, und wenn es "uns" nicht gelingt, der Welt den Sozialismus abzukaufen, so bleibt eben nur die A.-Bombe. Wieviel fehlt, daß wir hier leben - ungefähr wie um 1930 in Deutschland? -
Andererseits fühle ich mit Ihnen all Ihre Sorge um die Sicherung der Persönlichkeit vor der Übermacht des "sozialen Organisationsapparats" und pflichte jeder Ihrer Warnungen bei vor der Gesamtpolitisierung des Menschen und vor dem daraus resultierenden Macchiavellismus. Realismus und Achtsamkeit auf das Fluktuieren des Lebens in der "Dialektik der Ereignisse" sind gute Dinge, aber sie bergen auch wieder den Keim des Zynismus und einer komisch-jesuitischen Wendigkeit im Herumwerfen von Gesinnung, Taktik, Rhetorik. Das menschliche Gewissen sollte nicht ins Polit-Bureau verlegt werden, nicht wahr? Nichts rührender und gewinnender, als Ihre Forderung der Vereinigung von Politik und Moral im Humanismus. Und auch die von Ihnen zitierte Bestimmung des Optimismus nehme ich willig an, obgleich ich kein großer Bewunderer der "Werke" bin, im explodierenden Weltall eher einen Teufelsjux als einen Anlaß zum Hosianna sehe und mich einer gewissen Mystiker-Neigung zum Nichts und zur Erlösung bezichtigen muß. Aber ich lebe und bin im Grunde durchdrungen von der Einerleiheit von Leben, Optimismus und Ethik. Lassen Sie uns ein wärmeres Wort dafür einsetzen: Sympathie. Aus ihr kommt all mein Tun, das unterhaltende und das ratende.
Ich weiß, warum ich zu jenem gewiß mit Recht viel gerühmten
Albert Schweitzer kein rechtes
Verhältnis finde: er ist mir zu theoretisch, er sagt Optimismus und
Ethik statt Sympathie. Er soll sehr gut die Orgel spielen, doch bringe ich
nie das Gefühl auf, es in ihm mit einem Künstler zu tun zu haben.
Goethe ist mir lieber. Der hatte die Sympathie, die, ohne nach Optimismus
oder Pessimismus zu fragen, direkt aus dem Leben kommt - und dabei steckt
in dem Nihilismus seines Mephisto gewiß mehr Lyrik, als
der Spießer glaubt. In den "Lehrjahren" steht ein prachtvoller Satz,
der auch die ganze Situation von heute wieder deckt: "Das Menschenpack
fürchtet sich vor nichts mehr als vor dem Verstande; vor der
Dummheit sollte sie sich fürchten, wenn sie begriffen, was
fürchterlicher ist: aber jener ist unbequem, und man muß ihn beiseite
setzen; diese ist nur verderblich, und das kann man abwarten." Glänzend!
Erschöpfend! Sein angeblich "letztes Wort", daß mehr Licht
hereinkommen sollte oder so, war gewiß gar kein "Wort", und man hat
Schwindel damit getrieben. Aber was er wirklich zuletzt gesagt und gemeint
hat, ist gesichert: "Es gilt im Grunde doch nur - vorwärts." Damit wollen
wir es halten, und wenn auch Deutschland es damit hält, so wird es
leben.
Ihr ergebener Thomas Mann.
Aufgaben zu Text 2:
Wird ergänzt * HTML + Layout: (c) Dr. W. Näser, MR, 25.4.2002 *
Stand: 28.12.2005
Bildnachweis: Katia und Thomas Mann 1941 in Pacific Palisades; Screenshot
(Ausschnitt) aus: "Die Manns", Teil 3, Phoenix, 26.12.2k5, 20:18